Band 1, Teil 3
In der Winkelgasse
Am nächsten Morgen wachte Harry früh auf Er wusste zwar, dass es draußen schon hell war, doch er hielt die Augen fest geschlossen.
»Es war ein Traum«, sagte er sich entschlossen. »Ich habe von einem Riesen namens Hagrid geträumt, der mir erklärt hat, von nun an werde ich eine Schule für Zauberer besuchen. Wenn ich aufwache, bin ich zu Hause in meinem Schrank.«
Plötzlich hörte er ein lautes, tappendes Geräusch.
»Und das ist Tante Petunia, die an die Tür klopft«, dachte Harry und das Herz wurde ihm schwer. Doch die Augen hielt er weiter geschlossen. Ein schöner Traum war es gewesen.
Tapp. Tapp. Tapp.
»Schon gut«, murmelte Harry, »Ich steh Ja schon au£«
Er richtete sich auf und Hagrids schwerer Umhang fiel von seinen Schultern. Sonnenlicht durchflutete die Hütte, der Sturm hatte sich gelegt. Hagrid selbst schlief auf dem zusammengebrochenen Sofa, und eine Eule, eine Zeitung in den Schnabel geklemmt, tappte mit ihrer Kralle gegen das Fenster.
Harry rappelte sich auf Er war so glücklich, dass es ihm vorkam, als würde in seinem Innern ein großer Ballon anschwellen. Schnurstracks lief er zum Fenster und riss es auf. Die Eule schwebte herein und ließ die Zeitung auf Hagrids Bauch fallen. Er schlief Jedoch munter weiter. Die Eule flatterte auf den Boden und begann auf Hagrids Umhang herumzupicken.
»Lass das.«
Harry versuchte die Eule wegzuscheuchen, doch sie hackte wütend nach ihm und fuhr fort, den Umhang zu zerfetzen.
»Hagrid!«, sagte Harry laut. »Da ist eine Eule -«
»Bezahl sie«, grunzte Hagrid in das Sofa.
»Was?«
»Sie will ihren Lohn fürs Zeitungausfliegen. Schau in meinen Taschen nach.«
Hagrids Umhang schien aus nichts als Taschen zu bestehen: Schlüsselbunde, Musketenkugeln, Bindfadenröllchen, Pfefferminzbonbons, Teebeutel ... Schließlich zog er eine Hand voll merkwürdig aussehender Münzen hervor.
»Gib ihr fünf Knuts«, sagte Hagrid schläfrig.
»Knuts?«
»Die kleinen aus Bronze.«
Harry zählte fünf kleine Bronzemünzen ab. Die Eule streckte ein Bein aus, und er steckte das Geld in ein Lederbeutelchen, das daran festgebunden war. Dann flatterte sie durch das offene Fenster davon.
Hagrid gähnte laut, richtete sich auf und reckte genüsslich die Glieder.
»Wir brechen am besten gleich auf, Harry, haben heute eine Menge zu erledigen. Müssen hoch nach London und dir alles für die Schule besorgen.«
Harry drehte die Münzen nachdenklich hin und her. Eben war ihm ein Gedanke gekommen, der dem Glücksballon in seinem Innern einen Pikser versetzt hatte.
»Ähm ... Hagrid?«
»Mm?« Hagnid zog gerade seine riesigen Stiefel an.
»Ich hab kein Geld - und du hast Ja gestern Nacht Onkel Vernon gehört - er wird nicht dafür bezahlen, dass ich fortgehe und Zaubern lerne.«
»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte Hagrid. Er stand auf und kratzte sich am Kop£ »Glaubst du etwa, deine Eltern hätten dir nichts hinterlassen?«
»Aber wenn doch ihr Haus zerstört wurde -«
»Sie haben ihr Gold doch nicht im Haus aufbewahrt, mein Junge! Nee, wir machen als Erstes bei Gringotts Halt. Zaubererbank. Nimm dir ein Würstchen, kalt sind sie auch nicht schlecht - und zu 'nein Stück von deinem Geburtstagskuchen würd ich auch nicht nein sagen.«
»Zauberer haben Banken?«
»Nur die eine. Gringotts. Wird von Kobolden geführt.«
Harry ließ sein Würstchen fallen.
»Kobolde?«
»Jaow. Musst also ganz schön bescheuert sein, wenn du versuchst, sie auszurauben. Leg dich nie mit den Kobolden an, Harry. Gringotts ist der sicherste Ort der Welt für alles, was du aufbewahren willst - mit Ausnahme vielleicht von Hogwarts. Muss übrigens sowieso bei Gringotts vorbeischauen. Auftrag von Dumbledore. Geschäftliches für Hogwarts.« Hagrid richtete sich stolz auf »Meist nimmt er mich, wenn es Wichtiges zu erledigen gibt. Dich abholen, etwas von Gringotts besorgen, weiß, dass er mir vertrauen kann, verstehst du. Alles klar? Na dann los.«
Harry folgte Hagrid hinaus auf den Felsen. Der Himmel war Jetzt klar und das Meer schimmerte im Sonnenlicht. Das Boot, das Onkel Vernon gemietet hatte, lag noch da. Viel Wasser hatte sich auf dem Boden angesammelt.
»Wie bist du hergekommen?«, fragte Harry und sah sich nach einem zweiten Boot um.
»Geflogen«, sagte Hagrid.
»Geflogen?«
»Ja, aber zurück nehmen wir das Ding hier. Jetzt, wo du dabei bist, darf ich nicht mehr zaubern.«
Sie setzten sich ins Boot. Harry starrte Hagrid unverwandt an und versuchte sich vorzustellen, wie er flog.
»Schande allerdings, dass man rudern muss«, sagte Hagrid und sah Harry wieder mit einem seiner Blicke von der Seite her an. »Wenn ich ... ähm ... die Sache etwas beschleunigen würde, wärst du so freundlich und würdest in Hogwarts nichts davon sagen?«
»Klar«, sagte Harry, gespannt darauf, mehr von Hagrids Zauberkünsten zu sehen. Hagrid zog den rosa Schirm hervor, schlug ihn zweimal sachte gegen die Seitenwand des Bootes, und schon rauschten sie in Richtung Küste davon.
»Warum wäre es verrückt, wenn man Gringotts ausrauben wollte?«, fragte Harry.
»Magische Banne, Zauberflüche«, sagte Hagrid und öffnete seine Zeitung. »Es heißt, die Hochsicherheitsverliese werden von Drachen bewacht. Und dann musst du erst einmal hinfinden - Griingotts liegt nämlich hunderte von Meilen unterhalb von ]London. Tief unter der Untergrundbahn. Du stirbst vor Hunger, bevor du wieder ans Tageslicht kommst, auch wenn du dir was unter den Nagel gerissen hast.«
Harry saß da und dachte dar-über nach, während Hagrid seine Zeitung, den Tagespropheten, las. Harry wusste von Onkel Vernon, dass die Erwachsenen beim Zeitunglesen in Ruhe gelassen werden wollten, auch wenn es ihmjetzt schwer fiel, denn noch nie hatte er so viele Fragen auf dem 1-ferzen gehabt.
»Zaubereiministerium vermasselt mal wieder alles, wie Üblich«, brummte Hagrid und blätterte um.
»Es gibt ein Ministerium für Zauberei?«, platzte Harry los.
»Klar«, sagte Hagrid. »Wollten natürlich Dumbledore als Minister haben, aber der würde nie von Hogwarts weggehen. Deshalb hat Cornelius Fudge die Stelle bekommen. Gibt keinen größeren Stümper. Schickt also Durnbledore Jeden Morgen ein Dutzend Eulen und fragt ihn um Rat.«
»Aber was tut ein Zaubereinünisterium?«
»Nun, seine Hauptaufgabe ist, vor den Muggels geheim zu halten, dass es landauf, landab immer noch Hexen und Zauberer gibt.«
»Warum?«
»Warum? Mein Güte, Harry, die wären doch ganz scharf darauf, dass wir ihre Schwierigkeiten mit magischen Kräften lösen. Nö, die sollen uns mal in Ruhe lassen.«
In diesem Augenblick stupste das Boot sanft gegen die Hafenmauer. Hagrid faltete die Zeitung zusammen und sie stiegen die Steintreppe zur Straße empor.
Die Menschen auf den Straßen der kleinen Stadt starrten Hagrid mit großen Augen an. Harry konnte es ihnen nicht verübeln. Hagrid war nicht nur doppelt so groß wie alle anderen, er zeigte auch auf ganz gewöhnliche Dinge wie Parkuhren und rief dabei laut: »Schau dir das an, Harry. Solche Sachen lassen sich die Muggels einfallen, nicht zu fassen!«
»Hagnid«, sagte Harry ein wenig außer Atem, weil er rennen musste, um Schritt zu halten. »Hast du gesagt, bei Griingotts gebe es Drachen?«
»Ja, so heißt es«, sagte Hagrid. »Mann, ich hätte gern einen Drachen.«
»Du hättest gerne einen?«
»Schon als kleiner Junge wollte ich einen - hier lang.«
Sie waren am Bahnhof angekommen. In fünf Minuten ging ein Zug nach London. Hagrid, der mit »Muggelgeld«, wie er es nannte, nicht zurechtkam, reichte Harry ein paar Scheine, mit denen er die Fahrkarten kaufte.
