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® schrieb am 25.11. 2010 um 05:55:13 Uhr über

versteht

Man liest und versteht doch nicht
Oswald Egger: Die ganze Zeit, Suhrkamp Verlag, Berlin
Von Enno Stahl
Das neue Buch von Egger könnte als sein Hauptwerk tituliert werden. Mit einem Umfang von 741 Seiten und 1200 Gramm ist das neue Werk eine voluminöse Publikation.

Das ist ein Buch wie aus einer anderen Zeit. Schon äußerlich betrachtet: geprägtes Leinen mit Bauchbinde, Quartformat, dick und schwer wie Ziegelstein. Oswald Eggers jüngste Publikation »Die ganze Zeit« vermittelt ganz und gar den Eindruck eines chef d'oeuvre, einer Bibel der experimentellen Poesie.

Und der Experimente gibt es wahrlich viele. Egger inszeniert eine hoch aufgeladene poetische Prosa, Handlung oder erkennbare Sprecher gibt es nicht. Es ist vielmehr die Sprache selbst, die hier zu Ehren kommt mitsamt ihrer ganzen Lautlichkeit und Variabilität. Zwar präsentiert sie vornehmlich Bilder der Natur, Landschaften, Seelenlandschaften, doch der Sinn bleibt dunkel:

" Bruch-schliff gewetzte Schirr'm-Glimmer-Steine und meine, dass ich in einem alten Flusstal wate. Die Steine aber lippten (tiefe Klüfte und Spalten): ich wate über augweit ausgedörrte Strömfelder, die Wärme droppt wie Watte über mich, und Sinter in gehitzter Spiegelung: ein vorglosendes Flundern, sein schnurrborstiger Hakenbart und die Kinn-Kammwirbel gescheitelter.

Dicht'ickt. Es pitscheln Schloßen über den Teich, teilen die Eistropfen tümpeln wie Mollusken (ohne Schale und Valven), Lachen und verschwemmte Bassins; ich habe nie eine andere Form beobachtet als diese: blitzende, glasblanke Wasserbänke und Ländsand."

So raunt der Text und entfaltet trotz aller hermetischen Schwere dennoch einen Sog, dem der Leser sich zumindest eine Weile überlassen kann. Der Grund dafür dürfte sein, dass diese komplexen Sprachgebilde einer inneren Zwangsläufigkeit folgen. Selbst Wortneuschöpfungen und »Nicht-Worte«, also sinnfreie Vokabeln, passen sich ein in den lyrischen Strom. So liest man, versteht und versteht doch nicht.

Weil ein inhaltlicher Zugang schwierig ist, vom Autor wohl auch gar nicht gewollt, hilft ein Blick auf die Struktur des Buches, denn diese ist sehr stramm gefügt. Eingeklammert wird der eigentliche Textteil durch zwei Zitate: Am Anfang steht eine längere Passage aus Augustinus' »Bekenntnissen«, am Ende eine Sequenz des christlich-römischen Philosophen Boethius. Während Ersteres die Absicht des Projekts auszugeben scheint: »Ich werde mich also auch noch über die Natur der Natur der Dinge erheben«, ist dem Boethius-Zitat der Titel des Buches entlehnt: »Die ganze Zeit« wird hier, gewissermaßen als Quintessenz, definiert als die Ewigkeit, der »nichts Zukünftiges fern und nichts Vergangenes verflossen« ist, die »unendliche Bewegung der zeitlichen Dinge«.

Dazwischen folgt das Buch grafisch wie formal einem strikten Muster: Stets gibt es neben einer ganzseitigen Grafik eine kurze, fast prosaische Einleitung, die ein wenig die innere Thematik vorzugeben scheint - lesen Sie ein exemplarisches Beispiel:

»Alles hat seine Zeit, weiß der Prediger, aber das Wort für Wort habe zwei Zeiten: etwas vom im Kreis laufenden, gleichmäßigen Tuckern der Uhr Verschiedenes; Zeit ist keine leere Form, keine Gänze aus Sand, in die sie einfließt und erstarrt, kein Kontinuum oder eine Dimension an sich, kein Formular oder Substrat, in das die Ereignisse eingelitzt würden; was durch sie, in ihr und mit ihr geschehe, geschah dauernd - überdauerter. Die Zeit bedauert sozusagen ihre Frist, die unentwegt versetzt, was an der Zeit ist: Zeit zum Geboren werden und Zeit zum Sterben, Zeit zum Pflanzen und Zeit, Gepflanztes auszureißen, Zeit zum Schweigen und Zeit zum Reden; fliehende Wolken, denen Aufklärung folgt: ein heller, stiller Abend

»Innere Thematik« - das ist natürlich etwas viel gesagt. Eine auch nur vage Leitlinie zu erkennen, dürfte schwierig sein. Denn es folgen fragmenthafte Passagen, die den eigentlichen Charakter des Buches ausmachen: Sprache, Natur und Sprachnatur durchdringen sich gegenseitig, die Worte werden hier aufgebrochen, entkernt, teilweise bewusst falsch und missverständlich behandelt.

Als synchrone Leseleiste stehen fett gedruckte Vierzeiler am Rande, eherne Sentenzen, die zwischen ländlichen Trivialitäten, tiefer Dunkelheit und Dada-artigen Unsinnspoemen changieren:

"Ich hatte/ den Mond besucht/ und wie oft schon/ verschwiegen
Schnauze und/ Schnäbel habe ich/ zurückgekrempelt/ vom Rumpf
Von Stirn/ und Scheitel/ troffen Salben/ und verblassen
Ich mahle/ Graupenspelz/ in Schoten schon/ seit ich denke
Lieber als/ Sirupich/ Suppe/ mit Piroggen
Wacholder/ ist der Ziegen/ Nesseln sind/ mein Essen
Ich gehe/ rechts, linkshin/ dann wieder und/ wieder rechts
Wenn ich mich/ an die Ackergrenze/ bringe und/ bewende dort"

Überall dazwischen finden sich Embleme, Skripturen, biomorph bis abstrakt, keine gleicht der anderen. Selbstverständlich ist auch dies eine ideogrammatische Schiene, ohne zuweisbare Bedeutung, doch mit klarem Eigengewicht. Jedes dieser Kapitel endet mit einer ganzen Seite voller Vierzeiler, die somit das Prinzip paralleler Lesbarkeit noch mehr als in den vorherigen Passagen vorexerzieren.

Diese feste Struktur, die erkennbare und wiederkehrende Segmentierungen im Text einschreibt, belegt die Gestaltungskraft des Autors Egger. Und das tut auch Not. Denn den roten Faden vermisst man trotz aller Sprachgewalt und -fülle ein wenig, ein Leitmotiv, einen Masterplan, der als dominante Matrix dem gesamten Buchaufbau hinterläge. Vielmehr ist es die »Zeit« selbst, die ganze Zeit und ihr Kontinuum, uferlos und grenzenlos, das sich hier sprachlich verströmt.

Deshalb sind die Textbestandteile in Eggers Buch relativ frei verschiebbar, man kann hineinlesen, wo immer man möchte, eine durchgehende Lektüre wird dadurch natürlich erschwert.

Dass am Ende etwas Ratlosigkeit zurückbleibt, ist hingegen nur gerecht - in einer Zeit allgegenwärtiger Antworten, selbst auf Fragen, die nie gestellt wurden, steht uns etwas Ratlosigkeit gut zu Gesicht.
Hören Sie noch einmal eine letzte Sequenz von Oswald Egger.

»Beinah wäre ich jäh in die Tiefe gestürzt, Gras, das Flußbett dräut leer unter den Füßen. Es ist baß tief ausgewaschen, Ries-Felsklötze, mit Klettkraut üppig überwusert und mitten ins Bett gerollt, gesät. Und jetzt erkenne ich auch den Tüll-Spalt, aus dem die Baufelder verödeten in der Ebene und durchbrochen ist ein Felsbild wie gespenstert in blauen Flämmchen unmittelbar darüber, die Hügel zitterten vor Sonne





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