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Der hilfreiche Sozialarbeiter schrieb am 12.7. 2003 um 15:54:21 Uhr über

psychiatrie

Patientenübergriffe
in Mitgliedsbetrieben der
Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst
und Wohlfahrtspflege
Dipl.-Ing. Andreas Boldt
Delmenhorst, 11.Oktober 2001
Schon die kontinuierliche intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt auf der Station und in
der Institution verringert die Ausübung der Gewalt: Gewaltanwendung wird deutlicher wahrgenommen.
Deshalb gehört die Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt [...] zum professionellen Umgang und
zur Qualitätssicherung [...].
Dr. Aart Jan Vrijlandt, Ärztlicher Direktor, Psychiatrisch
Spectrum Gelderland Oost, Honorary
Secretary European Regional Council (ERC) of
the World Federation of Mental Health (WFMH),
Maastricht
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung............................................................................................ 1
2 Aggression und Gewalt ........................................................................ 2
2.1 Aggression................................................................ ................................ ............................ 2
2.2 Gewalt ................................ ................................ ................................ ................................ ..3
3 Aggressionstheorien ............................................................................ 3
3.1 Psychodynamische Theorien (Trieb- und instinkttheoretische Ansätze) .................................3
3.2 Lerntheorien ................................................................ ................................ ......................... 3
3.3 Frustrations-Aggressions-Theorie ................................................................ ......................... 4
3.4 Motivationstheorien................................................................ ................................ ............... 4
4 Neurobiologie und Substanzmissbrauch ............................................. 4
5 Erscheinungsformen von Aggression und Gewalt ............................. 5
5.1 Klassifizierung nach Intention................................................................ ................................ 5
5.2 Reaktive und operante Aggression................................................................ ........................ 5
5.3 Verbale und körperliche Ausdrucksformen ................................................................ ............ 5
5.4 Institutionelle und strukturelle Gewalt ................................................................ .................... 6
5.5 Verlauf einer Gewalthandlung ................................................................ ............................... 7
6 Literaturangaben zu Übergriffen ......................................................... 7
6.1 Psychiatrie................................................................ ................................ ............................ 7
6.2 Altenhilfe................................................................ ................................ ............................... 8
6.3 Krankenhaus ................................................................ ................................ ...................... 10
6.4 Einrichtungen für geistig Behinderte................................................................ .................... 11
6.5 Jugendhilfeeinrichtungen ................................................................ ................................ ....11
7 Eigene Auswertungen........................................................................ 11
7.1 Zahl der Übergriffe nach Betriebsart................................ ................................ .................... 12
7.2 Verletzungsauslösende Handlungen ................................................................ ................... 14
7.3 Verletzungsauslösende Handlungen nach Betriebsart ................................ ......................... 15
7.4 Verletzungsort ................................ ................................ ................................ .................... 16
7.5 Verletzungsort nach Betriebsart ................................ ................................ .......................... 17
7.6 Arbeitsunfähigkeitszeiten ................................................................ ................................ ....17
7.7 Übergriffe in Abhängigkeit von der Berufserfahrung............................................................ 18
7.8 Lebensalter des Opfers................................................................ ................................ .......19
8 Folgen ................................................................................................ 19
8.1 Somatische Verletzungen ................................................................ ................................ ...20
8.2 Psychische Folgen................................................................ ................................ .............. 20