Im Zug glotzten die Leute noch mehr. Hagrid, der zwei Sitzplätze brauchte, strickte während der Fahrt an etwas, das aussah wie ein kanariengelbes Zirkuszelt.
»Hast deinen Brief noch, Harry?«, fragte er, während er die Maschen zählte.
Harry zog den Pergarnentumschlag aus der Tasche.
»Gut«, sagte Hagrid. »Da ist eine Liste drin mit allem, was du brauchst.«
Harry entfaltete einen zweiten Bogen Papier, den er in der Nacht zuvor nicht bemerkt hatte, und las:
HOGWARTS-SCHULE FÜR HEXEREI UND ZAUBEREI
Uniforin
Im ersten Jahr benötigen die Schüler:
1. Drei Garnituren einfache Arbeitskleidung (schwarz)
2. Einen einfachen Spitzhut (schwarz) für tagsüber
3. Ein Paar Schutzhandschuhe (Drachenhaut o. Ä.)
4. Einen Winterumhang (schwarz, mit silbernen Schnal-
len)
Bitte beachten Sie, dass alle Kleidungsstücke der Schüler mit Namensetiketten versehen sein müssen.
Lehrbücher
Alle Schüler sollten Jeweils ein Exemplar der folgenden Werke besitzen:
- Miranda Habicht: Lehrbuch der Zaubersprüche, Band 1
- Bathilda Bagshot: Geschichte der Zauberei
- Adalbert Schwahfel: Theorie der Magie
- Emeric Wendel: Verwandlungenftir Anfdnger
- Phyllida Spore: Tausend Zauberkräuter und -pilze
- Arsenius Bunsen: Zaubertränke und Zauberbräue
- Lurch Scamander: Sagentiere und wo sie zufinden sind
- Quirin Sumo: Dunkle Kräfte. Ein Kurs zur Selbstverteidigung
Ferner werden benötigt:
- 1 Zauberstab
- 1 Kessel (Zinn, Normgröße 2)
- 1 Sortiment Glas- oder Kristallfläschchen
- 1 Teleskop
- 1 Waage aus Messing
Es ist den Schülern zudem freigestellt, eine Eule ODER eine Katze ODER eine Kröte mitzubringen.
DIE ELTERN SEIEN DARAN ERINNERT, DASS ERSTKLÄSSLER KEINE EIGENEN BESEN BESITZEN DÜRFEN
»Und das alles können wir in London kaufen?«, fragte sich Harry laut.
»Ja. Wenn du weißt, wo«, sagte Hagrid.
Harry war noch nie in London gewesen. Hagrid schien zwar zu wissen, wo er hinwollte, doch offensichtlich war er es nicht gewohnt, auf normalem Weg dorthin zu gelangen. Er verhedderte sich im Drehkreuz zur Untergrundbahn und beschwerte sich laut, die Sitze seien zu klein und die Züge zu lahm.
»Keine Ahnung, wie die Muggels zurechtkommen ohne Zauberei«, meinte er, als sie eine kaputte Rolltreppe einporkletterten, die auf eine belebte, mit Läden gesäumte Straße führte.
lungen und Musikläden vorbei, an Schnellimbissen und Kinos, doch nirgends sah es danach aus, als ob es Zauberstäbe zu kaufen gäbe. Dies war eine ganz gewöhnliche Straße voll ganz gewöhnlicher Menschen. Konnte es wirklich sein, dass viele Meilen unter ihnen haufenweise Zauberergold vergraben war? War all dies vielleicht nur ein gewaltiger Jux, den die Dursleys ausgeheckt hatten? Das hätte Harry vielleicht geglaubt, wenn er nicht gewusst hätte, dass die Dursleys keinerlei Sinn für Humor besaßen. Doch obwohl alles, was Hagrid ihm bisher erzählt hatte, schlicht unfassbar war, konnte er einfach nicht anders, als ihm zu vertrauen.
»Hier ist es«, sagte Hagrid und blieb stehen. »Zum Tropfenden Kessel. Den Laden kennt Jeder.«
Es war ein kleiner, schmuddelig wirkender Pub. Harry hätte ihn nicht einmal bemerkt, wenn Hagrid nichts gesagt hätte. Die vorbeiellenden Menschen beachteten ihn nicht. Ihre Blicke wanderten von der großen Buchhandlung auf der einen Seite zum Plattenladen auf der anderen Seite, als könnten sie den Tropfenden Kessel überhaupt nicht sehen. Tatsächlich hatte Harry das ganz eigentümliche Gefühl, dass nur er und Hagrid ihn sahen. Doch bevor er den Mund aufmachen konnte, schob ihn Hagrid zur Tür hinein.
Für einen berühmten Ort war es hier sehr dunkel und schäbig. In einer Ecke saßen ein paar alte Frauen und tranken Sherry aus kleinen Gläsern. Eine von ihnen rauchte eine lange Pfeife. Ein kleiner Mann mit Zylinder sprach mit dem alten Wirt, der vollkommen kahlköpfig war und aussah wie eine klebrige Walnuss. Als sie eintraten, verstummte das leise Summen der Gespräche. Hagrid schienen alle zu kennen; sie winkten und lächelten ihm zu, und der Wirt griff nach einem Glas: »Das Übliche, Hagrid?«
»Heute nicht, Tom, bin im Auftrag von Hogwarts unterwegs«, sagte Hagrid und versetzte Harry mit seiner großen Hand einen Klaps auf die Schulter, der ihn in die Knie gehen ließ.
»Meine Güte«, sagte der Wirt und spähte zu Harry hinüber, »ist das - kann das -?«
Im Tropfenden Kessel war es mit einem Schlag mucksmäuschenstill geworden.
»Grundgütiger«, flüsterte der alte Barmann. »Harry Potter ... welch eine Ehre.«
Er eilte hinter der Bar hervor, trat raschen Schrittes auf Harry zu und ergriff mit Tränen in den Augen seine Hand.
»Willkommen zu Hause, Mr. Potter, willkommen zu Hause.«
Harry wusste nicht, was er sagen sollte. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Die alte Frau paffte ihre Pfeife ohne zu bemerken, dass sie ausgegangen war. Hagrid strahlte.
Nun ging im Tropfenden Kessel ein großes Stühlerücken los, und die Gäste schüttelten Harry einer nach dem andern die Hand.
»Doris Crockford, Mr. Potter, ich kann es einfach nicht fassen, Sie endlich zu sehen.«
»Ich bin so stolz, Sie zu treffen, Mr. Potter, so stolz.«
»Wollte Ihnen schon immer die Hand schütteln - mir ist ganz schwindelig.«
»Erfreut, Mr. Potter, mir fehlen die Worte. Diggel ist mein Name, Dädalus Diggel.«
»Sie hab ich schon mal gesehen!«, rief Harry, als Dädalus Diggel vor Aufregung seinen Zylinder verlor. »Sie haben sich einmal in einem Laden vor mir verneigt.«
»Er weiß es noch!«, rief Dädalus Diggel und blickte in die Runde. »Habt ihr das gehört? Er erinnert sich an mich!«
Harry schüttelte Hände hier und Hände dort - Doris Crockford konnte gar nicht genug kriegen.
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Ein blasserjunger Mann bahnte sich den Weg nach vorne. Er wirkte sehr fahrig; sein linkes Auge zuckte.
»Professor Quirrell!(x, sagte Hagrid. »Harry, Professor Quirrell ist einer deiner Lehrer in Hogwarts.«
»P-P-Potter«, stammelte Professor Quirrell und ergriff Harrys Hand, »ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich mich freue, Sie zu treffen.«
»Welche Art von Magie lehren Sie, Professor Quirrell?«
»V-Verteldigung gegen die dunklen Künste«, murmelte Professor Quirrell, als ob er lieber nicht daran denken wollte. »Nicht, dass Sie es nötig hätten, oder, P-Potter?« Er lachte nervös. »Sie besorgen sich Ihre Ausrüstung, nehme ich an? Ich muss auch noch ein neues Buch über Vampire abholen.« Schon bei dem bloßen Gedanken daran sah er furchtbar verängstigt drein.
Doch die anderen ließen nicht zu, dass Professor Quirrell Harry allein in Beschlag nahm. Es dauerte fast zehn Minuten, bis er von allen losgekommen war. Endlich konnte sich Hagnid in der allgemeinen Aufregung Gehör verschaffen.
»Wir müssen weiter - haben eine Menge einzukaufen. Komm, Harry.«
Doris Crockford schüttelte Harry ein letztes Mal die Hand. Hagrid führte ihn durch die Bar auf einen kleinen, von Mauern umgebenen Hof hinaus, wo es nichts als einen Mülleimer und ein paar Unkräuter gab.
Hagrid grinste Harry zu.
