ANSPRACHE ZUM SCHULBEGINN
Liebe Kinder,
da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe sortiert,
zum erstenmal auf diesen harten Bänken, und hoffentlich
liegt es nur an der Jahreszeit, wenn ihr mich an braune
und blonde, zum Dörren aufgefädelte Steinpilze erinnert.
Statt an Glückspilze, wie sich's eigentlich gehörte. Man-
che von euch rutschen unruhig hin und her, als säßen sie
auf Herdplatten. Andre hocken wie angeleimt auf ihren
Plätzen. Einige kichern blöde, und der Rotkopf in der drit-
ten Reihe starrt, Gänsehaut im Blick, auf die schwarze
Wandtafel, als sähe er in eine sehr düstere Zukunft.
Euch ist bänglich zumute, und man kann nicht sagen, daß
euer Instinkt tröge. Eure Stunde X hat geschlagen. Die
Familie gibt euch zögernd her und weiht euch dem Staate.
Das Leben nach der Uhr beginnt, und es wird erst mit dem
Leben selber aufhören. Das aus Ziffern und Paragraphen,
Rangordnung und Stundenplan eng und enger sich spin-
nende Netz umgarnt nun auch euch. Seit ihr hiersitzt, ge-
hört ihr zu einer bestimmten Klasse. Noch dazu zur unter-
sten. Der Klassenkampf und die Jahre der Prüfungen ste-
hen bevor. Früchtchen seid ihr, und Spalierobst müßt ihr
werden! Aufgeweckt wart ihr bis heute, und einwecken
wird man euch ab morgen! So, wie man's mit uns getan
hat. Vom Baum des Lebens in die Konservenfabrik der
Zivilisation - das ist der Weg, der vor euch liegt. Kein
Wunder, daß eure Verlegenheit größer ist als eure Neu-
gierde.
Hat es den geringsten Sinn, euch auf einen solchen Weg
Ratschläge mitzugeben? Ratschläge noch dazu von einem
Manne, der, da half kein Sträuben, genauso »nach Büch-
se« schmeckt wie andre Leute auch? Laßt es ihn immerhin
versuchen, und haltet ihm zugute, daß er nie vergessen
hat, noch je vergessen wird, wie eigen ihm zumute war,
als er selber zum erstenmal in der Schule saß. In jenem
grauen, viel zu groß geratenen Ankersteinbaukasten. Und
wie es ihm damals das Herz abdrückte. Damit wären wir
schon beim wichtigsten Rat angelangt, den ihr euch ein-
prägen und einhämmern solltet wie den Spruch einer ur-
alten Gedenktafel:
Laßt euch die Kindheit nicht austreiben! Schaut, die meisten
Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie
vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr
gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die
sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist,
existiert nicht mehr. Man nötigt euch in der Schule eifrig
von der Unter- über die Mittel- zur Oberstufe. Wenn ihr
schließlich drobensteht und balanciert, sägt man die
»überflüssig« gewordenen Stufen hinter euch ab, und nun
könnt ihr nicht mehr zurück! Aber müßte man nicht in sei-
nem Leben wie in einem Hause treppauf und treppab ge-
hen können? Was soll die schönste erste Etage ohne den
Keller mit den duftenden Obstborden und ohne das Erd-
geschoß mit der knarrenden Haustür und der scheppern-
den Klingel? Nun - die meisten leben so! Sie stehen auf der
obersten Stufe, ohne Treppe und ohne Haus, und machen
sich wichtig. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie
Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen
wird und Kind bleibt, ist ein Mensch! Wer weiß, ob ihr
mich verstanden habt. Die einfachen Dinge sind so schwer
begreiflich zu machen! Also gut, nehmen wir etwas
Schwierigeres, womöglich begreift es sich leichter. Zum
Beispiel:
Haltet das Katheder weder für einen Thron noch für eine Kamel!
Der Lehrer sitzt nicht etwa deshalb höher, damit ihr ihn
anbetet, sondern damit ihr einander besser sehen könnt.
Der Lehrer ist kein Schulwebel und kein lieber Gott. Er
weiß nicht alles, und er kann nicht alles wissen. Wenn er
trotzdem allwissend tut, so seht es ihm nach, aber glaubt
es ihm nicht! Gibt er hingegen zu, daß er nicht alles weiß,
dann liebt ihn! Denn dann verdient er eure Liebe. Und da
er im übrigen nicht eben viel verdient, wird er sich über
eure Zuneigung von Herzen freuen. Und noch eins: Der
Lehrer ist kein Zauberkünstler, sondern ein Gärtner. Er
kann und wird euch hegen und pflegen. Wachsen müßt
ihr selber!
Nehmt auf diejenigen Rücksicht, dieaufeuch Rücksicht nehmen!
