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Schillingsfürst schrieb am 8.2. 2007 um 17:40:07 Uhr über

drogenszene

Gammler Jugendszene der 60er Jahre (oft spätere Hippies); das Wort »gammeln« war zuvor nur mundartlich verbreitet und bedeutete »faul dasitzen, faul umherschlendern«. Ich hörte 1962 - 1964 als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr »sich abseilen« und »gammeln« jeden Tag. Ungefähr 2 Jahre danach las ich in der Zeitschrift »KONKRET« einen Artikel über Gammler in München, Paris und Frankfurt am Main

Im Sommer 1967 stand auf dem Opernplatz in Frankfurt am Main das alte, im Krieg zerstörte Opernhaus noch als Ruine. Die große Fassade mit Säulen vor dem Eingangsportal war stehen geblieben. An ihr mit goldenen Buchstaben: »Dem Wahren Schönen Guten«. In Gedanken versunken überquerte Peter Mustermann den Platz in Richtung Marshallbrunnen und setzte sich am Brunnen auf die steinerne Umrandung. Die Widmung an der Ruine erschien ihm als kraftlos und unfruchtbar weil inhaltsleer. In seinen Gedanken war »das Wahre« nicht schön, »das Schöne« nicht gut, und »das Gute« nicht wahr. Der Brunnen im Park war ein Treffpunkt der Gammler, der Heimausreißer und Strichjungen, der Schüler, Lehrer und Studenten. Die Grenzen zwischen diesen Gruppen waren fließend und wurden von den Gammlern modelliert. Denn ihre Erzählungen von München, Paris, Ibiza oder Marokko füllten die Atmosphäre. Der Geruch des Haschischs war noch selten in der Luft.
Die Arbeits- und Konsumgesellschaft war für Gammler nicht wichtig. Sie gingen nicht in Schulen, hatten keine Lehrstellen, keine Arbeit und oft keine Wohnung. Sie schliefen bei Freunden oder in Parks, auf Baustellen, in Ruinen und in den Hütten der Kleingärtner. Sie trampten von Frankfurt nach Köln, Amsterdam oder Paris, im Spätherbst viele nach Hause zu den Eltern oder, vergleichbar den Vögeln, in den Süden.
Am Brunnen konnten Schüler oder Lehrlinge sich schnell in Gammler verwandeln. Wer an einem Montag noch zur Schule oder Arbeit ging, war vielleicht am Dienstag unterwegs nach Istanbul und hatte am Montag noch gar nicht daran gedacht. Durch Gespräche und Erzählungen kam ihm plötzlich der Gedanke mitzutrampen. Sich treiben lassen oder einem Impuls folgen war typisch für einen Gammler.
- Mädchen und Jungs hatten lange Haare, und für diese »Abart« der Jugend hatten viel Ältere nicht das geringste Verständnis. Ihre Welt war »Aufstieg« und »Vorwärtskommen« durch eifriges Lernen und fleißige Arbeit. Den Rest nannten sie »Freizeit«. Die wurde mit der Arbeit am und im eigenen Haus, dem waschen des Autos, dem füllen der Waschmaschine, dem Fernsehen und der Urlaubsreise nach Italien gefüllt.
Langhaarige Jungs paßten da nicht ins Schema. Denn fast alle anderen hatten die Meinung, lange Haare und sanfte Gefühle seien ein Vorrecht der Frauen und Mädchen. Und Menschen, die Adolf Hitler zugejubelt hatten, reagierten erstaunt, verärgert, aggressiv auf junge Männer, die, Buddha nacheifernd, als langhaarige, bettelnde Prinzen in Lumpen, so selbstverständlich gewordene Bewegungen wie den Gang zur Schule und Lehre verliessen, und sich an gewöhnlichen Wochentagen in grüne Anlagen setzten, die, dafür, nicht geschaffen wurden.
Herr Normalo beobachtete.
Er war ein Journalist, den ich in der Bahnhofsgegend in einem Spielcasino kennenlernte und der sich im Park am Marshallbrunnen aufhielt, weil er für einen oder zwei Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« Stoff über die Gammler sammelte.
»Da gehen«, sagte er zu mir, »Schulmädchen zum Marshallbrunnen und geben diesen langhaarigen Herumstreunern ihr Taschengeld, ihr Vesperbrot und Lebensmittel, die sie aus dem Kühlschrank ihrer Eltern nahmen?«
»So ist es«, bestätigte ich.
»Da geht ein Mädchen einfach zu einem Jungen und sagt he du, ich will dich? ... Das sind Zerfallserscheinungen, in unserer ganzen Kultur, von den Minnesängern bis heute, hat immer der Mann um die Frau geworben
Was er am Marshallbrunnen sah, gefiel ihm nicht. Das war Anarchie, die er nur als Unordnung sah, ja nur als Zersetzung und Auflösung sehen konnte. Ich war scheu, gehemmt, passiv, zurückhaltend. Kein konventioneller Mann. Hatte daher keine Einwände gegen ein flexibleres Rollenspiel. Und erst durch Herrn Normalo und seine Erregung wurde mir bewußt, daß wir auf einer Bank vor einer Bühne saßen, auf der sich Menschen bewegten, die ihre Szene(n) veränderten. Daß Herr Normalo sich über so etwas Belangloses wie den Zerfall einer Kultur erregen konnte, war in meinem Kopf nicht zu verstehen. Kulturen kamen, Kulturen gingen, was war daran neu?


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