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Brath schrieb am 17.6. 2003 um 01:20:53 Uhr über

Kosovo

Nach Schätzungen der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) von Januar 2000 lebten bei Beginn des
Kosovokrieges rund 150.000 Angehörige der Minderheiten der Roma und Aschkali bzw. Ägypter im
Kosovo (acht Prozent der Gesamtbevölkerung), d.h. ca. 87.000 Aschkali und ca. 63.000 Roma. Sie
waren weitgehend integriert und als Bergleute, Industriearbeiter und Nebenerwerbslandwirte sowie als
Händler tätig. Oft hatten sie sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet, hatten eigene Häuser mit
Hof und Garten.

Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter werden in der kosovo-albanischen Gesellschaft überwiegend als
eine geschlossene Gruppe betrachtet, die man »Gypsies« oder »Maxhupi« nennt. Sie sind mehrheitlich
Muslime. Demgegenüber bemühen sich vor allem die Kosovo-Ägypter um Abgrenzung, insbesondere
von den Roma. Deutlichstes Unterscheidungsmerkmal ist die Sprache. Aschkali und Kosovo-Ägypter
sprechen Albanisch als Muttersprache und Serbisch als Fremdsprache. Romanes, die Muttersprache
der Roma, beherrschen sie nicht. Albanisch und Serbisch sind für die Roma Zweitsprachen, je nach dem,
ob sie in mehrheitlich serbischem oder albanischem Gebiet leben. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie
traditionell nur innerhalb der eigenen Gruppe heiraten. Viele Gruppen aller drei Minderheiten führen
überdies ihre Abstammung in ihrer mündlich überlieferten Geschichte auf einen Schmied zurück. Eine
weitere Gemeinsamkeit ist die Sesshaftigkeit.

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Wissenschaftler, stellt GfbV-Experte Paul Polansky in seinem im Auftrag unserer
Menschenrechtsorganisation erstellten GfbV-Report "The Gypsies of Kosova - A Survey of their
Communities after the War" fest, führen die Herkunft der Aschkali, einschließlich der Kosovo-Ägypter,
wie die der Roma auf indische Einwanderer zurück. Demnach begannen die Roma vermutlich zwischen
dem 8. und dem 12. Jahrhundert, Indien zu verlassen. Gesichert ist, dass die Lohar, eine Romagruppe
von Schmieden, 1308 aus Indien aufbrachen und um 1320 in Osteuropa auftauchten. Der Name der
größten Romagruppe im Kosovo, Kovachi, ist eine serbische Bezeichnung für Schmied. Dies wird als
Hinweis darauf gewertet, dass die Kovachi von dieser Einwanderergruppe abstammen. Mit den Lohar
kamen andere Romagruppen, die sich noch heute im Kosovo finden lassen und historisch durch ihre
beruflichen Beschäftigungen voneinander abgegrenzt waren, so die Rabagi (Transport von Waren), die
Gabeli (Akrobaten und Tänzer) oder die Arlia (Musiker). Nach Auskunft einiger Roma-Sprecher sind
diese Gruppen heute kaum noch voneinander zu unterscheiden.

Die Aschkali und Kosovo-Ägypter vertreten davon abweichende Vorstellungen ihrer Abstammung.
Manche Aschkali meinen, ihre Vorfahren seien während der Osmanischen Herrschaft aus der Türkei
zugewandert. Eine andere These besagt, dass sie im Tross Alexander des Großen von Indien nach
Ägypten und von dort auf den Balkan gelangt seien. Demnach hätten sich ihre Ahnen bereits vor den
Roma im heutigen Kosovo niedergelassen. Von einer so frühen Ankunft ihrer Vorfahren gehen auch die
Kosovo-Ägypter aus. Ihre Wortführer grenzen sich in ihrem ethnischen Selbstverständnis überdies
deutlich von den Roma ab.