Das klingt selbstverständlicher, als es ist. Und zuweilen ist
es furchtbar schwer. In meine Klasse ging ein Junge, des-
sen Vater ein Fischgeschäft hatte. Der arme Kerl, Breuer
hieß er, stank so sehr nach Fisch, daß uns anderen schon
übel wurde, wenn er um die Ecke bog. Der Fischgeruch
hing in seinen Haaren und Kleidern, da half kein Waschen
und Bürsten. Alles rückte von ihm weg. Es war nicht seine
Schuld. Aber er saß, gehänselt und gemieden, ganz für
sich allein, als habe er die Beulenpest. Er schämte sich in
Grund und Boden, doch auch das half nichts. Noch heute,
fünfundvierzig Jahre danach, wird mir flau, wenn ich den
Namen Breuer höre. So schwer ist es manchmal, Rück-
sicht zu nehmen. Und es gelingt nicht immer. Doch man
muß es stets von neuem versuchen.
Seid nicht zu fieißig! Bei diesem Ratschlag müssen die Fau-
len weghören. Er gilt nur für die Fleißigen, aber für sie ist
er sehr wichtig. Das Leben besteht nicht nur aus Schular-
beiten. Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln.
Ich spreche aus Erfahrung. Ich war als kiemer Junge auf
dem besten Wege, ein Ochse zu werden. Daß ich's, trotz
aller Bemühung, nicht geworden bin, wundert mich heute
noch. Der Kopf ist nicht der einzige Körperteil. Wer das
Gegenteil behauptet, lügt. Und wer die Lüge glaubt, wirda^
nachdem er alle Prüfungen mit Hochglanz bestanden hat,
nicht sehr schön aussehen. Man muß nämlich auch sprin-
gen, turnen, tanzen und singen können, sonst ist man,
mit seinem Wasserkopf voller Wissen, ein Krüppel und
nichts weiter.
Lacht die Dummen nicht aus! Sie sind nicht aus freien StÜk-
ken dumm und auch nicht zu eurem Vergnügen. Und
prügelt keinen, der kleiner und schwächer ist als ihr! Wem
das ohne nähere Erklärung nicht einleuchtet, mit dem
möchte ich nichts zu tun haben. Nur ein wenig warnen
will ich ihn. Niemand ist so gescheit oder so stark, daß es
nicht noch Gescheitere und Stärkere als ihn gäbe. Er mag
sich hüten. Auch er ist, vergleichsweise, schwach und ein
rechter Dummkopf.
Mißtraut gelegentlich euren Schulbüchern! Sie sind nicht auf
dem Berge Sinai entstanden, meistens nicht einmal auf
verständige Art und Weise, sondern aus alten Schulbü-
chern, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die
aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten
Schulbüchern entstanden sind. Man nennt das Tradition.
Aber es ist ganz etwas anderes. Der Krieg zum Beispiel
findet heutzutage nicht mehr wie in Lesebuchgeschichten
statt, nicht mehr mit geschwungener Plempe und auch
nicht mehr mit blitzendem Küraß und wehendem Feder-
busch wie bei Gravelotte und Mars-la-Tour. In manchen
Lesebüchern hat sich das noch nicht herumgesprochen.
Glaubt auch den Geschichten nicht, worin der Mensch in
einem fort gut ist und der wackre Held vierundzwanzig
Stunden am Tage tapfer! Glaubt und lernt das, bitte, nicht,
sonst werdet ihr euch, wenn ihr später ins Leben hinein-
tretet, außerordentlich wundem! Und noch eins: Die Zin-
seszinsrechnung braucht ihr auch nicht mehr zu lernen,
obwohl sie noch auf dem Stundenplan steht. Als ich ein
kleiner Junge war, mußten wir ausrechnen, wieviel Geld
im Jahre 192$ aus einem Taler geworden sein würde, den
einer unserer Ahnen Anno 152$, unter der Regierung Jo-
hanns des Beständigen, zur Sparkasse gebracht hätte. Es
war eine sehr komplizierte Rechnerei. Aber sie lohnte
sich. Aus dem Taler, bewies man uns, entstünde durch
Zinsen und Zinseszinsen das größte Vermögen der Welt!
Doch dann kam die Inflation, und im Jahre 192$ war das
größte Vermögen der Welt samt der ganzen Sparkasse
keinen Taler mehr wert. Aber die Zinseszinsrechnung
lebte in den Rechenbüchern munter weiter. Dann kam die
Währungsreform, und mit dem Sparen und der Sparkasse
war es wieder Essig. Die Rechenbücher haben es wieder
nicht gemerkt. Und so wird es Zeit, daß ihr einen Rotstift
nehmt und das Kapitel »Zinseszinsrechnung« dick durch-
streicht. Es ist überholt. Genauso wie die Attacke auf Gra-
velotte und der Zeppelin. Und wie noch manches andere.
Da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe geord-
net, und wollt nach Hause gehen. Geht heim, liebe Kin-
der! Wenn ihr etwas nicht verstanden haben solltet, fragt
eure Eltern! Und, liebe Eltern, wenn Sie etwas nicht ver-
standen haben sollten, fragen Sie Ihre Kinder!
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