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wugatsga schrieb am 15.5. 2003 um 23:52:00 Uhr über

Agnoli


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16.05.2003



Michael Jäger

Er lacht









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JOHANNES AGNOLI»Die Transformation der
Demokratie« beschreibt unsere politische Misere

Es wird wohl wahr sein, was man in den Nachrufen las: Johannes
Agnoli hat nach 1968 nichts umstürzend Neues mehr gedacht. Ihm
hat die Neugierde gefehlt, tadelte die Berliner Zeitung. Ich habe
ihn so bei einer Podiumsdiskussion in den 90er Jahren erlebt.
Das war ein Podium der PDS, und Agnoli meinte, es sei ein
Fehler, wenn Sozialisten sich als Parlamentspartei organisierten.
Man habe es ja mit den Grünen erlebt: Kaum im hessischen
Landtag angelangt, seien sie schon der SPD auf den Leim
gegangen. Er hatte, wie immer, die Lacher auf seiner Seite.

Aber Johannes Agnoli verdient mehr, als dass man ihn an seiner
psychischen Biografie misst. Er hat ein Buch geschrieben, Die
Transformation der Demokratie, 1968, das in den
ausführlicheren Geschichtsbüchern immer seinen Platz haben
wird. Dass man von einem solchen Buch nicht mehr los kommt,
wenn man es einmal geschrieben hat, ist kein Wunder. Im
Übrigen ist es sogar fraglich, ob das wirklich nur eine psychische
Dynamik ist oder nicht selbst eine geschichtliche. Denn das ist
nicht einfach ein gutes Buch - ein Buch ist es eigentlich gar nicht,
vielmehr ein längerer Aufsatz von gut 80 Seiten -, das ist ein Text,
an dem sozusagen der Hauch der Geschichte mitwebte. Ja, es
braucht eine revolutionäre Zeit oder doch eine Situation des
Umbruchs, der sich in Revolten entlädt, um solche Texte
hervorzubringen. Nur solche Zeiten scheinen neue Gedanken, die
auch sogleich öffentlich wahrgenommen werden, zuzulassen - »zu
entlassen« aus dem Gefängnis der Depression, die sich sonst
über eine Gesellschaft legt und alles Ideelle, das sich da regen
will, festschnürt und niedermacht. So viel ist klar, nach 1968 legte
sich der geschichtliche Sturm, der einem Agnoli wie den Rücken
so auch den Kopf zum Weiterdenken gestärkt hätte.

Damit ist auch schon gesagt, dass eine Wiederkehr des Sturms
natürlich nicht einfach zur Wiederkehr der Analyse führen würde,
die sich Agnoli 1968 erschloss und die er, gleichsam ein
anarchischer Settembrini, in brillanter Kürze und Prägnanz zu
formulieren wusste. Die gedanklichen Grenzen haben sich
inzwischen gezeigt. Aber man muss das Richtige unterstreichen.
Seine Frage war, wie es kommt, dass der Parlamentarismus
nicht die ausgebeuteten und subalternen Klassen per Stimmzettel
an die Macht bringt, wie es Marx noch für möglich gehalten hatte.
Zunächst erinnert Agnoli daran, dass schon der Faschismus eine
historische Antwort darstellt, indem er, weil er die
niedergehaltenen Massen zugleich integrierte, es sich leisten
konnte, den Parlamentarismus einfach zu zerstören. Dies war
jedoch keine nachhaltige Lösung gewesen. Es blieb dem Kapital
nichts übrig, als seine Herrschaft nun doch mit dem allgemeinen
Wahlrecht zu versöhnen. Wie das geschah, dachte sich Agnoli
nicht am Schreibtisch aus, sondern untersuchte den Unterschied
solcher Länder wie England und besonders Westdeutschland
einerseits, Frankreich und besonders Italien andererseits.

In Italien war die Demokratie 1968 noch nicht »transformiert«
worden. Das Parlament war noch ein wirkliches Parlament, es
kontrollierte und stürzte die Regierungen. Die kommunistische
Partei war weder verboten noch durch ein Mehrheitswahlrecht
marginalisiert, wie es auch keine Fünfprozenthürde für andere
Parteien gab. Überhaupt spielte die faschistische Vergangenheit
in Italien, verglichen mit Westdeutschland, »kurioserweise die
entgegengesetzte Rolle: da die starke Stellung des
Premierministers und des Kabinetts von Mussolini ausgenutzt
wurde« - wie auch von Hitler! -, »schwächte man in der neuen
Verfassung die Stellung des Vorsitzenden des Ministerrats
entsprechend ein«, während man sie hierzulande bekanntlich
noch stärkte. Westdeutschland ist für Agnoli der zukunftweisende
Fall einer »transformierten«, das heißt entleerten Demokratie. Als
Hauptkriterium unter vielen präzisen Hinweisen und
Einzelanalysen hebt sich die Diagnose der Verstaatlichung der im
Parlament vertretenen Parteien heraus. Die Führungen der
Parlamentsfraktionen bewegen sich eigentlich schon auf der
Regierungsebene. Da sie sich untereinander näher stehen als
den jeweiligen »Hinterbänklern«, gilt das tatsächlich auch für die
Oppositionsparteien.

