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Mitteilung von s.o. (20.8.2015 17:58:40):
Sturz

Ich zittere, schlottere, an Beinen und Brust. Ich erlebe ständig diesen Sturz wie in Zeitlupe. Ich war keine einzige Sekunde lang benommen. Ich fühle ein Aufkommen auf dem Boden, etwas hart fühlt sich alles an, etwas schnell und hart, dann der Kopf, ich schmiege mich dem Asphalt genau in jener Position an wie ich mit dem Kopf auf der Matratze mich hinlege, auf die Backe und mit der halben Augenbraue. Ich liege da und bin voll da.

Ich höre die Mädchen kreischen.
Sie rennen hin zu mir.
Um Gottes Willen rufen Sie, können Sie mich hören.
Ich reagiere nicht.
Ich sortiere mich noch. Es scheint nichts verrenkt zu sein. Kein wesentlicher Schmerz.

Die Mädchen sind hektisch. Wir müssen einen Notarzt rufen höre ich. Ich liege noch immer unbeweglich. Ich bewege den Arm ein wenig. Ich fasse an meinen Kopf. Viel Blut.

Können Sie mich hören, ruft eines der Mädchen wieder. Ich bewege einen Arm wie zum Gruß nach oben. Um Gottes Willen bleiben Sie liegen, ruft sie nun, wie geht es Ihnen. Ich fühle mich noch nicht bereit zu sprechen. Ich mache Bewegungen, ziehe ein Bein an. Sage, Ogottogottogott.
Bleiben Sie bloß liegen rufen die Mädchen, wir rufen einen Krankenwagen.

Ich versuche mich halb aufzurichten. Nein, nein, bleiben Sie liegen, rufen die Mädchen. Ich schaue sie zum ersten Mal an. Drei etwa Fünfzehnjährige. Ich sage wieder ogottogott. Wie sehe ich aus. Sie bluten überall. Ich schaue an meinem Bein hinunter, Schrapp und Schürfwunden mit kleinen Steinchen drinnen. Ich fasse an meine Augenbraue. Alles voller Blut. Ogottogott sage ich. Wie sehe ich im Gesicht aus frage ich wieder. Ist es schlimm. Ja, es sieht schlimm aus sagen Sie, bitte bleiben Sie liegen.
Glauben Sie, ich kann so nach Hause gehen, frage ich und alles einfach nur abwaschen oder ist da etwas aufgeplatzt was genäht werden muß.

Ein Mädchen kommt näher, oder zwei, das erinnere ich nicht genau, sie schauen, ja, es sieht ziemlich schlimm aus, es blutet sehr und da ist wie ein Riß. Ich taste die Stirn rund um die Wunde ab. Nichts besonderes.

Wie heißt denn der große Hof da unten fragt eine, ich sage, Steinheimer Hof, danke, dann weiß der Krankenwagen wo er hin muß, auf den Feldweg oberhalb des Steinheimer Hofs. Ich sitze inzwischen halbaufgerichtet und auf einen Arm gestützt und betrachte mir das Rad. Der Sattel ist einfach abgebrochen. Am Rad selbst ist nichts kaputt, da ich nicht mit dem Rad zusammen kollisiert bin sondern einfach nach hinten weggefallen bin, gerade als ich die Hände vom Lenker nahm, fiel ich, brach der Sattel, ein ungewöhnlicher Zufall.

Ich bin ungewöhnlich gut gefallen denke ich. Ich bin ein außerordentliches Talent im Fallen denke ich. Das war nun wirklich hart. Also dabei völlig unbenommen zu bleiben. Ich fange an mich mit den Mädchen zu unterhalten. Woher kommt Ihr denn. Eine ist aus Oberwalluf, eine aus Geisenheim, eine weitere aus einem Ort dazwischen, ich erinnere ihn nicht genau. Ich bitte sie um ein Tempotaschentuch. Alle drei haben genau ein einziges Tempotaschentuch dabei. Die, die aus Oberwalluf ist, läuft die dreihundert Meter zurück ins Dorf, es ist gerade am Ortsausgang passiert und will noch mehr Tempos holen.