»Hab's dir doch gesagt, oder? Hab dir doch gesagt, dass du berühmt bist. Sogar Professor Quirrell hat gezittert, als er dich sah - nunja, er zittert fast ständig.«
»Ist er immer so nervös?«
»O Ja. Armer Kerl. Genialer Kopf. Ging ihm gut, als er nur die Bücher studierte, doch dann hat er sich ein Jahr freigenommen, um ein wenig Erfahrung zu sammeln ... Es
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heißt, er habe im Schwarzwald Vampire getroffen und er soll ein übles kleines Problem mit einer Hexe gehabt haben - ist seitdemjedenfalls nicht mehr der Alte. Hat Angst vor den Schülern, Angst vor dem eigenen Unterrichtsstoff -wo istietzt eigentlich mein Schirm abgebliebenN
Vampire? Hexen? Harry war leicht schwindelig. Unterdessen zählte Hagrid die Backsteine an der Mauer über dem Mülleimer ab.
»Drei nach oben ... zwei zur Seite ...«, murmelte er. »Gut, einen Schritt zurück, Harry~«
Mit der Spitze des Schirms klopfte er dreimal gegen die Mauer.
Der Stein, auf den er geklopft hatte, erzitterte, wackelte und in der Mitte erschien ein kleiner Spalt. - Der wurde immer breiter und eine Sekunde später standen sie vor einem Torbogen, der selbst für Hagrid groß genug war. Er führte hinaus auf eine gepflasterte Gasse, die sich in einer engen Biegung verlor.
»Willkommen in der Winkelgasse«, sagte Hagrid.
Harrys verblüffter Blick ließ ihn verschmitzt lächeln.
Sie traten durch den Torbogen. Harry blickte rasch über die Schulter und konnte gerade noch sehen, wie sich die Steinmauer wieder schloss.
Die Sonne erleuchtete einen Stapel Kessel vor der Tür eines Ladens. Kessel - Alle Größen - Kupfer, Messing, Zinn, Silber - Selbst umrührend - Faltbar, hieß es auf einem Schild über ihren Köpfen.
»Jaow, du brauchst einen«, sagte Hagrid, »aber erst müssen wir dein Geld holen.«
Harry wünschte sich mindestens vier Augenpaare mehr. Er drehte den Kopf in alle Himmelsrichtungen, während sie die Straße entlanggingen, und versuchte, alles auf einmal zu sehen: die Läden, die Auslagen vor den Türen, die
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Menschen, die hier einkauften. Vor einer Apotheke stand eine rundliche Frau, und als sie vorbeigingen, sagte sie kopfschüttelnd: »Drachenleber, siebzehn Sickel die Unze, die müssen verrückt sein ...«
Gedämpftes Eulengeschrei drang aus einem dunklen Laden. Auf einem Schild über dem Eingang stand: Eeylops Eulenkaujhaus - Waldkäuze, Zwergohreulen, Steinkäuze, Schleiereulen, Schneeeulen. Einige Jungen in Harrys Alter drückten ihre Nasen gegen ein Schaufenster mit Besen. »Schau mal«, hörte Harry einen von ihnen sagen, »der neue Nimbus Zweitausend, der schnellste überhaupt -« Manche Läden verkauften nur Umhänge, andere Teleskope und merkwürdige silberne Instrumente, die Harry noch nie gesehen hatte. Es gab Schaufenster, die voll gestopft waren mit Fässern voller Fledermausmilzen und Aalaugen, wacklig gestapelten Zauberspruchfibeln, Pergamentrollen, Zaubertrankflaschen, Mondgloben ...
»Gringotts«, sagte Hagrid.
Sie waren vor einem schneeweißen Haus angelangt, das hoch über die kleinen Läden hinausragte. Neben dem blank polierten Bronzetor, in einer scharlachroten und goldbestickten Uniform stand ein -
»Tja, das ist ein Kobold«, sagte Hagrid leise, als sie die steinernen Stufen zu ihm hochstiegen. Der Kobold war etwa einen Kopf kleiner als Harry. Er hatte ein dunkelhäutiges, kluges Gesicht, einen Spitzbart und, wie Harry auffiel, sehr lange Finger und große Füße. Mit einer Verbeugung wies er sie hinein. Wieder standen sie vor einer Doppeltür, einer silbernen diesmal, in die folgende Worte eingraviert waren:
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Fremder, komm du nur herein, Hab Achtiedoch und bläu's dir ein, Wer der Sünde Gier will dienen, Und will nehmen, m«cht verdienen, Der wird voller Pein verlieren. Wenn du suchst in diesen Hallen Einen Schatz, dem du verfallen, Dieb, sei gewarnt und sage dir, Mehr als Gold harrt deiner hier.
»Wie ich gesagt hab, du musst verrückt sein, wenn du den Laden knacken willst«, sagte Hagrid.
Ein Paar Kobolde verbeugte sich, als sie durch die silberne Tür in eine riesige Marmorhalle schnitten. Um die hundert Kobolde saßen auf hohen Schemeln hinter einem langen Schalter, kritzelten Zahlen in große Folianten, wogen auf Messingwaagen Münzen ab und prüften Edelsteine mit unter die Brauen geklemmten Uhrmacherlupen. Unzählige Türen führten in anschließende Räume, und andere Kobolde geleiteten Leute herein und hinaus. Hagrid und Harry traten vor den Schalter.
»Moin«, sagte Hagrid. »Wir sind hier, um ein wernig Geld aus Mr. Harry Potters Safe zu entnehmen.«
»Sie haben seinen Schlüssel, Sir?«, fragte der Kobold.
»Hab ihn hier irgendwo«, sagte Hagrid und begann seine Taschen zu entleeren und ihren Inhalt auf dem Schalter auszubreiten, wobei er eine Hand voll krümellger Hundekuchen über das Kassenbuch des Kobolds verstreute. Dieser rümpfte die Nase. Harry sah dem Kobold zu ihrer Rechten dabei zu, wie er einen Haufen Rubine wog, die so groß waren wie Eierkohlen.
»Hab ihn«, sagte Hagnid endlich und hielt dem Kobold einen kleinen goldenen Schlüssel vor die Nase.
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Der Kobold nahm ihn genau in Augenschein.
»Das scheint in Ordnung zu sein.«
»Und ich habe außerdem einen Brief von Professor Dumbledore«, sagte Hagrid, sich mit gewichtiger Miene in die Brust werfend. »Es geht um den Du-weißt-schon-was in Verlies siebenhundertundneunzehn.«
Der Kobold las den Brief sorgfältig durch.
»Sehr gut«, sagte er und gab ihn Hagrid zurück. »Ich werde veranlassen, dass man Sie in beide Verliese führt. Griphook!«
Auch Griphook war ein Kobold. Sobald Hagrid alle seine Hundekuchen in die Taschen zurückgestopft hatte, folgten er und Harry Griphook zu einer der Türen, die aus der Halle hinausführten.
»Was ist der Du-weißt-schon-was in Verlies siebenhundertundneunzehn«, fragte Harry.
»Darf ich nicht sagen«, meinte Hagrid geheimnistuerisch. »Streng geheim. Hat mit Hogwarts zu tun. Dumbledore vertraut mir. Lohnt sich nicht, meinen Job zu riskieren und es dir zu sagen.«
Griphook hielt die Tür für sie auf Harry, der noch mehr Marmor erwartet hatte, war überrascht. Sie waren nun in einem engen, steinernen Gang, den lodernde Fackeln erleuchteten. In den Boden waren schmale Bahngeleise eingelassen, die steil in die Tiefe führten. Griphook pfiff, und ein kleiner Karren kam auf den Schienen zu ihnen hochgezockelt. Sie kletterten hinauf und setzten sich - Hagrid mit einigen Schwierigkeiten - und schon ging es los.
Zuerst fuhren sie durch ein Gewirr sich überkreuzender Gänge. Harry versuchte sich den Weg zu merken, links, rechts, rechts, links, durch die Mitte, rechts, links - doch es war unmöglich. Der ratternde Karren schien zu wissen, wo es langging, denn es war nicht Griphook, der ihn steuerte.
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Harrys Augen schmerzten in der kalten Luft, durch die sie sausten, doch er hielt sie weit geöffnet. Einmal meinte er am Ende eines Durchgangs einen Feuerstoß zu erkennen und wandte sich rasch um, denn vielleicht war es ein Drache - aber zu spät. Sie drangen weiter in die Tiefe vor und passierten einen unterirdischen See, bei dem riesige Stalaktiten und Stalagmiten von der Decke und aus dem Boden wucherten.
»Ich kann mir nie merken«, rief Harry durch das lärmende Rattern des Karrens Hagrid zu, »was der Unterschied zwischen Stalaktiten und Stalagmiten ist.«
»Stalagmiten haben ein >in< in der Mitte«, sagte Hagrid. »Undjetzt keine Fragen mehr, mir ist schlecht.«
Er war ganz grün im Gesicht, und als die Karre endlich neben einer kleinen Tür in der Wand des unterirdischen Ganges hielt, stieg Hagrid aus und musste sich gegen die Wand lehnen, um seine zitternden Knie zu beruhigen.
