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Mitteilung von baumhaus (28.10.2011 22:36:31):
>>>>>>biggi über »Reichtum«

>>>>>>[zum Original-Text]
>>>>Wie hältst Du das aus? Kenne eine, die hat mal drei Wochen im Callcenter (für die AOK!) gesessen. Dann hat sie freiwillig gekündigt, weil sie psychisch am Ende war. Von nur drei Wochen...
>>>
>>>Das ist wohl eine Frage, was man aus den entscheidenen Phasen der Reifung usw. gewohnt ist. Für manche Leute ist es einfach erträglich und ein gutes Zubrot, für andere ist es ätzend.
>>>So ähnlich wie nicht jeder Krankenpfleger machen könnte.
>>
>>Naja, die Branche ist etwas im Verruf. Ich hab einige dieser Jobs schon durch, aber wo ich momentan bin, ist es wirklich erträglich. Inbound, das heißt ich muss keine bestandskunden mit irgendeinem Quatsch nerven. Das größte Problem sind Ausfälle bei Fussballübertragungen (ist Kundenservice für Fernseh und IP-'Produkte'. Kabel halt...) und Rechnungssachen die halt ab einem gewissen Punkt an ein Inkassobüro übergeben werden. Da hast du dann halt Leute dran, die wirklich irgendwie am Ende sind, ALG II beziehen und sich in irgendeiner verrückten Laune dazu haben hinreißen lassen, mal eben die Komplettversorgung mit Sky Welt, Sport, Internet 32 MBit-Leitung und weiß der Geier was zu bestellen. Denen muss man dann dummerweise mal klar machen, dass die 80 Euro im Monat sich zu 400-500 Euro Außenständen aufgelaufen haben, und dass das Inkasobüro mit jeder Mahnung noch ordentlich draufhaut und die dann überdies hinaus noch eine Vertragslaufzeit bis zum Sankt Nimmerleinstag haben. Resultat: Kadi, Kontopfändung und der ganze Scheiß. Und dann mach denen mal innerhalb der vorgesehenen maximal 5 Minuten Bearbeitungszeit eine Kontoaufstellung, wo absolut wild mit Mahn- und Rücklastgebühren und 'internen' Verrechnungen hin und her geschoben wird. Geht aber in der Regel. Wenn es in der Regel auch nicht besonders schön ist. Naja. Gibt schlimmere Jobs.
>
>Das schlimmste in dem Feld sind allerdings 'Terminierungen'. Klingt ein wenig nach Auftragsmord, ist, naja, auch ein wenig ähnlich. Geht in der Regel darum, Kunden davon zu überzeugen, dass sie Termine mit Außendienstmitarbeitern irgendwelcher, normalerweise, 'Finanzdienstleister' wahrnehmen müssten. Der Regelfall in Call Centern ist natürlich, dass man 'Komplexität' vermeiden soll. Will heißen: ich als hypothetischer Auftragsnehmer eines großen Unternehmens dieser Sparte habe ein Call center laufen. Ich habe jetzt, meinetwegen, die Deutsche Bank, die Postbank, die Norisbank als Auftraggeber und hunderte von Typen und Typinnen, die im Regelfall von der Arge bzw. der Unzahl der privaten Vermittlungsagnturen im Auftrag des Bundesamts für Arbeit an mich weitergereicht werden. Der typische Bildungsgrad ist, Abschlussnotenmäßig, im unteren Drittel der Realschulabgänger anzusiedeln, ganz klassische Ausbildung: Bürokauffrau/mann (darunter wird es bei Anrufen manchmal schwer, Stichwort 'Soziolekt'). Ich will natürlich nicht, dass mich diese Leute, mit Ihrem Hang zum fabulieren, um Kopf und kragen reden (es gibt Vertragsstrafen in der Branche, die ein Call Center auch mal ganz schnell abschießen können). Also gebe ich klare Ansagen aus. Sehr gerne werden diese in Form sogenannter 'wordings' weitergereicht, sprich, ein Din A 4 Blatt, das einem der Teamleiter freudig lächelnd übergibt. Da steht dann zum Beispiel drauf: »Herr/Frau xyz. Nach Durchsicht Ihrer Unterlagen haben wir festgestellt, dass die Finanzierung Ihres Bausparvertrages nicht hinreichend abgesichert ist, wir würden Ihnen deshalb anbieten...« Der Rest ergibt sich. Diese Sachen werden in der Regel von den Marketingabteilungen der entsprechenden Unternehmen konzipert, oft genug wahrscheinlich von 'Praktikanten'. Du stehst dann vor der blöden, vor der äußerst blöden Aufgabe, 100.000 Telefonkontakte abzutelefonieren, nur um ihnen diese eine Mitteilung zu machen: Es haben sich Herausforderungen (vulgo: Probleme) mit Ihrem Bausparvertrag ergeben. Natürlich haben sich, in der Regel, null, in Zahlen 0 Probleme mit der »Absicherung des Bausparvertrags« ergeben, natürlich ist das Ziel der Sache, einen Außendienstmitarbeiter in irgendein Eigenheim zu schicken, um eine Kreditausfallsversicherung auf den Bausparvertrag abschließen zu können. Das Problem, oder, die 'herausforerung' ist natürlich, dass die wenigsten Call Center 'Agenten' überhaupt wissen, was ein Bausparvertrag, oder, noch weniger, was eine 'Kreditausfallsversicherung' ist. Das ist von den Leuten in Wirklichkeit einige Tausend Euro monatlichen Verdienstes weit entfernt. Was aber nichts ausmacht. Wichtig ist nur, diesen einen Satz zu wiederholen: »Ihre Bausparversicherung ist nicht abgesicher, Ihre Bausparversicherung ist nicht abgesichert, etc...« In acht von zehn Fällen klappt das natürlich nicht, weil bei all diesen Terminierungs- oder auch Verkaufsgeschichten natürlich zwei Sachen zueinander kommen müssen. ein äußerst gerissener 'Verkäufer' und eine entsprechend leichtgläubige Person. Kommt vor, ist aber die Ausnahme, von der die übleren Vetreter der Branche leben. Naja.

Da fällt mir gleich die Wallraff-Story ein. Wallraff hat ja auch mal inkognito in so einem Call-Center gearbeitet. (Empfehlenswert: http://www.zeit.de/2007/22/Guenter-Wallraff)

Immer die gleiche Masche. Anrufen, Angstmachen, Abkassieren. Das eine fand ich besonders dreist, wo er bei vornehmlich ausländischen Imbißbudenbesitzern mit mangelhaften Deutschkenntnissen anrufen sollte und denen erklären sollte, daß sie die Pflicht hätten, eine eingerahmte Kopie des Jugendschutzgesetzes sichtbar anzubringen (was ja im Grunde stimmt) und daß sie so eine eingerahmte A4-Seite gleich telefonisch erwerben müssten (sofort und zwar für 50 Euro), da sonst umgehend Besuch vom Amt käme. Es handelte sich um einen kopierten Zettel in einem IKEA-Holzrahmen für 3 Euro, oder so. Eigentlich Tatbestand der Nötigung bzw. Ausnutzung einer Zwangslage. Viele haben gekauft, da sie tatsächlich Repressalien fürchteten und sich Ärger mit einem Amt nicht leisten konnten.