Ich hätte ihnen allen dreien sagen sollen, es ist echt rührend wie ihr euch um mich kümmert, aber ich habe Gesichtserkennungsprobleme, also ich erkenne Menschen nicht wieder die ich nur einmal oder ein paar mal gesehen habe, also seid bitte nicht böse, wenn ich irgenwann an euch vorrübergehe und euch nicht erkenne und mich nochmal bedanke.

Ich sage, was ein Glück, es scheint alles soweit ganz in Ordnung zu sein. Glaubt ihr, ich kann einfach so nach Hause gehen. Sie sagen, nein nein, bitte bleiben sie da sitzen, der Krankenwagen kommt gleich. Ich wische mit dem Tempo am Auge Blut weg und bitte sie nochmal hinzuschauen um mir zu beschreiben wie tief die Wunde ist. Eine erwachsene weibliche Radfahrerin kommt vorbei und schiebt ihr Rad an der Unfallstelle vorbei. Ich spreche sie an und frage auch sie bitte einen Blick auf mein Gesicht zu werfen. Sie schaut hin und sagt, es sieht aus wie eine Platzwunde, das muß sicher genäht werden. Sie fährt weiter.

Ich bedanke mich bei den Mädchen nun das sie bleiben und mit mir warten. Sie sagen, gar kein Problem, wir haben Zeit. Ich sage, ich kann euch leider kein interessantes Gesprächsthema bieten, nur ein wenig Mathematik, wie den Pythagoras oder den Cosinussatz. Kennt ihr den schon. Eine der beiden nickt. Ich hake noch einmal nach, ob sie denn in einem beliebigen Dreieck mit drei Angaben entweder über winkel oder Seitenlänge die restlichen Seiten und Winkel berechnen kann, und sie nickt, ja, das haben wir erst kürzlich in der Schule gehabt. Also wahrscheinlich zehnte Klasse.

Ich lasse das Thema Mathematik und prahle, was ein Glück, das ich keinen Helm aufhatte sage ich. Mit Helm wäre das Ganze vielleicht nicht so gut verlaufen, weil ich ja ganz nah mit der Seite des Kopfes am Asphalt war, und wenn da eine Helmkante gewesen wäre, so hätte es dotz dotz dotz gemacht.

Naja, daß eigentlich das Freihändigfahren die wahre Ursache für den glimpflichen Sturz war, da ich so, ganz frei nach hinten wegfiel ohne mich mit dem Rad zu verwurschteln, hielt ich dann doch etwas zu kompliziert für das momentane Verständnis der Halbwüchsigen. Obwohl. Mir wurde das erst ein wenig später klar, das das vermeintliche Risiko des Freihändig Radelns bei Sattelbruch zu glimpflicheren Ergebnissen führen kann. Nachdem ich das einmal etwas durchdacht hatte.

Der Krankenwagen kam. Ich bat die Mädchen dann noch, das dort stehende Rad mitsamt dem abgebrochenen Sattel die paar hundert Meter zurück im Hof der Feuerwehr abzustellen, was sie versprachen zu tun und bedankte mich noch einmal bei ihnen.

Ich finde, mit steht vom Hersteller dieses Fahrradsattels ein Schmerzensgeld zu.
Auch wenn ich ohne Helm und freihändig gefahren bin.

Das Rad habe ich gebraucht für 80 Euro gekauft.
Es war in Erstbesitz, war fünfzehn Jahre alt, ein Garagenrad eines Autobesitzers, wenig gefahren, eigentlich eine teure Marke, die mir nun auch nicht präsent ist.

Die Bruchstelle des fast massiven Alugusskerns der den Sattel mit der Federung und dem Rahmen verbindet ist ziemlich glatt und sieht auch ganz unkorrodiert aus. Wie ein scharfer glatter Bruch eines miesen Materials.