So stellt sich das Parlament, wie Agnoli sagt, als »die plurale
Fassung einer Einheitspartei« dar. Diese Partei hat aus der
Geschichte gelernt, dass sie sich zur Wahl stellen muss, dass es
also wirklich des Kampfs ihrer Flügel gegeneinander, der
Regierung und der Opposition, bedarf. Aber sie weiß die Wahl
auf die reine Personalfrage, wer zur Durchführung derselben
Politik den besser durchgreifenden Chef stellt, zu reduzieren.
»Transformation der Demokratie«, das ist ein Parlamentarismus,
in dem nicht mehr das Parlament die Regierung, sondern die
Regierung das Parlament kontrolliert.

Agnolis Grenzen sind nur die Kehrseite seiner Avanciertheit. Er
hat nämlich nicht bloß Marx nachgebetet, sondern nach Marx´
Vorbild die bürgerlichen Theoretiker, das heißt in seinem Fall die
Politologen und politischen Soziologen eingehend studiert. Dabei
konnte es nicht ausbleiben, dass im erfolgreichen Versuch, deren
Analysen umzuschmelzen, manches Perspektivische dann doch
hängen blieb. Die Perspektive, die Agnoli mit der bürgerlichen
Literatur teilt, ist das Denken in Oben-Unten-Kategorien. Der
Staat ist oben, die Massen unten. Dieses Denken legt in der
Staatsanalyse den Funktionalismus nahe, das heißt die
Mechanismen des Staates werden unter der Frage analysiert,
»wozu« sie in der kapitalbeherrschten Gesellschaft dienen. Sie
dienen natürlich der Niederhaltung der Massen. Die Idee, dass
dieser Staat der Staat der Massen selber sein könnte, wird von
Agnoli vehement zurückgewiesen. Der Funktionalismus der
Analyse legt wiederum die Annahme der »Manipulation« der
Massen durch die Staatsakteure nahe. Unschuldige Massen!

An dieser Stelle sieht man deutlich, wie, als der Sturm nicht mehr
blies, das Denken nicht nur Agnolis entschlief. Vom allzu kruden
Manipulationsgedanken konnte sich die westdeutsche
marxistische Intelligenz zwar rasch distanzieren. Aber da sie
seine Grundlage, den Funktionalismus, weiter in Ehren hielt, war
praktisch nichts gewonnen. Der Staat sah nach wie vor so aus,
wie ihn ungefähr schon die Bürger analysiert hatten, nur dass man
ihn theoretisch und praktisch ablehnte. Sich an ihm zu beteiligen,
diese »institutionelle Methode«, wie man grotesk formulierte - als
könnte es eine andere Politik geben, eine Politik an den
Institutionen vorbei -, wurde schon für gleichbedeutend mit der
Niederlage gehalten.

Nur eine Minderheit entsann sich der ganz anderen Staatsanalyse
Antonio Gramscis, der sich die Frage, wie sich Kapitalherrschaft
und Parlamentarismus vertrugen, lange vor Agnoli gestellt hatte -
während eines Sturms, der ihn zuletzt in Mussolinis Gefängnis
brachte. Laut Gramsci beschränkt sich das Kapital nicht darauf,
mit den Staatsapparaten zusammenzuarbeiten, sondern es
spaltet die Massen selber, spielt Arbeiter und subalterne
Mittelschichten gegeneinander aus. Es ist bezeichnend, dass
Letztere in Agnolis Analyse überhaupt nicht vorkommen. Manche,
die von Gramsci aus weiterdachten, sahen bald ein, dass der
Integrationserfolg des Staates aus einer Blockade der Massen
selber herrühren muss, eben aus der Tatsache, dass sie in sich
selber gespalten sind. Und sie suchten die Sinndimension dieser
Spaltung zu begreifen. Die Lösung sahen sie nicht in einer
»Gegenmanipulation« des Staates, wie Agnoli sich ausdrückte,
sondern in einem anderen Diskurs, dem die Fähigkeit zur
Auflösung der Spaltungsdiskurse eingeschrieben war. Wäre er,
so glaubten sie, vorhanden gewesen, hätte er sehr wohl auch eine
Parlamentspartei wie die Grünen vor der Gehirnwäsche
bewahren können.

Aber diese Minderheit dachte nur für die Schublade, eben weil
kein Geist wehte und schon gar nicht stürmte von der Geschichte
her. Man sieht es an der PDS. Seinen Auftritt dort hätte Agnoli
sich sparen können. Da mag passieren, was will, es tritt gestern
wie heute ein Gregor Gysi auf und verkündet die Notwendigkeit
des Regierens mit der SPD zusammen, deren »Transformation«
von Agnoli schon 1968 in allen Einzelheiten beschrieben worden
war. Dreht der sich jetzt im Grabe um? Nein, warum sollte er - er
lacht.


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