8.3 Sekundäre Traumatisierung................................................................ ................................ 23
9 Patientenübergriffe aus Sicht der gesetzlichen Unfallversicherung.. 23
10 Schutz besonderer Personengruppen.............................................. 25
11 Notwehr .............................................................................................. 26
11.1 Strafrecht ................................................................ ................................ ........................ 26
11.2 Zivilrecht................................................................ ................................ .......................... 28
12 Präventionsansätze............................................................................ 28
12.1 Deeskalationsstrategien ................................................................ ................................ ..30
12.2 Stationsmilieu................................................................ ................................ .................. 30
12.3 Patientenbeobachtung................................................................ ................................ .....31
12.4 Innerbetriebliche Kommunikation................................................................ ..................... 32
12.5 Bauliche Gestaltung ................................................................ ................................ ........32
12.6 Verlegung des Patienten ................................................................ ................................ .32
12.7 Notrufeinrichtungen ................................................................ ................................ ......... 33
12.8 Hilfe gewährleisten ................................................................ ................................ .......... 34
12.9 Befreiungs- und Fixierungstechniken ................................................................ .............. 34
12.10 Arbeitsmedizinische Vorsorge Immunisierungsmaßnahmen............................................. 35
12.11 Prädiktion von Gewalttaten................................................................ .............................. 35
12.12 Kleidung, Schuhwerk, Schmuck................................................................ ....................... 36
12.13 Das schuldige Opfer ................................................................ ................................ ........36
12.14 Betreuung von Opfern Peer-Support................................................................ ................ 37
12.15 Supervision und (_ ) Balint-Gruppen................................................................ ................ 38
12.16 Dokumentation ................................................................ ................................ ................ 39
13 Berufsgenossenschaftliche Prävention und Rehabilitation .............. 39
14 Anhang I Glossar ...................................................................................
15 Anhang II Adressen und Informationen .................................................
16 Anhang III Literaturverzeichnis ..............................................................
Patientenübergriffe Seite 1
Anfang des Jahres wird die Krankenschwester L. während
Ihrer Nachtwache von einem unbekannten Täter über mehrere
Stunden misshandelt und vergewaltigt. Als die Altenpflegerin
S. eine Bewohnerin wäscht, tritt Ihr diese derart ins
Gesicht, dass zwei Zähne abbrechen. Der Sozialarbeiter K.
wird schwer verletzt, als ein ehemaliger Bewohner im Verlauf
einer Auseinandersetzung wiederholt auf ihn einsticht.
Frau S. ist Auszubildende in einer Einrichtung für geistig Behinderte
Menschen. Nachdem Sie einem Bewohner ein Glas
Milch verweigert, schlägt dieser derart auf Sie ein, dass Frau
S. eine Nasenbeinfraktur und multiple Gesichtsschädelprellungen
erleidet.
Vier Fälle, die eines gemeinsam haben: Die Opfer gehören
zu Menschen, die sich der Behandlung, Pflege und Betreuung
alter, kranker, behinderter oder auf andere Weise hilfsbedürftiger
Menschen verschrieben haben, während die »Täter«
überwiegend aus eben dieser Gruppe stammen.
Aggressionen und Gewalttätigkeiten gehören für viele Beschäftige
helfender Professionen zu Erfahrungen des beruflichen
Alltags. Auch wenn spektakuläre, medienwirksame
Aggressionen häufig einen anderen Eindruck erwecken: Übergriffe
mit gravierenden körperlichen Verletzungen der
Opfer stellen als Ausnahme nur die »Spitze des Eisberges«
dar. Wie sieht es aber unter der Oberfläche aus? Ziel dieser
Arbeit ist, dem Leser einen Überblick über Quantität, Qualität
und Folgen von Übergriffen anhand von Literaturrecherchen,
eigenen Auswertungen und geführten Expertengesprächen
zu vermitteln. Vor der Darstellung möglicher Präventionsmaßnahmen
werden zum besseren Verständnis
wesentliche Aspekte der Entstehung, des Verlaufs und der
Erscheinungsformen von Gewaltphänomenen behandelt.
Das Symbol (_ ) verweist auf weitere Erläuterungen in Anhang
I.
Unter »Patientenübergriff« sollen im folgenden Aggressionen
und/oder Gewalttaten von Patienten oder Betreuten (Klienten)
gegenüber medizinischem Personal, Pflegepersonal
und Betreuern verstanden werden.
