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wuming schrieb am 10.3. 2003 um 05:09:27 Uhr über

Roth

laufumgebung : rot

Max Glauner

Korrigieren und festhalten











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VOM TRÄNENSEE ZU TRÄNENMEERENEin
umfangreiches Künstlerbuch versammelt die Interviews
des 1998 verstorbenen Dieter Roth

Der Leser des Reklameblatts Luzerner Stadtanzeiger konnte bei
seiner aufmerksamen Morgenlektüre auf einen der Sätze wie
diesen stoßen: "Der Bewohner des Wissens ist ein
Wurstendbinder"

Ja, der Blumenbinder, die Entbindung, das Wurstende; - alles
schon mal gehört, darunter lässt sich etwas vorstellen. Aber - so
mochte der Leser sich weiter fragen - was ist ein
Wurstendbinder? Und ein Bewohner des Wissens, von wem und
wie sollte sich das Wissen bewohnen lassen, zumal von einem
Wurstendbinder?

Das Wort, vielleicht nur dem Reim geschuldet, war in die Welt
gesetzt und rief eine beunruhigende zweite Welt hervor: Wäre
etwa der Wurstendbinder durch akademische Grade geadelt im
Wissen heimisch? Entbindet am Ende das Wissen die Wurst?
Geht es hier um die Wurst, das heißt ums Ganze?

Seit dem Frühjahr 1971 hatte der damals nur wenigen als
Quergeist der Kunstszene bekannte Dieter Roth unter dem Kürzel
D. R. Sentenzen und Aussprüche zwischen Heirats- und
Haushaltsannoncen aufgegeben - bis diese Intervention in die
heile Ordnung kleinbürgerlicher Existenzen aufgrund von
Leserprotesten eingestellt werden musste.

Unter dem Titel Tränensee band Dieter Roth zwei Jahre später
die Zeitungen in 150 Exemplaren zusammen; heute betrachtet,
ein anrührendes Archiv zur Alltagsgeschichte. Der künstlerische
Eingriff der Sentenzen ragt darin wie Inseln aus den Annoncen,
deren Sinn längst abhanden kam. Roth verschaffte damit seinen
Aussprüchen einen neuen Bezug und damit eine eigene Realität:
In fünf bis 1978 folgenden, nun als Tränenmeer betitelten Bänden,
erscheinen die Sätze durch Zeichnungen und neue Texte Roths
emblematisch ergänzt, wodurch von Buch zu Buch ein gänzlich
neuer Vorstellungsraum entstand.

Transformationen sind bezeichnend für das oft über Jahre
währende künstlerische Verfahren Roths, das Abgelegtes oder
Gefundenes wieder aufnahm, um es in neue Kontexte zu stellen.
Materialien, Gegenstände, Sätze, Texte und Bilder konstituieren
neue Bedeutungen. Dieter Roth schuf als Bildender Künstler,
Zeichner, Musiker und Dichter Arbeiten, die die Bodenlosigkeit
der Welt der Dinge sichtbar werden lassen. Indem sie das
Ephemere dem Vergessen entreißen, steht ihnen jedoch stets ein
memento mori eingeschrieben.

Als Grenzgänger der sensiblen, verwundbaren und darum oft
rabiaten und kompromisslos schroffen Art, jedoch weit davon
entfernt, nur der »agent provokateur« und Zertrümmerer einer
modernistischen Kunstauffassung zu sein, lässt er sich nun in dem
von Barbara Wien herausgegebenen Band, mit Gesammelten
Interviews entdecken. Das Buch trägt 36 Gespräche des 1930 in
Hannover geborenen Deutschschweizers aus drei Jahrzehnten
zusammen. Das Projekt, in dem er sich wie durch seine zu
Beginn der 80er Jahre begonnenen Tagebücher vom Druck der
manisch besessenen Arbeit zu entlasten suchte, geht bereits auf
das Jahr 1978 zurück.

