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Mitteilung von Höflich (26.8.2011 21:29:45):
>>Peter K. über »Geisteswissenschaftler«

>>[zum Original-Text]
>>
>>> Zu meiner Uni-Zeit in den achzigern und neunzigern pflegen wir Juristen und Ökonomen gemeinsam mit den Medizinern, Theologen und Naturwissenschaftler auf die zu diesem Zwecke sogenannten und in Gänsefüsschen zu schreibenden »Geisteswissenschaftler« mit abgrundtiefer Verachtung herabzublicken. Und dabei hatten sie schon längst die Lufthoheit über die Parlamente und Verwaltungen übernommen. Wie dumm wir doch waren !
>>
>>Das mit den Theologen hält mich vom Pluspunktgeben ab. Warum ausgerechnet mit Theologen?
>
>Das tertium comparationis war für uns der Anspruch des Studiums – die geradezu unglaublich geringe Menge an Wissen, mit denen ein »Geisteswissenschafter« auskommt, der unglaublich niedrige Grad an materieller Bildung, der für die Qualifikation zum Intellektuellen ausreichend ist – wobei zugestanden werden muß, daß Juristen und Mediziner sich häufig als katastrophale Fachidioten gerieren, die ausserhalb ihrer Disziplin keinen Buchstaben lesen und keinerlei geistige Interessen zeigen.
>
>Im wesentlichen ist es die Arroganz des fleißigen Paukers – alle »anständigen« Studiengänge verlangen enorme Lernleistungen von dem Adepten, bevor es ihm gestattet wird, den Mund aufzumachen. »Geisteswissenschaftler« jedoch erwerben ihren Durchblickerschein regelmässig schon während der ersten beiden Semester.

In den 'Geisteswissenschaften' (der englische Begriff 'humanities' ist vom Bildbereich wohl tatsächlich besser gewählt...) ist es eben so, dass in Ermangelung einer Funktion zur engeren Berufsqualifizierung auch weniger bis gar kein Wert auf stringente Prüfungscurricula gelegt wird. Ich habe während meines Studiums in den Einführungsseminaren ein paar Prüfungen geschrieben, dann noch ein, zwei oder drei in den damaligen Magisterstudiumshauptseminaren, bei den wenigen Dozenten, die aus irgendwelchen Gründen den Anschein erwecken wollten, dass ihnen eine 'Lernzielkontrolle' wichtig war. Ach ja, Abschlussprüfungen gab es ja auch noch. Wie auch immer, man kann in den Geisteswissenschaften sein eigenes Pensum mehr oder weniger selbst bestimmen (gilt wohl auch heute in den Bachelor/Masterstudiengängen noch, obwohl da Prüfungen in jedem Seminar obligatorisch sind. Aber davon weiß ich nur vom Hörensagen) Man kommt zugegebenerweise auch ganz gut (meistens sogar besser) mit dem Weg des geringsten Widerstands durch. Effizient Seminararbeiten schreiben, Praktika bei 'irgendwas mit Medien'. Man studiert sowas eben nicht, um mit Mitte dreißig das erste Eigenheim auf der grünen Wiese hochzuziehen, sondern, so blöd es klingt, erstmal weil es einen Interessiert. Das 'Geisteswissenschaftler' die Hoheit über Parlamente und Verwaltungen übernommen haben, halte ich im übrigen für ein Gerücht. Der Verbreiteste erlernte Beruf unter Bundestagsabgeordneten dürfte vielmehr nach wie vor der des Rechtsanwalts sein, und auch in den Verwaltungen dieses Landes dürften mehr Juristen als Ägyptologen sitzen. Ach, was mir noch einfällt: Jura findet sich ja im Grunde als eine im Grunde vor allem durch Hermeneutik geprägte Staatswissenschaft irgendwo auch eher im Bereich der 'humanities'. Im übrigen: zufällig lag hier gerade der Dilthey herum. Ich zitiere also eine recht wahllos aufgeschlagene Passage:

»Das zetrale Problem der auf die Naturwissenschaften allein bezogenen Erkenntnistheorie liegt in der Fundierung der abstrakten Wahrheiten, des Charakters der Notwendigkeit in ihnen, des Kausalgesetzes und der Sicherheit der induktiven Schlüsse zu abstrakten Grundlagen derselben. da nun die auf Naturwissenschaft gegründete Erkenntnistheorie sich in die verschiedensten Richtungen zersplittert hat, so dass es vielen scheinen möchte, als werde Sie das Schicksal der Metaphysik teilen [geschrieben wurde das zu Beginn des 20. Jahrhunderts], andererseits aber schon der bisherige Überblick über den Bau der Geisteswissenschaften eine sehr große Verschiedenheit Stellung der Erkenntnis zu seinem gegenstande auf diesem gebiet erwiesen hat: so scheint zunächst der Fortgang der allgemeinen Erkenntnistheorie davon abhängig, daß sie sich mit den Geisteswissenschaften auseinandersetzt. Dies fordert aber, daß vom erkenntnistheoretischen Problem aus der Aufbau der geschichtlichen Welt in den geisteswissenschaften studiert werde.«

(Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den geisteswissenschaften, Frankfurt 1981 (Ursprünglich so um 1905), S. 142 f.)

Ich übergebe nun erneut an die Katslruther Spatzen...