Die folgenden Ausführung werden deutlich machen, dass
Patientenübergriffe keinesfalls als einseitige, von pflegerischen,
sozialen und kulturellen Kontexten losgelöste Hand-
1 Einführung
Patientenübergriffe Seite 2
lung eines »Täters« betrachtet werden können. Eine Auseinandersetzung
mit dieser komplexen Thematik bedeutet
immer auch die Auseinandersetzung mit dem individuellen
Gewaltverständnis der Pflegenden sowie der strukturell, institutionell
oder personell ausgeübten Gewalt auf den Patienten.
Schon die Vielfalt der je nach Intention und Standpunkt des
Betrachters sich ergebenden, eng oder weitgefassten, juristisch,
sozialwissenschaftlich oder psychologisch orientierten
Definitionen macht deutlich, dass eine allgemeingültige Definition
von Aggression und Gewalt kaum gelingen kann.
Diese Vielfalt setzt sich fort bei der Frage nach dem eigenen,
dem subjektiven Verständnis von Gewalt und Aggressivität.
Aggression ist abgeleitet aus dem lateinischen »aggredior«
(heranschreiten, freundlich angehen, angreifen, sich anschicken,
versuchen). Aggressives Verhalten als tatkräftiges,
zielgerichtetes Herangehen kann als notwendige menschliche
Verhaltensweise charakterisiert werden, die sowohl positive
als auch negative Züge tragen kann. Im sozialen Bereich
charakterisiert Aggression dagegen eher ein schädigendes
und destruktives Verhalten. Treffend ist meines Erachtens
die von STEINERT1 gewählte Definition von aggressivem
Verhalten, die synonym für Patientenübergriffe
verwendet werden kann: "Aggressives Verhalten liegt
dann vor, wenn sich eine Person bedroht, angegriffen
oder verletzt fühlt (verbal oder physisch)."
Diese Definition impliziert, dass die Kriterien für die Bewertung
einer Situation als »aggressiv« oder »gewalttätig« eher
beim Opfer als beim Täter liegen. Ob ein Übergriff vorliegt
oder nicht, kann daher auch nicht allein durch Vorgesetzte,
Arbeitskollegen oder andere scheinbar »objektive« Beobachter
beurteilt werden.
2 Aggression und Gewalt
2.1 Aggression
Patientenübergriffe Seite 3
In der Literatur finden sich beschreibende Darstellungen von
Gewalt als Ausdrucksform körperlicher Aggression, "bei der
ein Mensch einem anderen Menschen Schaden mittels physischer
Stärke zufügt" (HURRELMANN & PALENTIEN2).
RAUCHFLEISCH3 dagegen definiert Gewalt über die Intention
des Täters "als eine spezifische Form der Aggression
[...], welche die Schädigung eines Objektes oder einer Person
zum Ziel hat." Weiter führt das Verständnis von ENGEL
& HURRELMANN4 von Gewalt als einem "immer interaktiven
Produkt, das in sozialen Prozessen entsteht und am
Ende von Kommunikationsschwierigkeiten und Konflikten
stehen kann." Die Prägung einer Beziehung zwischen Täter
und Opfer durch Abhängigkeit und Hilflosigkeit ist auch für
LEIDINGER5 entscheidend für die Entstehung von Gewalt in
Konfliktsituationen.
Gewalt und Aggression ist als zwischenmenschliches Phänomen
fester Bestandteil unserer Lebenserfahrung. Doch
wie und warum entstehen aggressive Verhaltensformen? Im
Laufe der psychologischen Aggressionsforschung wurden
hierzu verschiedene Theorien entwickelt:
Aggression wird als Trieb (S. FREUD)6 oder durch Instinkte
(LORENZ) 7 hervorgerufene Verhaltensweise gedeutet. Diese
Theorie wird durch aggressive Verhaltensweisen gestützt,
die von Ausweglosigkeit und Kontrollverlust über eigenes
Handeln geprägt sind.
Die Theorie des sozialen Lernens (BANDURA8) geht von der
Annahme aus, dass aggressives Verhalten erlernt wird. Vereinfacht
dargestellt, wird das eigene Verhalten durch Nachahmung
erfolgreicher Vorbilder erworben (Lernen am Modell).