Griphook schloss die Tür auf Ein Schwall grünen Rauchs drang heraus, und als er sich verzogen hatte, stockte Harry der Atem. Im Innern lagen hügelweise Goldmünzen. Stapelweise Silbermünzen. Haufenweise kleine bronzene Knuts.
»Alles dein«, sagte Hagrid lächelnd.
Alles gehörte Harry - das war unglaublich. Die Dursleys konnten davon nichts gewusst haben, oder sie hätten es ihm schneller abgenommen, als er blinzeln konnte. Wie oft hatten sie sich darüber beschwert, wie viel es sie kostete, für Harry zu sorgen? Und die ganze Zeit über war ein kleines Vermögen, das ihm gehörte, tief unter Londons Straßen vergraben gewesen.
Hagrid half Harry dabei, einen Teil der Schätze in eine Tüte zu packen.
»Die goldenen sind Galleonen«, erklärte er. »Siebzehn
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Silbersickel sind eine Galleone und neunundzwanzig Knuts sind eine Sickel. Nichts einfacher als das. Gut, das sollte für ein paar Schuljahre reichen, wir bewahren den Rest für dich auf,« Er wandte sich Griphook zu. »Verlies siebenhundertundneunzehn Jetzt, bitte, und können wir etwas langsamer fahren?«
»Nur eine Geschwindigkeit«, sagte Griphook.
Sie fuhren nun noch tiefer hinunter und wurden allmählich schneller. Während sie durch scharfe Kurven rasten, wurde die Luft immer kälter. Sie ratterten über eine unterirdische Schlucht hinweg, und Harry lehnte sich über den Wagenrand, um zu sehen, was tief unten auf dem dunklen Grund war, doch Hagrid stöhnte und zog ihn am Kragen zurück.
Verlies siebenhundertundneunzehn hatte kein Schlüsselloch.
»Zurücktreten«, sagte Griphook mit achtungheischender Stimme. Mit einem seiner langen Finger streichelte er sanft die Tür - die einfach wegschmolz.
»Sollte Jemand dies versuchen, der kein Kobold von Gringotts ist, dann wird er durch die Tür gesogen und sitzt dort drin in der Falle«, sagte Griphook.
»Wie oft schaust du nach, ob Jemand dort ist?«, fragte Harry.
»Einmal in zehn Jahren vielleicht«, sagte Griphook mit einem ziemlich gemeinen Grinsen.
In diesem Hochsicheffieitsverlies musste etwas ganz Besonderes aufbewahrt sein, da war sich Harry sicher, und er steckte seine Nase begierig hinein, um zumindest ein paar sagenhafte Juwelen zu sehen - doch auf den ersten Blick schien alles leer. Dann bemerkte er auf dem Boden ein schmutziges, mit braunem Papier umwickeltes Päckchen. Hagrid hob es auf und verstaute es irgendwo in den Tiefen
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seines Umhangs. Harry hätte zu gern gewusst, was es war, aber ihm war klar, dass er besser nicht danach fragte.
»Los komm, zurück auf diese Höllenkarre, und red auf dem Rückweg nicht. Es ist besser, wenn ich den Mund geschlossen halte«, sagte Hagrid.
Nach einer weiteren haarsträubenden Fahrt auf dem Karren standen sie endlich wieder draußen vor Gringotts und blinzelten in das Sonnenlicht. Nun, da Harry einen Sack voll Geld besaß, wusste er nicht, wo er zuerst hinlaufen sollte. Er musste nicht wissen, wie viel Galleonen ein englisches Pfund ausmachten, um sich bewusst zu sein, dass er noch nie im Leben so viel Geld besessen hatte - mehr Geld, als selbst Dudieyjemals gehabt hatte.
»Könnten Jetzt eigentlich mal deine Uniform kaufen«, sagte Hagrid und nickte zu Madam Malkins Anzüge für alle Gelegenheiten hinüber. »Hör mal, Harry, würd es dir was ausmachen, wenn ich mir einen kleinen Magenbitter im Tropfenden Kessel genehmige? Ich hasse die Fuhrwerke bei Gringotts.« Er sah immer noch etwas bleich aus. Und so betrat der ein wenig nervöse Harry allein Madam Malkins Laden.
Madam Malkin war eine stämmige, lächelnde Hexe, die von Kopf bis Fuß malvenfarben gekleidet war.
»Hogwarts, mein Leber?«, sagte sie, kaum hatte Harry den Mund aufgemacht. »Hab die Sachen hier - übrigens wird hier gerade noch ein Junger Mann ausgestattet.«
Hinten im Laden stand aufeinem Schemel ein Junge mit blassem, spitzem Gesicht, und eine zweite Hexe steckte seinen langen schwarzen Umhang mit Nadeln ab. Madam Malkin stellte Harry auf einen Stuhl daneben, ließ einen langen Umhang über seinen Kopf gleiten und steckte mit Nadeln die richtige Länge ab.
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»Hallo«, sagte derjunge. »Auch Hogwarts?«
»Ja«, sagte Harry.
»MeinVater ist nebenan und kauft die Bücher, und Mutter ist ein paar Läden weiter und sucht nach Zauberstäben«, sagte der Junge. Er sprach mit gelangweilter, schleppender Stimme. »Danach werd ich sie mitschleifen und mir einen Rennbesen aussuchen. Ich seh nicht ein, warum Erstklässler keinen eigenen haben dürfen. Ich glaub, ich geh meinem Vater so lange auf die Nerven, bis er mir einen kauft, und schmuggel ihn dann irgendwie rein.«
Der Junge erinnerte Harry stark an Dudley.
»Hast du denn deinen eigenen Besen?«, fuhr er fort.
»Nein«, sagte Harry.
»Spielst du überhaupt Quidditch?«
»Nein«, sagte Harry erneut und fragte sich, was zum Teufel Quidditch denn sein kölinte.
»Aber ich - Vater sagt, es wäre eine Schande, wenn ich nicht ausgewählt werde, um für mein Haus zu spielen, und ich muss sagen, er hat Recht. Weißt du schon, in welches Haus du kommst?«
»Nein«, sagte Harry und fühlte sich mit Jeder Minute dümmer.
»Na Ja, eigentlich weiß es keiner, bevor er hinkommt, aber ich weiß, dass ich im Slytherin sein werde, unsere ganze Familie war da. - Stell dir vor, du kommst nach Hufflepuff, ich glaub, ich würde abhauen, du nicht?«
»Mmm«, sagte Harry und wünschte, er könnte etwas Intercssanteres sagen.
»Ach herrje, schau dir mal diesen Mann an!«, sagte der Junge plötzlich und deutete auf das Schaufenster. Draußen stand Hagrid, grinste Harry zu und hielt zwei große Tüten mit Eiskrem hoch, um zu zeigen, dass er nicht hereinkonimen konnte.
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»Das ist Hagrid«, sagte Harry, froh, dass er etwas wusste, was derjunge nicht wusste. »Er arbeitet in Hogwarts.«
»Oh«, sagte der Junge, »ich hab von ihm gehört. Er ist ein Knecht oder so was, nicht wahr?«
»Er ist der Wildhüter«, sagte Harry. Er konnte den Jungen mitjeder Sekunde weniger ausstehen.
»Ja, genau. Ich hab gehört, dass er eine Art Wilderer ist - lebt in einer Hütte auf dem Schulgelände, betrinkt sich des öfteren, versucht zu zaubern und steckt am Ende sein Bett in Brand.«
»Ich halte ihn für brillant«, sagte Harry kühl.
»Tatsächlich?«, sagte derjunge mit einer Spur Häme. »Warum ist er mit dir zusammen? Wo sind deine Eltern?«
»Sie sind tot«, sagte Harry knapp. Er hatte keine große Lust, mit diesem Jungen darüber zu sprechen.
»Oh, tut mir Leid«, sagte der andere, wobei es gar nicht danach klang. »Aber sie gehörten zu uns, oder?«
»Sie war eine Hexe und er ein Zauberer, falls du das meinst.«
»Ich halte überhaupt nichts davon, die andern aufzunehmen, du etwa? Die sind einfach anders erzogen worden als wir und gehören eben nicht dazu. Stell dir vor, manche von ihnen wissen nicht einmal von Hogwarts, bis sie ihren Brief bekommen. Ich meine, die alten Zaubererfamillen sollten unter sich bleiben. Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?«
Doch bevor Harry antworten konnte, sagte Madam Malkin: »So, das wär's, mein Lieber«, und Harry, froh über die Gelegenheit, von dem Jungen loszukommen, sprang von seinem Schemel herunter.
»Gut, wir sehen uns in Hogwarts, nehme ich an«, sagte derjunge mit der schleppenden Stimme.
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Recht wortkarg schleckte Harry das Eis, das Hagrid ihm gekauft hatte (Schokolade und Himbeere mit Nussstückchen).
»Was ist los?«, sagte Hagrid.
