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wuming schrieb am 2.5. 2010 um 19:21:10 Uhr über

Integral

Ist Ken Wilber unzeitgemäß und totalitär?
ken wilber integrale theorie
Ken Wilber ist mal wieder in der Diskussion; und schon wird das Argument, sein Ansatz sei »nicht zeitgemäß und totalitär« wieder aus der Mottenkiste geholt, und sei es nur, um sich einen kritischen Mantel umzuhängen, vgl. Publikforum Nr. 13 vom 10.7.2009. Ehrlich gesagt, dass Ken Wilber »totalitär« sein könnte, ist das letzte, was mir zu seinem Ansatz eingefallen wäre. Eher schon: kompliziert, so umfassend, dass er schwer verständlich wird. Ich meine, dass Wilbers Ansatz zu höchster Freiheit und Fülle führen kann, denn er zielt auf eine umfassende Befreiung von Entfremdung und Gespaltenheit ab. Aber nachdem man Goethe einst einmal als den letzten Universalgelehrten bezeichnet hat, darf es heutzutage offenbar nicht mehr sein, dass sich jemand an einer Gesamtschau versucht.

Vor einiger Zeit schon warf man Wilber Fehler bei der Darstellung der Entwicklung der Arten vor. Es ging um die Frage, ob bzw. wie sich Flügel aus den Vorderbeinen der Tiere entwickelt haben. Die Kritiker überlasen im Buch »Eine kurze Geschichte des Kosmos« ganz offensichtlich den Satz, in dem Wilber erklärt, dass bis heute niemand weiß, wie die Flügel entstanden sein könnten. Oder der eine oder andere Wissenschaftler meinte, dass er selbst es aber doch ganz genau wisse.

Ich halte es auch für falsch, diesen Denker, der sich mit nahezu allen Wissenschaften auseinandersetzt, von der Philosophie über die Soziologie, Psychologie, Ökonomie, Biologie, Ökologie, Medizin, Religion, Kunst, Kultur usw. , in eine Ecke mit esoterischen Spinnern zu stellen. Das eröffnet Nebenkriegsschauplätze, die vom Eigentlichen ablenken; und das, was ich meine, davon verstanden zu haben, möchte ich hier gern darstellen, und zwar anhand des 2009 auf deutsch bei Kösel erschienen Buches »Integrale Vision«. Denn die 888 Seiten seines 2001 bei Fischer erschienenen Hauptwerks »Eros, Kosmos, Logos« habe ich nicht gestemmt:

Im Buch »Integrale Vision« (Originaltitel »The Integral Vision. A Very Short Introduction to the Revolutionary Integral Approach to Life, God, the Universe, and Everything«) hat sich Ken Wilber nichts Geringeres vorgenommen, als uns eine »umfassende Landkarte« von uns selbst und der Welt, in der wir leben, zu geben, damit wir im 21. Jahrhundert navigieren können. Auch wenn man diesem Unterfangen skeptisch gegenüber steht, lohnt es sich, sich mit diesem Buch auseinander zu setzen. Dessen graphische Gestaltung lockert den nicht immer leicht verdaulichen Text auf und kann helfen, sich dem Thema anzunähern. Doch manch einer wird sich auch darüber ärgern, speziell über die gedruckten Computer-Animationen und den Jargon: »Was ist ein IBS? IBS bedeutet einach 'Integrales Betriebssystem'.« Damit nicht genug, nach weiteren knapp 50 Seiten wird diese Abkürzung durch eine andere, nämlich AQUAL (ausgesprochen (ah-quell) ersetzt bzw. synonym verwendet. Ich finde, dass Abkürzungen das Lesen unnötig erschweren - und sie nerven. Dann springt Ken Wilber von der Computermetaphorik unvermittelt rüber in andere Bilder. Er ordnet den - wie er das nennt - »Ich«-, »Wir«- und »Es«-Dimensionen »Kunst, Moral und Wissenschaft« zu, außerdem »Selbst, Kultur und Natur« und dann auch noch »das Schöne, das Gute und das Wahre«. Zunächst verwirrt das. Wer sich aber davon nicht abschrecken lässt, kann Gewinn aus der Lektüre ziehen:

Schon allein wegen des Hinweises darauf, dass Bewusstseinszustände etwas anderes sind als Entwicklungsstufen oder -ebenen, lohnt sich die Lektüre. Ken Wilber führt aus, dass jeder grundlegende Bewusstseinszustände kennt: Wachen, Träumen und Tiefschlaf. Außerdem gibt es noch viele verschiedene Bewusstseinszustände, unter anderem meditative Zustände, ausgelöst durch Yoga, kontemplatives Gebet oder Meditation zum Beispiel; veränderte Zustände, bewirkt durch Rauschmittel; Gipfelerfahrungen, die beispielsweise durch intensive Erlebnisse wie das Liebesspiel, Wanderungen in der Natur oder schöne Musik ausgelöst werden. »Das Interessante an Bewusstseinszuständen ist: Sie kommen und gehen. Selbst großartige Gipfelerlebnisse oder veränderte Bewusstseinszustände, ganz gleich, wie tief sie gehen, stellen sich ein, dauern eine Weile und verschwinden wieder«, schreibt Ken Wilber. Dagegen sind »Bewusstseinsstufen« dauerhaft: »Stufen stellen die tatsächlichen Meilensteine von Wachstum und Entwicklung darWenn ein Kind beispielsweise die sprachlichen Entwicklungsstufen durchlaufen hat, steht ihm die Sprache permanent zur Verfügung. Das Gleiche gilt für andere Typen: »Haben Sie eine Wachstums- oder Entwicklungsstufe erst einmal stabil erreicht, steht Ihnen das konkrete Potenzial dieser Stufe - wie ein größeres Bewusstsein, umfassendere Liebe, Berufungen, die auf höheren ethischen Wertmaßstäben gründen, größere Intelligenz und Achtsamkeit - praktisch jederzeit zur VerfügungSie sind zu »dauerhaften Wesenszügen« geworden.

Wie viele Entwicklungsstufen gibt es? Nun, es kommt darauf an, in wieviele Stücke man die Torte schneiden will. Ein Beispiel, auf das sich Wilber bezieht, ist die fünfstufige Einteilung des Anthropologen Jean Gebser: archaisch, mythisch, rational und intergral. Und zum besseren Verständnis stellt er noch eine Skala mit zur drei Stufen vor: »Die moralische Entwicklung verläuft im Allgemeinen vom 'Ich' (egozentrisch) zum 'Wir' (ethnozentrisch) zum 'Wir alle' (weltzentrisch) - ein gutes Beispiel für die Entwicklungsstufen des Bewusstseins. « Man könne sie auch als »Körper«, »Verstand« und »Geist« darstellen.

Während 75 % der Bevölkerung von »spirituellen Erlebnissen mit 'veränderten Bewusstseinszuständen'« berichten, die tatsächlich auf jeder Stufe der Entwicklung möglich sind, zeigten Untersuchungen »immer wieder, dass sich etwa 70 % der Weltbevölkerung auf der ethnozentrischen Ebene oder niedrigen Ebenen der Entwicklung befinden. Das heißt, auf oder unter mythisch, Konformist«, berichtet er und führt weiter aus: »Anders gesagt, etwa 70 % der Weltbevölkerung sind von ihrer spirituellen Orientierung her Fundamentalisten (oder niedriger). Etwa 30 % befinden sich auf dem zweiten Bogen und weniger als 1 % sind stabil auf den transpersonalen Stufen verankert. Aber diese transpersonalen Stufen existieren. Es gibt sie und sie sind für jeden zugänglichEin möglicher Weg dorthin sind Ken Wilbers Übungen zur »Integralen Lebenspraxis«, mit denen könne man sich Stufe für Stufe hocharbeiten.

Daher ist für mich auch seine folgende Frage zentral: »Ist Ihnen jemals aufgefallen, wie ungleich entwickelt jeder von uns in verschiedenen Bereichen praktisch istUnd dann nennt er Beispiele: Bei manchen Menschen ist das logische Denken stark entwickelt, ihre Gefühlswelt hingegen kaum. Bei anderen ist die kognitive Entwicklung weit fortgeschritten (sie sind äußerst klug), aber ihre moralische Entwicklung ist dürftig (sie sind gemein und skrupellos). Manche Menschen haben eine hervorragende emotionale Intelligenz, können aber nicht zwei und zwei zusammenzählen.

Es geht Ken Wilber also darum, dass jeder sich und seine Umwelt besser verstehen lernt, sich beispielsweise seiner eigenen »multiplen Intelligenzen« bewusst wird und auch deren »Linien« kennenlernt. Beispielhaft nennt er kognitive, zwischenmenschliche, moralische, emotionale und ästhetische, und erklärt, dass sie alle Wachstum und Entwicklung zeigen, sich also in fortlaufenden Stufen entfalten. Das gleiche gilt für die »Typen« männlich/weiblich, den Körper, das Bewusstsein, was er unter anderem an der Entwicklung des Gehirns erklärt: vom Reptilien-Gehirnstamm zum komplexeren Säugetiergehirn oder limbischen System zu noch komplexeren physischen Strukturen wie dem dreieinigen Gehirn mit seinem Neokortex. Doch: »Es ist eine Sache, all die Versatzstücke dieser kulturübergreifenden Studie einfach auf den Tisch zu legen und zu sagen: 'Sie sind alle wichtig', und eine ganz andere, die Muster ausfindig zu machen, die diese Stücke tatsächlich miteinander verbinden«, erklärt er. Die Entdeckung solch tiefgreifender »verbindender Muster« ist eine der Hauptleistungen seines »Integralen Ansatzes«.