So hat das Verhalten von Betreuern und Pflegepersonal
sowohl gegenüber den Betreuten, als auch untereinander
Vorbildfunktion für die Entstehung von Aggressionsmustern
bei Patienten und Betreuten.
Ein weiterer lerntheoretischer Ansatz ist das Erlernen von
Verhaltensmustern nach der Versuch-Irrtum-Methode (Lernen
aus Erfahrung). Erlebter Erfolg bzw. Misserfolg führen
dabei zu einer Verstärkung bzw. Hemmung aggressiver
Verhaltensformen. Erfolg und Misserfolg sind dabei stets
aus subjektiver Sicht zu definieren.
2.2 Gewalt
3 Aggressionstheorien
3.1 Psychodynamische Theorien
(Trieb- und instinkttheoretische Ansätze)
3.2 Lerntheorien
Patientenübergriffe Seite 4
DOLLARD / DOOB / MILLER / MOWRER / SEARS9: Hiernach
setzt Gewalt eine Frustration voraus, d.h. einem Ziel
wird ein Hindernis entgegengesetzt. Aus einer Frustration
entsteht immer eine Aggression, wobei individuelle Frustrationstoleranzen
zu berücksichtigen sind.
Aggression erfolgt nach Aktivierung eines (_ ) »Motivsystems«.
Auslöser sind überwiegend Beeinträchtigungen und
Bedrohungen des körperlichen Wohlbefindens, der Selbstachtung
und des sozialen Ansehens. Die Motivation zu einer
aggressiven Handlung ist dabei abhängig von der Stärke
des Auslösers, der Erfolgserwartung für die Handlung und
des mit dem Aggressionsziel verbundenen Anreiz. Die kognitive
Motivationstheorie beschränkt sich auf spezifische destruktiv
motivierte Aggressionsformen.
Neben psychosozialen Prozessen werden in der wissenschaftlichen
Literatur eine Reihe weiterer Einflussfaktoren
für die Entstehung aggressiver Verhaltensweisen diskutiert.
Der Einfluss neurobiochemischer Faktoren auf aggressives
Verhalten konnte auch tierexperimentell bestätigt werden10.
Neurotransmitter, insbesondere Serotonin sowie Dopamin
und Noradrenalin scheinen aggressives Verhalten zu determinieren.
Das Verständnis biochemischer Zusammenhänge
liefert Grundlagen für den Einsatz von (_ ) Psychopharmaka.
Bestimmte Substanzen und Medikamente sind besonders
häufig mit Gewaltverhalten assoziiert. Genannt werden insbesondere
Phencyclidin (PCP), Sedativa (insbes. Barbiturate),
Amphetamine und Kokain11.
Von allen psychoaktiven Drogen ist Alkohol am häufigsten
mit Gewalt assoziiert. Vereinfachend kann der Einfluss des
Alkohols als risikohaft auslösender und erleichternder (damit
auf jeden Fall begünstigender) Faktor angesehen werden,
keinesfalls jedoch als alleinige Ursache12. Eigene Auswertungen
ergaben, dass in 17 % der gemeldeten Patientenübergriffe
in der chirurgischen Ambulanz und bei Notarzteinsätzen
alkoholisierte Patienten beteiligt waren.
Bei bestimmten Erkrankungen (M. Alzheimer, Parkinson,
Morbus pick, Chorea Huntington, Multi-Infarkt-Demenz, Epilepsie,
Hirnverletzungen, Schlaganfällen) ist die Steuerungs-
3.3 Frustrations-Aggressions-Theorie
3.4 Motivationstheorien
4 Neurobiologie und Substanzmissbrauch
Patientenübergriffe Seite 5
funktion des Stirnhirns eingeschränkt. Aggressive Handlungen
können plötzlich, ungerichtet und unberechenbar auftreten.
Die psychologische Forschung hat verschiedene Systematiken
für die Klassifizierung von Aggressionshandlungen entwickelt.