»Nichts«, log Harry. Sie traten in einen Laden, um Pergament und Federkiele zu kaufen. Harrys Laune besserte sich etwas, als sie eine Flasche Tinte kauften, die beim Schreiben ihre Farbe veränderte. Als sie wieder draußen waren, sagte er: »Hagrid, was ist Quidditch?«
»Mein Gott, Harry, ich vergess immer, wie wenig du weißt - kennst nicht mal Quidditch!«
»Mach's nicht noch schlimmer«, sagte Harry. Er erzählte Hagrid von dem blassen Jungen bei Madam Malkin.
»... und er sagte, Leute aus Muggelfamilien sollten gar nicht aufgenommen werden ...«
»Du bist nicht aus einer Muggelfamilie. Wenn er wüsste, wer du bist - wenn seine Eltern Zauberer sind, dann hat er deinen Namen mit der Muttermilch eingesogen - du hast die beiden übrigens im Tropfenden Kessel gesehen. Und außerdem, was weiß er schon, manche von den Besten waren die Einzigen in einer langen Linie von Muggels, die das Zeug zum Zaubern hatten - denk an deine Mum! Denk mal daran, was sie für eine Schwester hatte!«
»Also was istjetzt Quidditch?«
»Das ist unser Sport. Zauberersport. Es ist wie - wie Fußball in der Muggelwelt - alle fahren auf Quidditch ab -man spielt es in der Luft auf Besen und mit vier Bällen -nicht ganz einfach, die Regeln zu erklären.«
»Und was sind Slytherin und Hufflepuff?«
»Schulhäuser. Es gibt vier davon. Alle sagen, in Hufflepuff sind'ne Menge Flaschen, aber -«
»ich wette, ich komme nach Hufflepuff«, sagte Harry bedrückt.
»Besser Hufflepuff als Slytherin«, sagte Hagrid mit düsterer Stimme. »Die Hexen und Zauberer, die böse wurden, waren allesamt in Slytherin. Du-weißt-schon-wer war einer davon.«
»Vol-, 'tschuldigung - Du-weißt-schon-wer war in Hogwarts?«
»Das ist ewig lange her«, sagte Hagrid.
Sie kauften die Schulbücher für Harry in einem Laden namens Flourish & Blotts, wo die Regale bis an die Decke voll gestopft waren mit in Leder gebundenen Büchern, so groß wie Gehwegplatten; andere waren klein wie Briefmarken und in Seide gebunden; viele Bücher enthielten merkwürdige Symbole, und es gab auch einige, in denen gar nichts stand. Selbst Dudley, der nie las, wäre ganz scharf auf manche davon gewesen. Hagrid musste Harry beinahe wegziehen von Werken wie Flüche und Gegenflüche (Verzaubern Sie Ihre Freunde und verhexen Sie Ihre Feinde mit den neuesten Racheakten: Haarausfall, Gummibeine, Vertrocknete Zunge und vieles, vieles mehr) von Professor Vindictus Viridian.
»Ich möchte rausfinden, wie ich Dudley verhexen kann.«
»Keine schlechte Idee, würd ich meinen, aber du sollst in der Muggelwelt nicht zaubern, außer wenn's brenzlig wird«, sagte Hagrid. »Und du könntest mit diesen Flüchen ohnehin noch nicht umgehen, du musst noch sehr viel lernen, bis du das kannst.«
Hagrid wollte Harry auch keinen Kessel aus purem Gold kaufen lassen (»auf der Liste steht Zinn«), aber sie fanden eine praktische kleine Waage, um die Zutaten für die Zaubertränke abzumessen, und ein zusammenschiebbares Messingteleskop. Danach schauten sie in der Apotheke vorbei. Hier stank es zwar fürchterlich nach einer Mischung aus faulen Eiern und verrottetem Kohl, doch es gab viele interessante Dinge zu sehen. Auf dem Boden standen Fässer, die mit einer Art Schleim gefüllt waren; die Regale an den Wänden waren voll gestellt mit Gläsern, die Kräuter, getrocknete Wurzeln und hellfarbene Pulver enthielten; von der Decke hingen Federbüschel, an Schnüren aufgezogene Reißzähne und Krallenbündel. Während Hagrid den Mann hinter der Theke um eine Auswahl wichtiger Zaubertrankzutaten für Harry bat, untersuchte Harry selbst die silbernen Einhorn-Hörner zu einundzwanzig Galleonen das Stück und die winzigen glänzend schwarzen Käferaugen (fünf Knuts der Schöpflöffel).
Draußen vor der Apotheke warf Hagrid noch einmal einen Blick auf Harrys Liste.
»Nur dein Zauberstab fehlt noch - ach Ja, und ich hab immer noch kein Geburtstagsgeschenk für dich.«
Harry spürte, wie er rot wurde.
»Du musst mir kein -«
»Ich weiß, ich muss nicht. Weißt du was, ich kauf dir das Tier. Keine Kröte, Kröten sind schon seit Jahren nicht mehr angesagt, man würde dich auslachen - und ich mag keine Katzen, von denen muss ich niesen. Ich kauf dir eine Eule. Alle Kinder wollen Eulen, die sind unglaublich nützlich, besorgen deine Post und so weiter.«
Zwanzig Minuten später verließen sie Eeylops Eulenkaufhaus. Dunkel war es dort gewesen, aus der einen oder andern Ecke hatten sie ein Flattern gehört, und gelegentlich waren diamanthelle Augenpaare aufgeblitzt. Harry trug Jetzt einen großen Käfig, in dem eine wunderschöne Schneeeule saß, tief schlafend mit dem Kopf unter einem Flügel. Unablässig stammelte er seinen Dank und klang dabei genau wie Professor Quirrell.
»Nicht der Rede wert«, sagte Hagrid schroff. »Kann mir denken, dass du von diesen Dursleys nicht allzu viele Geschenke bekommen hast. Müssen Jetzt nur noch zu Ollivander, einem Laden für Zauberstäbe, und du brauchst den besten.«
Ein Zauberstab ... darauf war Harry am meisten gespannt.
Der Laden war eng und schäbig. Über der Tür hieß es in abblätternden Goldbuchstaben: Ollivander - Gute Zauberstäbe seit 382 v. Chr. Auf einem verblassten purpurroten Kissen im staubigen Fenster lag ein einziger Zauberstab.
Sie traten ein und von irgendwo ganz hinten im Laden kam das helle Läuten einer Glocke. Der Raum war klein und leer mit Ausnahme eines einzigen storchbeinigen Stuhls, auf den sich Hagrid niederließ, um zu warten. Harry fühlte sich so fremd hier, als ob er eine Bibliothek mit sehr strenger Aufsicht betreten hätte. Er schluckte eine Menge neuer Fragen hinunter, die ihm gerade eingefallen waren, und betrachtete stattdessen tausende von länglichen Schachteln, die fein säuberlich bis an die Decke gestapelt waren. Aus irgendeinem Grund kiibbelte es ihm im Nacken. Allein der Staub und die Stille hier schienen ihn mit einem geheimen Zauber zu kitzeln.
»Guten Tag«, sagte eine sanfte Stimme. Harry schreckte auf. Auch Hagrid musste erschrocken sein, denn ein lautes Knacken war zu hören, und rasch erhob er sich von den Storchenbeinen.
Ein alter Mann stand vor ihnen, seine weit geöffneten, blassen Augen leuchteten wie Monde durch die Düsternis des Ladens.
»Hallo«, sagte Harry verlegen.
»Ah Ja«, sagte der Mann. »Ja, Ja. Hab mir gedacht, dass Sie bald vorbelkommen. Harry Potter.« Das war keine Frage. »Sie haben die Augen Ihrer Mutter. Mir kommt es vor, als wäre sie erst gestern selbst hier gewesen und hätte ihren ersten Zauberstab gekauft. Zehneinviertel Zoll lang, geschmeidig, aus Weidenholz gefertigt. Hübscher Stab für bezaubernde Arbeit.«
Mr. Ollivander trat näher. Harry wünschte, er würde einmal blinzeln. Diese silbernen Augen waren etwas gruslig.
»Ihr Vater hingegen wollte lieber einen Zauberstab aus Mahagoni. Elf Zoll. Elastisch. Ein wenig mehr Kraft und hervorragend geeignet für Verwandlungen. Nun Ja, ich sage, Ihr Vater wollte ihn - im Grunde ist es natürlich der Zauberstab, der sich den Zauberer aussucht.«
Mr. Ollivander war Harry so nahe gekommen, dass sich beider Nasenspitzen fast berührten. Harry konnte in diesen nebligen Augen sein Spiegelbild sehen.
»Und hier hat ...«
Mr. Ollivander berührte die blitzfönnige Narbe auf Harrys Stirn mit einem langen, weißen Finger.
»Leider muss ich sagen, dass ich selbst den Zauberstab verkauft habe, der das angerichtet hat«, sagte er sanft. »Dreizehneinhalb Zoll. Tja. Mächtiger Zauberstab, sehr mächtig, und in den falschen Händen... Nun, wenn ich gewusst hätte, was dieser Zauberstab draußen in der Welt anstellen würde ...«
Er schüttelte den Kopf und bemerkte dann zu Harrys Erleichterung Hagrid.