Im Gegensatz zu den Interviews Serge Stauffers mit Marcel
Duchamp und den Gesprächen David Sylversters mit Francis
Bacon sieht Roth das unmittelbare Gespräch als eine
eigenständige künstlerische Form. Unmissverständlich teilte er
bereits 1973 dem Direktor der BBC in London mit: "Now I think of
this talk as a work of art an would be sad to see it partly
destroyed."

Die zwischen 1984 und 1985 in elf Folgen in der Kunstzeitschrift
Tell erschienenen Fortsetzungsinterviews mit Dieter Schwarz
werden daher von Barbara Wien wie die mit Fotos oder
Marginalien versehenen schriftlichen Frage-Antworttexte
faksimiliert wiederveröffentlicht. Roth bestand darauf, dass die
Interviews wörtlich, ungefiltert ohne redaktionellen Eingriff in der
Sprache der geführten Interviews deutsch, englisch, und
schweizerdeutsch transkribiert würden.

So wird auch in den Interviews das Flüchtige festgehalten und
entdeckt: Eine Kellnerin nimmt die Bestellung auf, die Tücken des
Tonbandgeräts führen zu produktiven Missverständnissen, ein
Telefonanruf unterbricht das Interview und ein Alltagsgespräch
bekommt die Qualität konkreter Poesie:

"Hallo. Hallo, Doro. Ja, so. So, so. Und dir? Ja. Also heute Nacht,
meine ich. Ja, ja. Und dir? Ja. Ja. Ja. Das musst du regelmäßig
nehmen. Ja. Ich bin gerade mit Dieter Schwarz, er sitzt mir
gegenüber, und wir machen dieses, sozusagen, Erlösungs- und
Abschiedsinterview. Ach, das macht doch nichts."


Nichts war ihm mehr zuwider als Anpasser. Die Versuche Roths
in Düsseldorf Studenten, die eigenen Fähigkeiten durch einen
»unterricht als nicht-unterricht« in akademienahen
Gastwirtschaften zu fördern, wurde mit dem Hinauswurf quittiert,
mit dem zugleich die produktiv zugemüllten, oft nach
vergammelten Lebensmitteln riechenden Ateliers des Dozenten
vom Hausmeister geräumt wurden. Viele der rothschen Werke
wurden dabei zerstört.

Daily Mirror, später Bücher von Andersch, Grass und Böll. Die
Suhrkampausgabe von Hegels Werken sollte am Ende folgen.

Immer wieder erschließen sich bei der Lektüre Zusammenhänge,
verwebt sich Biografie und Werk, doch Antworten, die sich
einfach in gängige literaturwissenschaftliche oder
kunsthistorische Diskurse fügen, gibt Roth nicht. Lag der Antrieb
zu den Literaturwürsten vielleicht doch darin dem älteren Bruder
auf dessen Feld eine auszuwischen? Roths Bruder war Metzger.

Roth polemisiert vehement nicht nur gegen das auratisierte
singuläre Werk, sondern auch gegen die Ideologie des Künstler
als autonomen Schöpfer. Kooperativ mit Arnulf Rainer und Robert
Filliou oder Dorothy Iannone entstandene Arbeiten, Filme,
Musikplatten, Videos, Übermalungen, das gemeinsam
Produzierte sollte die Idee einer »Handschrift« des einzelnen
Künstlers unterlaufen. Für Roth war der Kollege wie der Rezipient
nicht nur Partner, sein Material war nicht bloßes »Gegenüber«,
sondern er sah sie gleichberechtigt als potentielle Verbündete.

Roth arbeitete daher seit Beginn auch mit Materialien wie
Schokolade und Lebensmitteln, um ihnen durch ihre Verarbeitung
in Objekten und Bildern ein Eigenleben zu verleihen, das dem
Künstler wie dem Konservator entzogen bleibt. Wenn Roth alles,
was ihm in Form von Papier in die Hände kommt, als "Flachen
Abfall" in Folien und Aktenordnern nach Tagen sortiert, archiviert,
besteht seine Arbeit wesentlich darin dem Eigenständigen des
Alltäglichen, Zufälligen nachzugehen, das jedoch nur um den Preis
seines Verfalls und Untergangs zu haben ist. Aus der Einsicht der
Beschränktheit des eigenen Lebens wehrt sich Roth in den
Interviews immer wieder gegen die auftrumpfend diktatorische
Geste derjenigen Künstler, die das Material bezwingen und sich
über das Alltägliche erheben wollen.