Solche Verbindungen dürften nur aus Stahl gefertigt sein. Wahrscheinlich sitzen die Helmhersteller mit den miesen Materialherstellern an einem Tisch. Einem Fahrrad von früher, dem wäre niemals einfach so ein Sattel abgebrochen. Was ein Riesenglück, daß ich die Hände nicht am Lenker hatte. Bei zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Stundenkilometern gemeinsam mit dem Rad hinfallen, da hätte ich mir mit viel größerer Wahrscheinlichkeit wirklich den Kopf angestoßen. So aber, im freien Fall sozusagen, hat mein limbosches System übernommen und alle meine Bewegungen gesteuert. rechter Ellbogen, rechter Oberschenkel, Brust, linkes Schienbein
linker Ellbogen, und dann erst, ganz zum Schluß, zur Restbremsung des Körpers, erst die linke Backe und das Anschmiegen der Braue und des Lids auf den Boden. So lag ich fünf Sekunden, etwas benommen. Das war meine einzige Benommenheitsphase. Herr Berichteschreiben. Passen Sie in Zukunft auf, mit wem Sie sich anlegen mit ihren Lügengeschichten, nur weil Ihnen das versicherungstechnisch opportun erscheint. Ich war danach in keiner einzigen Sekunde mehr benommen. Aber ich erlebe in der Rückschau ständig diesen fast perfekt zu nennenden Sturz.

Ich hab mich heute sogar an die hintere Bahnhofshalle getraut, obwohl zwei Kifferjungens darin waren, gefährlich wie ich aussah. Und der eine Negerbube kam sogar kurz raus und hat so ein ähnliches Wort wie Hallo zu mir gesagt, das ich erwiederte. Klar, ich hab die beiden leeren Flaschen von denen mitgenommen, meine alte Tarnung, und unauffällig nach Kippen gelugt. Aber es waren keine da.

Jetzt erst, so scheint mir, tut mein Körper, insgesamt etwas weh, überall.

Entlassen wurde ich mit einem dick angeschwollenen stark mit Reparaturkleber verklebten Auge und fünf Gramm einer winzigen Tube Augensalbe, die ich dreimal auftagen solle. Und dreimal täglich zehn Minuten solle ich etwas Kühles auflegen.


Ach, lasst mich doch alle. Ich will jetzt wieder eine rauchen. Das tut meinem Auge und dem Heilungsprozess bestimmt nicht gut. Aber irgendwie
brauch ich das grad mal. Wenn schon kein Mensch hier bei mir ist in meinen »schweren« Stunden. Die Alten, Achzigjährigen sagen zu meinem Zustand, Makulatur, nachdem sie mich betrachtet haben.

Dem Feuerwehrhauptmann habe ich nun gebeichtet, das ich zusätzlich zum ohne Helmfahren auch noch freihändig unterwegs war, und er, der erfahrene Techniker, war durchaus auch der Meinung, das gerade, das freihändige nach hinten wegfallen, vielleicht zu einen besseren Sturz geführt hat, als wenn ich die Hände am Lenkrad gehabt hätte.

Ich würde diesen Fall gerne vor das Bundes-TÜV-Gericht bringen, vor allem um die Freihändig Radler zu rehabilitieren.

Ich fahre seit Jahrzehnten freihändig Rad, auch holprige Strecken wie das sehr holprige Plaster des Rheinverbindungswegs von Walluf nach Schierstein entlang des Wasserwerks, treffe vorgegebene Punkte auf der Straße genau, wie kleine Kanaldeckel
und nehme, wenn mir auf der Straße Autos entgegenkommen mehr zu deren Rücksicht als zu meiner eigenen die Hände bzw. eine Hand an den Lenker.

Bitte fühlen Sie sich alle ermuntert, hier beizutragen, wenn auch Sie der Ansicht sind, das gerade diese besondere Art des Umfallens, ohne Hände am Lenker, bei plötzlichen Sattelbruch, zu einem glimpflicheren Sturz führen kann, bei funktionierendem Kleinhirn.

Natürlich können Sie auch eine gegenteilige Meinung kundtun mit Begründung.
Die sehe ich allerdings weniger. Mit den Händen am Lenker mit dem Rad übereinanderpurzeln dürfte die überlebenswichtigen freien Fallreflexe nämlich zum Teil beeinträchtigen oder außer Kraft setzen.

Einer der Physik als Nebenfach hatte.