»Rubeus! Rubeus Hagrid! Wie schön, Sie wieder zu sehen ... Eiche, sechzehn Zoll, recht biegsam, nicht wahr?«
»Ja, Sir, das war er«, sagte Hagrid.
»Guter Stab, muss ich sagen. Aber ich fürchte, man hat ihn zerbrochen, als Sie ausgestoßen wurden?«, sagte Mr. Ollivander plötzlich mit ernster Stimme.
»Ähm - Ja, das haben sie, Ja«, sagte Hagrid und scharrte mit den Füßen. »Hab aber immer noch die Stücke«, fügte er strahlend hinzu.
»Aber Sie benutzen sie nicht, oder?«, sagte Mr. Ollivander scharf.
»O nein, Sir«, sagte Hagrid rasch. Harry bemerkte, dass er seinen rosa Schirm fest umklammerte, während er sprach.
»Hmmm«, sagte Mr. Ollivander und sah Hagrid mit durchdringendem Blick an. »Nun zu Ihnen, Mr. Potter. Schauen wir mal.« Er zog ein langes Bandmaß mit silbernen Strichen aus der Tasche. »Welche Hand ist Ihre Zauberhand?«
»Ähm - ich bin Rechtshänder«, sagte Harry.
»Strecken Sie Ihren Arm aus. Genau so.« Er maß Harry von der Schulter bis zu den Fingerspitzen, dann vom Handgelenk zum Ellenbogen, von der Schulter bis zu den Füßen, vom Knie zur Armbeuge und schließlich von Ohr zu Ohr. Während er mit dem Maßband arbeitete, sagte er: »Jeder Zauberstab von Ollivander hat einen Kern aus einem mächtigen Zauberstoff, Mr. Potter. Wir benutzen Einhornhaare, Schwanzfedern von Phönixen und die Herzfasern von Drachen. Keine zwei Ollivander-Stäbe sind gleich, ebenso wie kein Einhorn, Drache oder Phönix dem andern aufs Haar gleicht. Und natürlich werden Sie mit dem Stab eines anderen Zauberers niemals so hervorragende Resultate erzielen.«
Harry fiel plötzlich auf, dass das Maßband, welches gerade den Abstand zwischen seinen Nasenlöchern maß, dies von selbst tat. Mr. Ollivander huschte zwischen den Regalen herum und nahm Schachteln herunter.
»Das wird reichen«, sagte er, und das Bandmaß schnurrte zu einem Haufen auf dem Boden zusammen. »Nun gut, Mr. Potter. Probieren Sie mal diesen. Buchenholz und Drachenherzfasern. Neun Zoll. Handlich und biegsam. Nehmen Sie ihn einfach mal und schwingen Sie ihn durch die Luft.«
Harry nahm den Zauberstab in die Hand und schwang ihn ein wenig hin und her (wobei er sich albern vorkam), doch Mr. Ollivander riss ihm den Stab gleich wieder weg.
»Ahorn und Phönixfeder. Sieben Zoll. Peitscht so richtig. Versuchen Sie's!«
Harry versuchte es, doch kaum hatte er den Zauberstab erhoben, entriss ihm Mr. Ollivander auch diesen.
»Nein, nein - hier, Elfenbein und Einhornhaare, achteinhalb Zoll, federnd. Nur zu, nur zu, probieren Sie ihn aus.«
Harry probierte. Und probierte. Er hatte keine Ahnung, worauf Mr. Ollivander eigentlich wartete. Der Stapel mit den abgelegten Zauberstäben auf dem storchbeinigen Stuhl wuchs immer höher, doch Je mehr Zauberstäbe Mr. Ollivander von den Regalen zog, desto glücklicher schien er zu werden.
»Schwieriger Kunde, was? Keine Sorge, wir werden hier irgendwo genau das Richtige finden. Ich frage mich Jetzt - Ja, warum eigentlich nicht - ungewöhnliche Verbindung - Stechpalme und Phönixfeder, elf Zoll, handlich und geschmeidig.«
Harry ergriff den Zauberstab. Plötzlich spürte er Wärme in den Fingern. Er hob den Stab über den Kopf und ließ ihn durch die staubige Luft herabsausen. Ein Strom roter und goldener Funken schoss aus der Spitze hervor wie ein Feuerwerk, das tanzende Lichtflecken auf die Wände warf Hagrid Johlte und klatschte, und Mr. Ollivander rief. »Aah, bravo. Ja, in der Tat, oh, sehr gut. Gut, gut, gut ... Wie seltsam ... Ganz seltsam ...«
»Verzeihung«, sagte Harry, »aber was ist seltsam?«
Mr. Ollivander sah Harry mit blassen Augen fest an.
»Ich erinnere mich an Jeden Zauberstab, den ich Je verkauft habe, Mr. Potter. An Jeden einzelnen. Es trifft sich nun, dass der Phönix, dessen Schwanzfeder in Ihrem Zauberstab steckt, noch eine andere Feder besaß - nur eine noch. Es ist schon sehr Seltsam, dass Sie für diesen Zauberstab bestimmt sind, während sein Bruder - nun Ja, sein Bruder Ihnen diese Narbe beigebracht hat.«
Harry schluckte.
»Ja, dreizehneinhalb Zoll. Tja. Wirklich merkwürdig, wie die Dinge zusammentreffen. Der Zauberstab sucht sich den Zauberer, erinnern Sie sich ... Ich denke, wir haben Großartiges von Ihnen zu erwarten, Mr. Potter ... Schließlich hat auch Er-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf Großartiges getan - Schrecklichesja, aber Großartiges.«
Harry schauderte. Er war sich nicht sicher, ob er Mr. Ollivander besonders gut leiden mochte. Er zahlte sieben goldene Galleonen für seinen Zauberstab und Mr. Ollivander geleitete sie mit einer Verbeugung aus der Tür.
Die späte Nachmittagssonne stand tief am Himmel, als sich Harry und Hagrid auf den Rückweg durch die Winkelgasse machten, zurück durch die Mauer, zurück durch den Tropfenden Kessel, der nun menschenleer war. Harry schwieg, während sie die Straße entlanggingen; er bemerkte nicht einmal, wie viele Menschen in der U-Bahn sie mit offenem Munde anstarrten, beladen wie sie waren mit ihren merkwürdigen Päckchen und mit der schlafenden Schneeeule auf Harrys Schoß. Wieder fuhren sie eine Rolltreppe hoch, und hinaus ging es auf den Bahnhof Paddington. Harry erkannte erst, wo sie waren, als Hagrid ihm auf die Schulter klopfte.
»Haben noch Zeit für einen Imbiss, bevor dein Zug geht«, sagte er.
Er kaufte für sich und Harry zwei Hamburger und sie setzten sich auf die Plastiksitze, um sie zu verspeisen. Harry sah sich unablässig um. Alles kam ihm irgendwie fremd vor.
»Alles in Ordnung mit dir, Harry? Du bist Ja ganz still«, sagte Hagrid.
Harry wusste nicht recht, wie er es erklären konnte. Gerade hatte er den schönsten Geburtstag seines Lebens verbracht. Und doch, er kaute an seinem Hamburger und versuchte die richtigen Worte zu finden.
»Alle denken, ich sei etwas Besonderes«, sagte er endlich. »All diese Leute im Tropfenden Kessel, Professor Quirrel, Mr. Ollivander ... Aber ich weiß überhaupt nichts von Zauberei. Wie können sie großartige Dinge von mir erwarten? Ich bin berühmt und ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wofür ich berühmt bin. Ich weiß nicht, was passiert ist, als Vol-, tut mir Leid - ich meine, in der Nacht, als meine Eltern starben.«
Hagrid beugte sich über den Tisch. Hinter dem wilden Bart und den buschigen Augenbrauen entdeckte Harry ein licbevolles Lächeln.
»Mach dir keine Sorgen, Harry. Du wirst alles noch schnell genug lernen. In Hogwarts fangen sie alle ganz von vorne an, es wird dir sicher gut gehen. Sei einfach du selbst. Ich weiß, es ist schwer. Du bist auserwählt worden und das ist immer schwer. Aber du wirst eine tolle Zeit in Hogwarts verbringen - wie ich damals - und heute noch, um genau zu sein.«
Hagrid half Harry in den Zug, der ihn zu den Dursleys zurückbringen würde, und reichte ihm dann einen Umschlag.
»Deine Fahrkarte nach Hogwarts«, sagte er. »Am 1. September Bahnhof King's Cross - steht alles drauf. Wenn du itrgendwelche Schwierigkeiten mit den Dursleys hast, schick mir deine Eule, sie weiß, wo sie mich findet ... Bis bald, Harry.«
Der Zug fuhr aus dem Bahnhof hinaus. Harry wollte Hagrid beobachten, bis er außer Sicht war; er setzte sich auf und drückte die Nase gegen das Fenster. Doch er blinzelte und schon war Hagrid verschwunden.