Dagegen setzt er das Transitorische der menschlichen
Ausdrucksformen, ihre Übergänge wie in seinem 1965
entstandenen Buch Mundunculum und später in den
Tränenmeeren erprobt wurden. Dazu äußert er sich gegenüber
einer Interviewpartnerin: "Das habe ich einmal geträumt. Es ging
um den Zusammenhang von Wort und Bild. Man sieht ein Bild und
findet dafür ein Wort, sagen wir einen Namen. Die Bilder, die man
sich vorstellt, sind aber dauernd sich verändernde, fließende
Sachen. Mit den Worten ist es ähnlich. Man hat ein Wort für das
Bild gefunden, so hat man gleich das Bedürfnis, es zu verändern,
ein anderes dazuzusetzen, um deutlich zu machen, was man
meint. Dieser ähnliche oder veränderte Name ruft dann wieder ein
anderes Bild hervor. Bild und Name, beide fließen."

Roth zeigt, dass Worte, Bilder, Materialien und Gegenstände, die
er in seinen Schimmelbildern kontrolliert Verwesungsprozessen
aussetzte, ein Eigenleben führen, wenn sie ihrer Funktion des
Darstellens und Bedeutens entbunden werden. In einem der
letzten Interviews mit Patrick Frey spricht Roth das ambivalente
Verhältnis von Leben und Tod in seinen Arbeiten in Bezug auf die
auch während der letzten documenta11 wieder ausgestellten
monumentalen Arbeit Die Große Tischruine an: "Das ist das
Grundprinzip: festhalten. Korrigieren und festhalten."

Doch bereits vor 1998 hatte sich die Arbeit, die 1979 mit einem
Zufallsfund im Stuttgarter Atelier begann - ein umgekippter
Farbkübel hatte auf dem Arbeitstisch sämtliche Gegenstände,
darunter einen Kassettenrekorder fixiert - dem Künstler entzogen.
Roth antwortet selbstkritisch, auf die Frage, ob sie
abgeschlossen sei: "Es tut so, als ob es was wäre. Als ob es
irgendwie eine Vitalität hätte, oder so was." Und er fährt fort, als
redete er auch über sich selbst: "Es ist auch eine Art von
Untergang. Aber meinen Ehrgeiz kann ich damit nicht befriedigen.
Weil die Leute sehen nämlich nicht, dass das noch ruinenhafter
ist, als dass es kaputt ist."

Betrat man den Installationsraum der Großen Tischruine, glaubte
man sich zuerst in die Relikte einer chaotisch-heiteren
Künstlerexistenz versetzt, der auf Tischen verstreut und auf
Stühlen gestapelt weder Farbe, Kameras noch Bier ermangelt.
Die Erfahrung, dass diesem Leben die Einsicht in den Abgrund
notwendig beigegeben ist, lohnt die Vertiefung in dieses
außerordentliche Werk.

Dieter Roth: Gesammelte Interviews. Interviews in der Sprache, in der sie
geführt wurden. Hrsg. und mit einem Nachwort von Barbara Wien. Text von
Thomas Schmit. Edition Hansjörg Mayer, London 2002; Verlag der
Buchhandlung Walter König, Köln 2002, 648 S., 39 EUR Das von den
Architekten Herzog & de Meuron errichtete »Schaulager« der Emanuel
Hoffmann- und Laurenz-Stiftung eröffnet im Mai 2003 in Basel mit Roth-Zeit.
Eine Dieter Roth Retrospektive.

www.dieter-roth-museum.de


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