Abgrenzungskriterien können sowohl inhaltlichintentionaler
Art als auch äußerlich-deskriptiver Art sein.
ELHARDT13 nennt drei intentionale Gruppen mit fließenden
Übergängen:
Aktiv-spontane Aggression: Aggression ohne subjektiven
Feindseligkeitsanteil: z.B. allgemeines Neugierverhalten,
Unternehmungslust, aktive Zuwendung zu Objekten.
Reaktiv-defensive Aggression: Aggression mit Feindseligkeitsanteil:
z.B. allgemeine Abwendung von Objekten,
grundsätzlich oppositionelles Verhalten, Trotz, Eigensinn,
Misstrauen, Angstverhalten. Angst wird bezogen auf Patientenübergriffe
als wichtigste Ursache für das Auftreten
von Gewaltsituationen genannt14. Typische Ängste können
sein:
_ (_ ) Psychotische Ängste
_ Vorwiegend neurotische Ängste
_ Ängste bei Verwirrtheit und Desorientiertheit.
Aktiv-destruktive Aggression: Überwiegend und subjektiv intendierte
Feindseligkeit, z.B. aktive willkürliche Zerstörung
von Objekten, Verletzungen, Schädigungen, Quälen, Demütigen,
Hass und Rache.
Als reaktiv bezeichnet man Aggressionen als Reaktion auf
einen Reiz (Frustration). Dagegen setzt ein Individuum, das
selbst gelernt hat, durch aggressives Verhalten Erfolg zu
haben, diese von sich aus (operant) ein, ohne dass es zuvor
frustriert worden wäre.
Deskriptiv lassen sich aggressive Verhaltensweisen in körperliche
und verbale Ausdrucksformen gliedern.
Das Spektrum verbaler Gewalt ist vielfältig, die Belastung für
das betroffene Personal wird häufig unterschätzt. Verbale
Gewalt kann sich äußern in Form vieler Zurückweisungen,
abfälligen Bemerkungen, Äußerungen negativer Gefühle,
Äußerungen von Wünschen und Vorstellungen mit aggressi-
5 Erscheinungsformen von
Aggression und Gewalt
5.1 Klassifizierung nach Intention
5.2 Reaktive und operante Aggression
5.3 Verbale und körperliche
Ausdrucksformen
Patientenübergriffe Seite 6
ven Inhalten, Beleidigungen (auch sexueller Natur), Bedrohungen
Dich bringe ich um«), Nötigungen, Erpressungen,
Anklagen und Anschuldigungen. Auch Schreien, ohne Formulierung
sprachlicher Inhalte, kann aggressive Züge haben.
Körperliche Gewalt drückt sich primär in unmittelbaren
Angriffen aus. Dabei kommt das ganze Spektrum aggressiver
Verhaltensformen zum Tragen: Schlagen, Treten, Spucken,
Kratzen, Beißen, Schubsen, Zerren, Reißen, Würgen
und sexuelle Übergriffe. Auch der Einsatz von Werkzeugen/
Gegenständen, selten Waffen, ist zu beobachten.
Weitere Formen von Gewalt können sein: bewusstes Einnässen
oder Einkoten, die Verweigerung von Handlungen
sowie Sachbeschädigungen und Brandstiftungen.
Strukturelle oder institutionelle Gewalt resultiert aus gesellschaftlichen
bzw. aus institutionellen Organisationsformen.
So sind institutionalisierte Bewohner häufig umfassend
strukturierten Tagesabläufen unterworfen. Verbunden ist
hiermit eine Versagung individueller Bedürfnisse und Wünsche.
Institutionalisierte Patienten oder Betreute erfahren so
ständig ein Maß an Gewalt welches in der Regel von den Institutionen
kaum hinterfragt, sondern als selbstverständliches
organisatorisches Erfordernis betrachtet wird. Häufig
entstehen Konflikte und Aggressionen jedoch aus einem hohen
Grad an Fremdbestimmtheit (vgl. Frustrations-
Aggressions-Theorie). Als Beispiel seien die häufig angeführten
Verstöße gegen »Hausordnungen« oder »Verhaltensregeln«
genannt. »Zurechtweisungen« durch Betreuer und
Pflegepersonal führen nicht selten zu eskalierenden Situationen.