Abreise von Gleis neundreiviertel
Harrys letzter Monat bei den Dursleys war nicht besonders lustig. Gewiss, Dudley hatte nun so viel Angst vor Harry, dass er nicht im selben Zimmer mit ihm bleiben wollte, und Tante Petunia und Onkel Vernon schlossen Harry nicht mehr in den Schrank ein, zwangen ihn zu nichts und schrien ihn nicht an - in Wahrheit sprachen sie kein Wort mit ihm. Halb entsetzt, halb wütend taten sie, als ob der Stuhl, auf dem Harry saß, leer wäre. So ging es ihm in mancher Hinsicht besser als zuvor, doch mit der Zeit wurde er ein wenig niedergeschlagen.
Harry blieb gerne in seinem Zimmer in Gesellschaft seiner Eule. Er hatte beschlossen, sie Hedwig zu nennen, ein Name, den er in der Geschichte der Zauberei gefunden hatte. Seine Schulbücher waren sehr interessant. Er lag auf dem Bett und las bis spät in die Nacht, während Hedwig durchs offene Fenster hinaus - oder hereinflatterte, wie es ihr gefiel. Ein Glück, dass Tante Petunia nicht mehr mit dem Staubsauger hereinkam, denn andauernd brachte Hedwig tote Mäuse mit. Harry hatte einen Monatskalender an die Wand geheftet, und Jede Nacht, bevor er einschlief, hakte er einen weiteren Tag ab.
Am letzten Augusttag fiel ihm ein, dass er wohl mit Onkel und Tante darüber reden müsse, wie er am nächsten Tag zum Bahnhof King's Cross kommen sollte. Er ging hinunter ins Wohnzimmer, wo sie sich ein Fernsehquiz ansahen. Als er sich räusperte, um auf sich aufmerksam zu machen, schrie Dudley auf und rannte davon.
»Ahm - Onkel Vernon?«
Onkel Vernon grunzte zum Zeichen, dass er hörte.
»Ähm - ich muss morgen nach King's Cross, um ... um nach Hogwarts zu fahren.«
Onkel Vernon grunzte erneut.
»Würde es dir etwas ausmachen, mich hinzufahren?«
Ein Brummen. Harry nahm an, dass es Ja hieß.
»Danke.«
Er war schon auf dem Weg zur Treppe, als Onkel Vernon tatsächlich den Mund aufmachte.
»Komische Art, zu einer Zaubererschule zu kommen, mit dem Zug. Die fliegenden Teppiche haben wohl alle Löcher, was?«
Harry schwieg.
»Wo ist diese Schule überhaupt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Harry, selbst davon überrascht. Er zog die Fahrkarte, die Hagrid ihm gegeben hatte, aus der Tasche.
Ich nehme einfach den Zug um elf Uhr von Gleis neundreiviertel«, las er laut.
Tante und Onkel starrten ihn an.
»Gleis wie viel?«
»Neundreiviertel.«
»Red keinen Stuss«, sagte Onkel Vernon, »es gibt kein Gleis neundreiviertel.«
»Es steht auf meiner Fahrkarte.«
»Total verrückt«, sagte Onkel Vernon, »vollkommen übergeschnappt, das ganze Pack. Du wirst sehen. Wart's nur ab. Gut, wir fahren dich nach King's Cross. Wir müssen morgen ohnehin nach London, sonst würd ich mir die Mühe Ja nicht machen.«
»Warum fahrt ihr nach London?«, fragte Harry, um das Gespräch ein wenig freundlich zu gestalten.
»Wir bringen Dudley ins Krankenhaus«, knurrte Onkel Vernon. »Bevor er nach Smeltings kommt, muss dieser vermaledeite Schwanz weg.«
Am nächsten Morgen wachte Harry um fünf Uhr auf viel zu aufgeregt und nervös, um wieder einschlafen zu können. Er stieg aus dem Bett und zog seine Jeans an, weil er nicht in seinem Zaubererumhang auf dem Bahnhof erscheinen wollte - er würde sich dann im Zug umziehen. Noch einmal ging er die Liste für Hogwarts durch, um sich zu vergewissern, dass er alles Nötige dabei hatte, und schloss Hedwig in ihren Käfig ein. Dann ging er im Zimmer auf und ab, darauf wartend, dass die Dursleys aufstanden. Zwei Stunden später war Harrys riesiger, schwerer Koffer im Wagen der Dursleys verstaut, Tante Petunia hatte Dudley überredet, sich neben Harry zu setzen, und los ging die Fahrt.
Sie erreichten King's Cross um halb elf. Onkel Vernon packte Harrys Koffer auf einen Gepäckwagen und schob ihn in den Bahnhof Harry fand dies ungewöhnlich freundlich von ihm, bis Onkel Vernon mit einem hässlichen Grinsen auf dem Gesicht vor den Bahnsteigen Halt machte.
»Nun, das war's, Junge. Gleis neun - Gleis zehn. Dein Gleis sollte irgendwo dazwischen liegen, aber sie haben es wohl noch nicht gebaut, oder?«
Natürlich hatte er vollkommen Recht. Über dem Bahnsteig hing auf der einen Seite die große Plastikziffer 9, über der anderen die große Plastikziffer 10, und dazwischen war nichts.
»Na dann, ein gutes Schuljahr«, sagte Onkel Vernon mit einem noch hässlicheren Grinsen. Er verschwand ohne ein weiteres Wort zu sagen. Harry wandte sich um und sah die Dursleys wegfahren. Alle drei lachten. Harrys Mund wurde ganz trocken. Was um Himmels willen sollte er tun? Schon richteten sich viele erstaunte Blicke auf ihn - wegen Hedwig. Er musste Jemanden fragen.
Er sprach einen vorbeigehenden Wachmann an, wagte es aber nicht, Gleis neundreiviertel zu erwähnen. Der Wachmann hatte nie von Hogwarts gehört, und als Harry ihm nicht einmal sagen konnte, in welchem Teil des Landes die Schule lag, wurde er zusehends ärgerlich, als ob Harry sich absichtlich dumm anstellen würde. Schon ganz verzweifelt fragte Harry nach dem Zug, der um elf Uhr ging, doch der Wachmann meinte, es gebe keinen. Eine mürrische Bemerkung über Zeitverschwender auf den Lippen ging er schließlich davon. Harry versuchte mit aller Macht, ruhig Blut zu bewahren. Der großen Uhr über der Ankunfttafel nach hatte er noch zehn Minuten, um in den Zug nach Hogwarts zu steigen, und er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Da stand er nun, verloren mitten auf einem Bahnhof, mit einem Koffer, den er kaum vom -Boden heben konnte, einer Tasche voller Zauberergeld und einer großen Eule.
Hagrid musste vergessen haben, ihm zu sagen, dass er etwas Bestimmtes tun sollte, so wie man auf den dritten Backstein zur Linken klopfen musste, um auf die Winkelgasse zu kommen. Sollte er vielleicht seinen Zauberstab herausholen und auf den Fahrkartenschalter zwischen Gleis neun und Gleis zehn klopfen?
In diesem Augenblick ging eine Gruppe von Menschen dicht hinter ihm vorbei und er schnappte ein paar Worte ihrer Unterhaltung auf.
»... voller Muggel, natürlich ...«
Harry wandte sich rasch um. Gesprochen hatte eine kugelrunde Frau, um sie herum vier Jungen, allesamt mit flammend rotem Haar. Jeder der vier schob einen Koffer, so groß wie der Harrys, vor sich her - und sie hatten eine Eule dabei.
Mit klopfendem Herzen schob Harry seinen Gepäckwagen hinter ihnen her. Sie hielten an, und auch Harry blieb stehen, dicht genug hinter ihnen, um sie zu hören.
»So, welches Gleis war es noch mal?«, fragte die Mutter der Jungen.
»Neundreiviertel«, piepste ein kleines Mädchen an ihrer Hand, das ebenfalls rote Haare hatte. »Mammi, kann ich nicht mitgehen ...«
»Du bist noch zu klein, Ginny, und Jetzt sei still. Percy, du gehst zuerst.«
Der offenbar älteste Junge machte sich auf den Weg in Richtung Bahnsteig neun und zehn. Harry beobachtete ihn, angestrengt darauf achtend, nicht zu blinzeln, damit ihm nichts entginge - doch gerade als der Junge die Absperrung zwischen den beiden Gleisen erreichte, schwärmte eine große Truppe Touristen an ihm vorbei, und als der letzte Rucksack sich verzogen hatte, war der Junge verschwunden.
»Fred, du bist dran«, sagte die rundliche Frau.
»Ich bin nicht Fred, ich bin George«, sagte der Junge. »Ehrlich mal, gute Frau, du nennst dich unsere Mutter? Kannst du nicht sehen, dass ich George bin?«
»Tut mir Leid, George, mein Liebling.«
»War nur'n Witz, ich bin Fred«, sagte der Junge, und fort war er. Sein Zwillingsbruder rief ihm hinterher, er solle sich beeilen, und das musste er getan haben, denn eine Sekunde später war er verschwunden - doch wie hatte er es geschafft?