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Intellektuelle wie Rubin Zemon gehen außerdem von Ägypten, nicht Indien, als eigentlichem
Ursprungsland ihrer Minderheit aus. In seinem Aufsatz "Ethnologische, historische und archäologische
Angaben über den Ursprung der Ägypter auf der Balkanhalbinsel" (Tirana, 1998) vertritt Zemon die
Auffassung, dass die Kosovo-Ägypter spätestens zur Zeit Alexander des Großen direkt aus Ägypten
eingewandert seien, entweder als abgeworbene Handwerker, insbesondere Schmiede, oder als
»Kriegsbräute« seiner Soldaten. Zemon hält es sogar für möglich, dass Vorfahren der Minderheit der
Kosovo-Ägypter bereits seit der Antike im Gebiet der heutigen Balkanstaaten Fuß gefasst haben,
gesteht allerdings zu, dass seine Thesen in vielerlei Hinsicht wissenschaftlich noch überprüft werden
müssen. Zwar schreibt er, dass sich Kosovo-Ägypter und Roma im 14. Jahrhundert zu vermischen
begonnen hätten. Sie deshalb als eine einzige ethnische Gruppe zu betrachten, sei jedoch ein
historischer und wissenschaftlicher Irrtum.
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Die Gegenthese, derzufolge die Gemeinsamkeiten beispielsweise in den Erwerbstätigkeiten, den
mündlichen Überlieferungen oder auch den Heiratsregeln auf einen gemeinsamen Ursprung schließen
lassen könnten, wobei die Kosovo-Ägypter im Zuge der Jahrhunderte währenden Anpassung die
Sprache als zusätzliches gemeinsames Merkmal verloren hätten, lässt Zemon nicht gelten. Für ihn
kommt seinem Volk das legitime Recht zu, als eigenständige, von den Roma unabhängige Gruppe
anerkannt zu werden, die ihr ethnisches Wiedererwachen erst Ende des 20. Jahrhunderts erlebt habe.

1990, im Jahr nach der Zerschlagung der Autonomie der Kosovo-Albaner, wurden die Kosovo-Ägypter
von Belgrad offiziell als Minderheit akzeptiert. Manchen Beobachtern erschien dies als willkürliche
Spaltung der Aschkali, zu denen die Kosovo-Ägypter zuvor gerechnet wurden, um nach dem "teile und
herrsche" Prinzip nun drei Minderheiten gegeneinander ausspielen und die Gruppe insgesamt besser
kontrollieren zu können. In jedem Fall wurden nun auch die mehrheitlich den Albanern angepassten
Angehörigen der drei Minderheiten einer aggressiven Serbisierung des gesamten öffentlichen Lebens
ausgesetzt. Sie erlitten das gleiche leidvolle Schicksal wie die Kosovo Albaner. Auch sie verloren zum
Beispiel den Zugang zum Bildungssystem, sofern sie sich nicht dem aufgezwungenen serbischen
anpassten, oder verloren ihre Arbeit. Zwischen ethnischen Albanern und in die albanische Gesellschaft
integrierten Minderheitenangehörigen wurde von Seiten des serbischen Regimes nicht unterschieden.
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Dass die Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter dennoch lange Zeit bemüht waren, in dem sich
zuspitzenden Konflikt zwischen Serben und Albanern im Kosovo neutral zu bleiben, wird ihnen heute von
den meisten Kosovo Albanern als Verrat angelastet. Ebenso die Tatsache, dass Milosevic einige
Kollaborateure bei den Verhandlungen von Rambouillet instrumentalisierte. Als der Konflikt zum Krieg
Serbiens gegen den Kosovo eskalierte, wurden Medienberichten zufolge Roma und Aschkali häufig an
der rettenden Grenze zu Mazedonien abgewiesen, wenn sie gemeinsam mit den Albanern fliehen
wollten. Wenn ihnen die Flucht gelang, so beklagten etwa Roma-Nachrichtendienste wie RNN, ein
Internetservice des Roma National Congress, so wurden sie von den Hilfswerken diskriminiert.

Angehörige dieser Minderheiten, die im Kosovo blieben, waren besonders gefährdete Kriegsopfer,
denn viele von ihnen lebten nahe bei potentiellen Angriffszielen wie Industriegebieten oder wichtigen
Verkehrswegen. Dass einige Roma von paramilitärischen Truppen gezwungen wurden, sich an den
Gräueln gegen die Albaner zu beteiligen oder als Totengräber eingesetzt wurden, wurde allen drei
Minderheitengruppen von albanischer Seite pauschal als Kollaboration angelastet. Dabei waren sie
zuvor vielfach ebenso wie die Albaner selbst Opfer serbischer Verbrechen geworden. Das Ende des
Krieges im vergangenen Sommer hatte für Roma, Aschkali und Kosovo- Ägypter die schlimmste
Verfolgung der neueren Geschichte zur Folge. Das von albanischen Nationalisten vertretene und von
der Mehrheit der Bevölkerung geduldete Kollektivurteil, sie alle seien Verräter und Kollaborateure,
hat eine beispiellose Verfolgung ausgelöst, die bis heute anhält.



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