Die »Integrale Theorie« könnte tatsächlich die »erste wirklich umfassende Weltphilosophie« sein, was Ken Wilber behauptet. Daraus möchte ich hier seine »vier Quadranten der Integralen Medizin« stichwortartig erwähnen. Ich vermute, dass ein Land damit zu einer gesünderen Bevölkerung käme und vielleicht auch die Krankenkassen sanieren könnte. Zur »Integralen Medizin« gehören folgende vier Quadranten:

1. Alternative Behandlungsmethoden (dem »Ich« zugeordnet) : Emotionen, Einstellungen, Innere Bilder, Visualisierung

2. Orthodoxe Medizin (dem »Es« zugeordnet): Chirurgie, Betäubungsmittel, medikamentöse Behandlung, Verhaltensmodifikation

3. Kulturelle Sichtweisen (dem »Wir« zugeordnet): Gruppenwerte, kulturelle Werturteile, Bedeutung einer Krankheit, Selbsthilfegruppen

4. Soziales System (dem »Sie« zugeordnet): ökonomische Faktoren, Versicherungssystem, Versicherungspolicen, soziale Versorgung

Zu den Anwendungsgebieten der »Integralen Theorie« gehören neben dem eigenen Selbst u.a. auch die »Integrale Wirtschaft«, die »Integrale Ökologie« und »sozial engagierte Spiritualität oder Beziehungen als spirirueller Weg«. Außerdem wagt sich Wilber an folgende Fragen: Warum ist Religion in dieser Welt eine solch komplexe, verwirrende Kraft, die die Geister spaltet? Wie kann etwas, das auf der einen Seite so viel Liebe und Leben lehrt, auf der anderen Ursache für so viel Tod und Zerstörung sein? Und da er sich Spiritualität genau anschaut, alle grundlegenden Elemente wie Quadranten, Stufen/Ebenen, Linien, Zustände und Typen, findet er verblüffent einfache und verständliche Antworten.

Zunächst einmal habe ich seinen Hinweis darauf, dass es mindestens zwei ganz unterschiedliche Typen von Hierarchien gibt, gern gelesen. Das sind

1. Unterdrückungs- oder Herrschaftshierarchien, die Rangsysteme sind, die Menschen beherrschen, ausbeuten und unterdrücken. Die bekanntesten sind Kastensysteme in Ost und West. D.h. jede Hierarchie, die das individuelle oder kollektive Wachstum untergräbt, ist eine Herrschaftshierarchie.

2. Verwirklichungshierarchien dagegen sind Mittel des Wachstums selbst. Die allgemeinste ist die Entfaltung von Atomen zu Molekülen zu Zellen zu Organismen. Bei Menschen verlaufen sie im klassischen Fall von egozentrisch zu ethnozentrisch zu weltzentrisch zu kosmozentrisch (abgeleitet vom griechischen Wort »Kosmos«, was das gesamte Universum von Materie, Körper, Verstand und Geist bedeutet - nicht nur seine jämmerliche, ganz unten angesiedelte Ebene von Materie, wie Ken Wilber betont). Wachstumshierarchien sind immer ineinander gebettet, jede höhere Ebene bezieht die vorangehende Ebene mit ein.

Herrschaftshierarchien bewirken also Unterdrückung - Wachstumshierarchien beenden sie.

Ken Wilber befasst sich auch mit der Frage: »Wo ist höchste RealitätUnd er antwortet mit vier Quadranten, die immer dann ins Spiel kämen, sobald die verschiedenen Theoretiker zu erklären versuchen, was sie für die »wirklich wirkliche« Beschaffenheit der Welt halten:

1. Extremer Idealismus (dem »Ich« zugeordnet): »Geist ist Realität«

2. Extreme Wissenschaftlichkeit (dem »Es« zugeordnet): »Materie ist Realität«

3. Extremer Postmodernismus (dem »Wir« zugeordnet): »Kulturell konstruierte Bedeutung ist Realität«

4. Extreme Systemtheorie (dem »Sie« zugeordnet): »Das Netz des Lebens ist Realität«

Danach fragt Ken Wilber: »Wo ist Ihrer Wahrnehmung nach höchste Realität? Nicht nur, welche Ebene ist Ihr Gott, sondern welcher Quadrant ist Ihr GottNatürlich ödet ihn dieser »Quadrantenabsolutismus« an, denn: »Keiner ist realer oder primärer als der andere«, und deswegen arbeitet er unermüdlich daran, sie alle zusammenzubringen.



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