Wo Regeln erforderlich(!) sind, kann durch eine gemeinsame
Erstellung mit Patienten und/oder Betreuten deren
Akzeptanz und der Grad der Selbstbestimmung erhöht
werden. Der Mitgestaltung der Institutionen durch ihre »Nutzer«
wird insofern eine außergewöhnliche gewaltmindernde
Wirkung beigemessen15. Diesen Weg beschreitet auch die
Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie, die unter Beteiligung
Psychiatrie-Erfahrener und Ihrer Angehörigen (_ )
Forderungen zur Verringerung von Gewalt auf der strukturellen
und der Beziehungsebene erarbeitet hat.
5.4 Institutionelle und strukturelle Gewalt
Patientenübergriffe Seite 7
Ein typischer Gewaltverlauf stellt sich folgendermaßen dar:
Nach einer Auslösephase kommt es zu einer Phase der
Eskalation, der sich die (_ ) Krisenphase anschließt. Es
schließt sich die Erholungs- oder Erschöpfungsphase an, die
in eine nachkritische depressive Phase münden kann.
Abbildung 1: Phasenverlauf einer Gewaltsituation (nach BREAKWELL
1995)
Vorankündigungen und Eskalationsverlauf werden häufig
nur unbewusst wahrgenommen. Schulungen der Mitarbeiter
die zu einer bewussten Wahrnehmung dieses Prozesses
führen, eröffnen damit die Möglichkeit gelernte Deeskalationsstrategien
anzuwenden, um die Krise (d.h. den Gewaltausbruch)
zu vermeiden.
Die Psychiatrie setzt sich seit Jahren intensiv mit dem Thema
»Gewalt und Gewaltvermeidung« auseinander. Mit Gewalt
in der Altenpflege hat sich u.a. die Bonner Initiative
Handeln statt Misshandeln16 (HSM) intensiv auseinandergesetzt.
Zum Umgang mit Gewalt und Aggressivität unter Kindern
und Jugendlichen gibt es eine größere Anzahl von
Schriften sowohl der Schulbehörden als auch in der wissenschaftlichen
Literatur.
Die Angaben zur Häufigkeit aggressiver Handlungen
schwanken. So kommen Untersuchungen zu dem Ergebnis,
dass bei 2 Prozent aller in psychiatrischen Kliniken aufgenommenen
Patienten zu aggressiven Handlungen kommt,
insbesondere bei jüngeren Männern mit (_ ) schizophrenen
Psychosen17,18. Ein Überblick zu internationalen Studien19
kommt zu dem Schluss, dass "gemessen an der Stärke des
Risikos, das von einer Kombination von Persönlichkeitsstörung,
männlichem Geschlecht und Substanzmissbrauch
5.5 Verlauf einer Gewalthandlung
6 Literaturangaben zu
Übergriffen
6.1 Psychiatrie
Vorankündigung
Eskalation Erholung
Depression (?) Krise
normales
Verhalten
Patientenübergriffe Seite 8
ausgeht, das Gewaltrisiko für schwere psychische Krankheit
wie z.B. Schizophrenie jedoch vergleichsweise gering ist.
Ferner ist das mit psychischer Krankheit verbundene Gewaltrisiko
in seinem Ausmaß vergleichbar mit der von jungem
Alter, niedrigem Bildungsstand und männlichen Geschlecht
ausgehenden erhöhten Wahrscheinlichkeit gewalttätigen
Verhaltens."
Im Gegensatz zu diesen Zahlen stehen Ressentiments und
Befürchtungen der Bevölkerung, deren Einstellung gegenüber
psychisch Kranken durch die Darstellung der Medien
geprägt ist. Befürchtungen in der Bevölkerung bedrohen oder
verhindern die Dezentralisierung forensischer Einrichtungen.
