>Info zum Stichwort Kafka | >diskutieren | >Permalink 
solarschule schrieb am 4.3. 2003 um 04:13:03 Uhr über

Kafka




Kafka in Genf

Wolfgang Kleinwächter 03.03.2003

Beim Weltgipfel zur Informationsgesellschaft geht es auch darum, wie weit
erstmals nichtstaatliche Organisationen integriert werden - ein Experiment
Machtbalance im globalen Dreieck zwischen Regierung, Privatwirtschaft und
Zivilgesellschaft

Der Weltgipfel zur Informationsgesellschaft ist auf die Streckbank zwischen Tradition
und Innovation geraten. Das Interessante dabei ist, dass es nicht die Inhalte sind, bei der
sich die 800 staatlichen und 700 nicht-staatlichen Teilnehmer der 2.
Vorbereitungskonferenz in die Haare gekriegt haben, sondern das Prozedere ( Von
den Visionen zur Realität). Der Casus Belli ist die Frage, wie weit die Regierungen die
Türe zum Gipfel für Zivilgesellschaft und Privatindustrie öffnen (siehe auch Welt ans
Netz bis 2010).




Seit eh und je sind UN-Gipfel - man denke an die Weltkonferenzen zum Klimaschutz in Rio,
zur nachhaltigen Entwicklung in Johannesburg oder zu den Menschenrechten in Wien - ein
Terrain für Diplomaten. Geschulte Regierungsbeamte feilschen mitunter bis weit nach
Mitternacht in kleinen oder großen Verhandlungsgruppen um diplomatische Formulierungen
für Deklarationen und Aktionsprogramme, deren Texte oft ebenso schwer verständlich sind,
wie deren Umsetzung nebulös ist. Die eigentlich Betroffenen und Beteiligten - die
Zivilgesellschaft und die Privatwirtschaft - sitzen in der Regel draußen vor der Türe und
versuchen sich im Lobbyismus oder treffen sich beim »Gegengipfel« auf der Straße.



Beim Weltgipfel zur Informationsgesellschaft - der in zwei Phasen im Dezember 2003 in Genf
und im November 2005 in Tunis stattfindet - soll das alles anders werden. Erstmals, so das
Mandat dieser wohl gigantischsten Konferenz der UN-Geschichte, sollen nicht-staatliche
Gruppen in die Konferenz integriert werden. Der Weg vom Anspruch zur Wirklichkeit ist aber
komplizierter als es sich die Väter der Öffnung der Gipfeldiplomatie vorgestellt haben.

Reinkommen ja, mitreden nein?

Der Punkt ist, dass die verschiedenen Akteure unter »Öffnung« Unterschiedliches verstehen.
Die bislang Ausgeschlossenen gehen davon aus, dass sie, wenn sie denn nun schon rein
können in die Verhandlungsräume, auch mitreden und an einigen Punkten mitentscheiden
können. Die meisten Regierungen verstehen unter Öffnung dagegen "reinkommen ja, aber
mitreden nein".

Wie in einem Brennspiegel zeigte sich dieser Konflikt am letzten Tag der 2.
Vorbreitungskonferenz (PrepCom 2) zum Gipfel vorige Woche in Genf. Die 180 Regierungen
hatten sich nach langem hin und her auf einen ersten Rohentwurf einer Deklaration und eines
Aktionsprogramms geeinigt. In den wesentlichen inhaltlichen Eck-Punkten herrschte
weitgehend Einmütigkeit: Bis zum Jahr 2015 sollen alle Schulen dieser Welt online und in
jedem Dorf mindestens ein öffentlicher Internet Zugang sein. Bildung für jedermann wird als
ein Schlüsselelement auf diesen Weg zur vernetzten Informationsgesellschaft gesehen, um eine
nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen, die schrittweise nicht nur das Elend dieser Welt
mindert, sondern auch dem Einzelnen immer mehr Möglichkeiten einräumt, seine Fähigkeiten
zu entfalten. Man brauche eine neue globale Kultur der Sicherheit im Cyberspace. Die
»digitale Spaltung« (Digital Divide) soll durch »digitale Solidarität« (Digital Solidarity) in
»digitale Möglichkeiten« (Digital Opportunities) gedreht werden.

So weit so gut. Das Neue war nun, dass dieses Dokument nicht nur von den 800
Regierungsvertretern Wort für Wort durchleuchtet und mit Ergänzungsvorschlägen bedacht
wurde, sondern dass sich die Zivilgesellschaft gleichfalls ans Analysieren machte und binnen
24 Stunden einen substantiellen Ergänzungsvorschlag vorlegte, der an eindeutiger
Formulierung, Praxisnähe und Sachkompetenz nichts zu wünschen übrig ließ. Zu fast jedem
der 92 Punkte des Deklarationsentwurfes hatte die Zivilgesellschaft, die sich in Genf wie
selten zuvor diszipliniert und organisiert präsentierte, etwas Eigenständiges zu sagen. Und in
nicht wenigen Fällen wurden die Regierungsformulierungen vom Kopf auf die Füße gestellt.

Nicht Kommunikationstechnologie und Infrastruktur sollten im Mittelpunkt der globalen
Informatonsgesellschaft stehen, sondern die Kommunikationsbedürfnisse der Menschen und
ihre Informationsrechte. Traditionelle Medien, Satelliten, Internet und mobile
Kommunikationsmaschinen seien Instrumente, die einem Zweck dienten und kein Selbstzweck.
Themen, die im Regierungsentwurf gar nicht oder allenfalls am Rande auftauchten wie Open
Source, Peer-to-Peer und Fair Use, wurden ins Rampenlicht geholt. Es dürfe nicht nur um
»Märkte«, sondern es müsse auch um »Werte« gehen. Und die "politisch-rechtlichen
Rahmenbedingungen" müssten eine Balance schaffen zwischen individuellen Rechten und
Freiheiten einerseits und staatlichen Interessen nach Sicherheit im Cyberspace und
wirtschaftlichen Interessen nach Verwertung der Ware Information andererseits.