Hieraus erwächst die Gefahr, dass Patientenübergriffe
vertuscht und tabuisiert werden, um dem Stereotyp
von gewalttätigen Patienten nicht noch weiter Vorschub zu
leisten20.
Nach einer internen Auswertung des Gemeindeunfallversicherungsverbandes
Westfalen-Lippe machen Patientenübergriffe
etwa 40 % der Unfallmeldungen aus psychiatrischen
Kliniken aus21. Die am häufigsten betroffene Kategorie
stellt das Pflegepersonal mit 4- bis 8jähriger Berufserfahrung.
Gewalt in der Altenpflege ist in den vergangenen Jahren
häufig thematisiert worden, überwiegend aus Sicht der Betreuten.
Nirgendwo wird deutlicher, dass Gewalt keine einseitige
Handlung der Betreuten oder der Pflegekraft darstellt,
sondern aus der Interaktion beider entsteht.
Aggressives Verhalten älterer Menschen wird oft mit Gewalt
beantwortet: Gewalt durch Sedierung, Fixierung, Diskriminierung
und Stigmatisierung. Der Kreis schließt sich, wenn
Gewaltanwendung in dieser oder auch anderer Form wiederum
aggressives Verhalten beim alten oder kranken Menschen
auslöst. In einer Studie von FISCHER22 bezeichnen
51% von 39 befragten Pflegekräften Aggressivität von
Heimbewohnern als täglich vorkommendes Problem. WEYERER
& SCHÄUFELE23 haben im Rahmen einer epidemiologischen
Untersuchung von 1994 -1997 (_ ) psychische
Störungen und Verhaltensauffälligkeiten aller BewohnerInnen
und Neuaufnahmen von insgesamt 20 Mannheimer
Altenheimen erhoben.
6.2 Altenhilfe
Patientenübergriffe Seite 9
Psychische Störungen
und Verhaltensauffälligkeiten
Neuaufnahmen
(N=187)
%
Stichtagspopulation
(N=1.927)
%
Demenzielle Störungen 53,1 50,6
Depressivität 54,5 48,8
Ängstlichkeit 42,9 31,6
Aggressive Äußerungen
oder Handlungen
18,9 22,9
Agitiertheit 28,6 34,1
Misstrauen 18,4 22,7
Wahnvorstellungen und
Halluzinationen
10,0 11,1
Alkoholmissbrauch 3,4 3,3
Abbildung 2: Verhaltensauffälligkeiten bei AltenheimbewohnerInnen
Verständlicherweise haben Patientenübergriffe in der Altenpflege
eine andere Qualität als in der Psychiatrie, der Jugendhilfe
oder in somatischen Krankenhäusern. Die Pflegekraft
ist in der Regel körperlich überlegen, während die Betreuten
nur zu begrenzten körperlichen Attacken in der Lage
sind. Gefährdungen erwachsen hier insbesondere aus psychischen
Momenten. So zeigt KNOBLING24 in ihrem Buch
über Konfliktsituationen im Altenheim auf, dass nicht die Aggressionen
der Bewohner, sondern deren subjektive Bedeutung
für die Pflegekraft belastend wirkt. Als Teil eigener ( )
Bewältigungsstrategien werden im Alltag Aggressionen der
Bewohner durch das Pflegepersonal häufig als Desorientiertheit
gedeutet. Diese Beurteilung hilft zwar bei der Bewältigung
eines erlebten Übergriffes, verhindert gleichzeitig aber
die Auseinandersetzung mit den eigenen Anteilen am
Gewaltverhalten der Betreuten. Studien25 belegen:
Körperlich aggressives Verhalten von Demenzkranken
gehört im Allgemeinen nicht zum normalen Verhalten
von Demenzkranken gehört. Nur äußerst selten sind sie
ohne erkennbaren äußeren Anlaß körperlich aggressiv,
auch wenn sie oft »stören« oder »belästigen«.
Körperliche Attacken sind überwiegend gegen das Personal
gerichtet.
Aggressionen treten meist im Zusammenhang mit der
Körperpflege auf - wie Baden, Toilettengang und Auskleiden
- und zwar besonders dann, wenn in Ihren Intimbereich
eingedrungen wird.
Patientenübergriffe Seite 10
_ Meist schimpfen die Kranken bevor sie handgreiflich
werden oder die Kranken äußern zuvor auf andere Weise
Ihre Abwehr gegenüber Anweisungen des Pflegepersonals
_ In der Regel ist die körperliche Aggressivität nur von
kurzer Dauer.
In einer DAK-BGW Studie26 geben 35% der examinierten
Pflegekräfte in Akutkrankenhäusern Belastungen durch
»nörgelnde und aggressive Patienten« an. Ein deutlicher Zusammenhang
wurde zwischen der Arbeitssituation und der
Zufriedenheit der Patienten festgestellt: Dort wo Pflegekräfte
höheren Belastungen durch Zeitdruck, häufige Unterbrechungen,
unklare Zuständigkeiten, Informationsmangel oder
Überforderung ausgesetzt waren, traten Unmutsäußerungen
von Patienten deutlich öfter auf.
Abbildung 3: Belastung durch aggressive Patienten in Abhängigkeit vom Ausmaß organisationsbedingter
Belastung
Beim Umgang mit sexuellen Belästigungen und Verletzungen
eigener Schamgrenzen fühlen sich viele MitarbeiterInnen
unzureichend ausgebildet und unterstützt27. In Großbrittanien
führte 1999 die Zahl von mehr als 65.000 von verbalen
und körperlichen Angriffen28 betroffenen MitarbeiterInnen,
überwiegend Krankenschwestern, zu einer breit ange-
6.3 Krankenhaus
28,40%
42,30%
0%
20%
40%
60%
80%
100%
niedrig hoch
organisationsbedingte Belastung
Belastung durch nörgelnde und aggressive Patienten in Abhängigkeit vom Ausmaß
organisationsbedingter Belastung
Patientenübergriffe Seite 11
legten »zero-tolerance-campaign« des britischen national
health systems (NHS).
Literaturangaben zu Aggressionen (häufig wird der Begriff
Verhaltensauffälligkeiten synonym benutzt) geistig Behinderter
sind nur spärlich vorhanden. Epidemiologischen Studien
29,30 zufolge haben 10 - 40% geistig behinderter Menschen
irgendeine Form psychischer Störung. Insbesondere
institutionalisierte geistig schwer Behinderte scheinen massive
Verhaltensauffälligkeiten, insbesondere ein breites
Spektrum (_ ) autoaggressiver Verhaltensweisen31 zu zeigen.
Überwiegend wird reaktives aggressives Verhalten beobachtet,
d.h. niedrige Frustrationstoleranz führt zu aggressivem
Verhalten in Konfliktsituationen32.
Gewalt an Schulen ist in den letzten Jahren vermehrt in den
Blickpunkt der öffentlichen Berichterstattung gerückt. Die
häufig zitierte »vermehrte Gewaltbereitschaft« unter Kindern
und Jugendlichen wird durch Studien33 und Kriminalstatistiken
34 belegt. Vorliegende epidemiologische Studien belegen
aggressives Verhalten bei 5-25% der Vorschulkinder. Andere
Studien zur Verbreitung aggressiven Verhaltens unter
Kindern und Jugendlichen schwanken zwischen 2% und
10% Auftretenswahrscheinlichkeit. Nach den Diagnosekriterien
des (_ ) DSM-IV zeigen ca. 9% der Jungen gegenüber
2% der Mädchen unter 18 Jahren eine Störung des Sozialverhaltens.
Für MitarbeiterInnen in heil- und sonderpädagogischen
Einrichtungen stellen aggressive Verhaltensweisen
eine der wesentlichen beruflichen Belastungen dar.



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