Rein oder Raus oder Was?

So wenig neu diese Forderungen der Zivilgesellschaft waren, so innovativ war die Art und
Weise, wie sie vorgetragen wurden. Was früher auf Spruchbändern bei
Straßendemonstrationen stand, fand sich jetzt wieder als quasi offizielles Konferenzdokument
in den Postfächern der Diplomaten. Insofern konnte es im Grunde genommen nicht
überraschen, dass unter den Regierungsdelegationen der Streit darüber ausbrach, wie man
denn mit dieser in diplomatischer Form daher kommenden »Einmischung von draußen«
umgehen solle.

Während die südafrikanische Vorsitzende der Regierungsverhandlungsgruppe die
zivilgesellschaftlichen Vorschläge gleichberechtigt mit in die weiteren Verhandlungen
aufnehmen wollte, sperrte sich der pakistanisch Delegierte mit aller Wucht dagegen.
Regierungen sollten sich nur mit dem beschäftigen, was Regierungen vorschlagen.
Schützenhilfe erhielt er von einigen lateinamerikanischen Regierungen, die zwar nichts gegen
die Zivilgesellschaft hatten, aber gegen einen zu starken Einfluss der Privatwirtschaft.

An dieser Frage - Rein oder Raus und wenn Rein wie weit? - schien die Konferenz fast zu
zerbrechen. Zwar ist auch den Regierungen klar, dass ein Weltgipfel zur
Informationsgesellschaft ohne »Gesellschaft« eine absurde Veranstaltung wäre, zugleich aber
sehen nicht wenige hier einen Präzedenzfall reifen, der die traditionelle Art und Weise von
Politikentwicklung und Entscheidungsfindung aus den Angeln heben könnte. Der "Politik von
oben» (Top Down) stellt sich einer «Politik von unten" (bottom up) in den Weg.

Die jetzt anvisierte Quadratur des Kreises beim Informationsgesellschaftsgipfel - die Türen
der Verhandlungssäle zu öffnen aber Mitspracherechte zu verweigern - ist zunächst erst
einmal auf eine Zeitschiene gelegt worden. Bis zum 21. März 2002 soll das UN-Sekretariat
aus den vorliegenden Arbeitsdokumenten und den eingegangenen Kommentaren einen neuen
Entwurf erarbeiten. Der soll dann ins Netz gestellt und zehn Wochen offen für Kommentare
sein. Die nichtstaatlichen Gruppen können sich selbstredend online zu Wort melden. Ob ihre
Vorschläge jedoch in die nachfolgenden Regierungsverhandlungen, die Ende Juli 2003 in
Paris weitergehen sollen, einfließen oder im Papierkorb landen, ist noch unklar.

Klar ist hingegen, dass die Zivilgesellschaft, die sich jetzt mit einem eigenen
Verbindungsbüro und einer auch online tagenden eigenständigen Verhandlungsgruppe zu
»Themen und Inhalten« in bemerkenswerter Weise strukturiert und institutionalisiert hat, zur 3.
Vorbereitungskonferenz im September 2003 in Genf mit konkreten Vorschlägen wieder vor
der Türe stehen wird.

Armtwisten um Machtbalance im Cyberspace

Es wäre zu einfach, dass »Rein und Raus« als absurdes Gipfeltheater zu ironisieren. Beim
Armtwisten um das Prozedere geht es ja nicht darum, wer z.B. den Paragraphen Nummer
Soundso zur kulturellen Vielfalt in der Informationsgesellschaft formulieren darf, sondern
darum, wie Politikformulierungs- und Entscheidungsmacht in der globalisierten Welt des 21.
Jahrhunderts neu aufgeteilt wird. Der Einzug der Zivilgesellschaft und der Privatwirtschaft in
die diplomatischen Verhandlungsräume führt unweigerlich zu einer neuen globalen
Machtverteilung und damit erst einmal zu einem Machtkampf. Und niemand weiß im Moment
wie eine neue Machtbalance im globalen Dreieck zwischen Regierung, Privatwirtschaft und
Zivilgesellschaft aussehen soll.

Insofern ist das kafkaeske Theater im Genfer »Schloss« eigentlich nichts anderes, als ein
großes Erkundungsprojekt über die Art und Weise des Managements der globalen
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.





Wolfgang Kleinwächter ist Professor für internationale Kommunikationspolitik an der
Universität Aarhus.






















Kommentare:
Treppenhausklatsch... (Friedensminister, 4.3.2003 1:51)
Infrastruktur (THX1138, 3.3.2003 19:29)
Nach Berlin fahren wird langsam teuer. (cdonat, 3.3.2003 16:37)
mehr...










Copyright © 1996-2003. All Rights Reserved. Alle Rechte vorbehalten
Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co.KG
last modified: 03.03.2003
Privacy Policy / Datenschutzhinweis






   User-Bewertung: -1
Was hat ganz besonders viel mit »Kafka« zu tun? Beschreibe es und erläutere warum.

Dein Name:
Deine Assoziationen zu »Kafka«:
Hier nichts eingeben, sonst wird der Text nicht gespeichert:
Hier das stehen lassen, sonst wird der Text nicht gespeichert:
 Konfiguration | Web-Blaster | Statistik | »Kafka« | Hilfe | Startseite 
0.0290 (0.0165, 0.0111) sek. –– 822082394