Nun schritt der dritte Bruder zügig auf die Bahnsteigabsperrung zu - er war schon fast dort -, und dann, ganz plötzlich, war er nicht mehr zu sehen.
Er war spurlos verschwunden.
»Entschuldigen Sie«, sagte Harry zu der rundlichen Frau.
»Hallo, mein Junge«, sagte sie. »Das erste Mal nach Hogwarts? Ron ist auch neu.«
Sie deutete auf den letzten und Jüngsten ihrer Söhne. Er war hoch gewachsen, dünn und schlaksig, hatte Sommersprossen, große Hände und Füße und eine kräftige Nase.
»Ja«, sagte Harry. »Die Sache ist die ... ist nämlich die, ich weiß nicht, wie ich ...«
»Wie du zum Gleis kommen sollst?«, sagte sie freundlich, und Harry nickte.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Du läufst einfach schnurstracks auf die Absperrung vor dem Bahnsteig für die Gleise neun und zehn zu. Halt nicht an und hab keine Angst, du könntest dagegen knallen, das ist sehr wichtig. Wenn du nervös bist, dann renn lieber ein bisschen. Nun geh, noch vor Ron.«
»Ähm -ja«, sagte Harry.
Er drehte seinen Gepäckwagen herum und blickte auf die Absperrung. Sie machte einen sehr stabilen Eindruck.
Langsam ging er auf sie zu. Menschen auf dem Weg zu den Gleisen neun oder zehn rempelten ihn an. Harry beschleunigte seine Schritte. Er würde direkt in diesen Fahrkartenschalter knallen, und dann hätte er ein echtes Problem. Er lehnte sich, auf den Wagen gestützt, nach vorn und stürzte nun schwer atmend los - die Absperrung kam immer näher - anhalten konnte er nun nicht mehr -der Gepäckkarren war außer Kontrolle - noch ein halber Meter - er schloss die Augen, bereit zum Aufprall -
Nichts geschah ... Harry rannte weiter ... er öffnete die Augen.
Eine scharlachrote Dampflok stand an einem Bahnsteig bereit, die Waggons voller Menschen. Auf einem Schild über der Lok stand Hogwarts-Express, 11 Uhr. Harry warf einen Blick über die Schulter und sah an der Stelle, wo der Fahrkartenschalter gestanden hatte, ein schmiedeeisernes Tor und darauf die Worte Gleis neundreiviertel. Er hatte es geschafft.
Die Lok blies Dampf über die Köpfe der schnatternden Menge hinweg, während sich hie und da Katzen in allen Farben zwischen den Beinen der Leute hindurchschlängelten. Durch das Geschnatter der Wartenden und das Kratzen der schweren Koffer schrien sich Eulen gegenseitig etwas mürrisch an.
Die ersten Waggons waren schon dicht mit Schülern besetzt. Einige lehnten sich aus den Fenstern und sprachen mit ihren Eltern und Geschwistern, andere stritten sich um Sitzplätze. Auf der Suche nach einem freien Platz schob Harry seinen Gepäckwagen weiter den Bahnsteig hinunter. Er kam an einem Jungen mit rundem Gesicht vorbei und hörte ihn klagen: »Oma, ich hab schon wieder meine Kröte verloren.«
»Ach, Neville«, hörte er die alte Frau seufzen.
Ein kleiner Auflauf hatte sich um einen Jungen mit Rastalocken gebildet.
»Lass uns nur einmal gucken, Lee, komm schon«
Der Junge hob den Deckel einer Schachtel, die er in den Armen hielt, und die Umstehenden kreischten und schrien auf, als ein langes, haariges Bein zum Vorschein kam.
Harry schob sich weiter durch die Menge, bis er fast am
Ende des Zuges ein leeres Abteil fand. Dort stellte er erst einmal Hedwig ab, dann begann er seinen Koffer in Richtung Waggontür zu wuchten. Er versuchte ihn die Stufen hochzuhieven, doch er konnte den Koffer kaum auch nur an einer Seite anheben. Zweimal fiel er ihm auf die Füße und das tat weh.
»Brauchst du Hilfe?« Das war einer der rothaarigen Zwillinge, denen er durch den Fahrkartenschalter gefolgt war.
»Ja, bitte«, keuchte Harry«
»Hallo, Fred! Pack mal mit an!«
Mit Hilfe der Zwillinge verstaute er seinen Koffer schließlich in einer Ecke des Abteils.
»Danke«, sagte Harry und wischte sich die schweißnassen Haare aus der Stirn.
»Was ist denn das?«, rief einer der Zwillinge plötzlich und deutete auf Harrys Blitznarbe.
»Mensch!«, sagte der andere Zwilling. »Bist du -?«
»Er ist es«, sagte der erste Zwilling. »Oder etwa nicht?«, fügte er an Harry gewandt hinzu.
»Wer?«, sagte Harry.
»Harry Potter«, riefen die Zwillinge im Chor.
»oh, der«, sagte Harry. »Ja, allerdings, der bin ich.«
Die beiden Jungen starrten ihn mit offenen Mündern an, und Harry spürte, wie er rot wurde. Dann kam, zu seiner Erleichterung, eine Stimme durch die offene Waggontür hereingeschwebt.
»Fred? George? Seid ihr dadrin?«
»Wir kommen, Mum.«
Mit einem letzten Blick auf Harry sprangen die Zwillinge aus dem Zug.
Harry setzte sich ans Fenster, wo er, halb verdeckt, die rothaarige Familie auf dem Bahnsteig beobachten und ihrem Gespräch lauschen konnte. Die Mutter hatte soeben ein Taschentuch hervorgezogen.
»Ron, du hast was an der Nase.«
Der Jüngste versuchte sich loszureißen, doch sie packte ihn und fing an seine Nase zu Putzen.
»Mum - hör auf,« Er wand sich los.
»Aaah, hat Ronniespätzchen etwas an der Nase?«, sagte einer der Zwillinge.
»Halt den Mund«, sagte Ron.
»Wo ist Percy?«, fragte die Mutter.
»Da kommt er.«
Der älteste Junge kam angeschritten. Er hatte bereits seinen wogenden schwarzen Hogwarts-Umhang angezogen, und Harry bemerkte ein schimmerndes Silberabzeichen mit dem Buchstaben V auf seiner Brust.
»Kann nicht lange bleiben, Mutter«, sagte er. »Ich bin ganz vorn, die Vertrauensschüler haben zwei Abteile für sich.«
»Oh, du bist Vertrauensschüler, Percy?«, sagte einer der Zwillinge und tat ganz überrascht. »Hättest du doch etwas gesagt, wir wussten Ja gar nichts davon.«
»Warte, mir ist, als hätte er mal was erwähnt«, sagte der andere Zwilling. »Einmal -«
»Oder auch zweimal -«
»So nebenbei -«
»Den ganzen Sommer über -«
»Ach, hört auf«, sagte Percy der Vertrauensschüler.
»Warum hat Percy eigentlich einen neuen Umhang?«, fragte einer der Zwillinge.
»Weil er ein Vertrauensschüler ist«, sagte die Mutter vergnügt. »Nun gut, mein Schatz, ich wünsch dir ein gutes Schuljahr - und schick mir eine Eule, wenn du angekommen bist.«
Sie küsste Percy auf die Wange und er verabschiedete sich. Dann wandte sie sich den Zwillingen zu.
»Und Jetzt zu euch beiden. Dieses Jahr benehmt ihr euch. Wenn ich noch einmal eine Eule bekomme, die mir sagt, dass ihr - dass ihr ein Klo in die Luft gejagt habt oder -«
»Ein Klo in die Luft gejagt? Wir haben noch nie ein Klo in die Luft gejagt.«
»Ist aber eine klasse Idee, danke, Mum.«
»Das ist nicht lustig. Und passt auf Ron auf.«
»Keine Sorge, Ronniespätzchen ist sicher mit uns.«
»Haltet den Mund«, sagte Ron erneut. Er war schon fast so groß wie die Zwillinge, und seine Nase war dort, wo die Mutter sie geputzt hatte, immer noch rosa.
»He, Mum, weißt du was? Rate mal, wen wir im Zug getroffen haben!«
Harry lehnte sich rasch zurück, damit sie nicht sehen konnten, dass er sie beobachtete.
»Weißt du noch, dieser schwarzhaarige Junge, der im Bahnhof neben uns stand? Weißt du, wer das ist?«
»Wer?«
»Harry Potter!«
Harry hörte die Stimme des kleinen Mädchens.
»Oh, Mum, kann ich in den Zug gehen und ihn sehen? Mum, bitte .. .«
»Du hast ihn schon gesehen, Ginny, und der arme Junge ist kein Tier, das man sich anguckt wie im Zoo. Ist er es wirklich, Fred? Woher weißt du das?«
»Hab ihn gefragt. Hab seine Narbe gesehen. Es gibt sie wirklich - sieht aus wie ein Blitz.«
»Der Arme - kein Wunder, dass er allein war. Er hat Ja so höflich gefragt, wie er auf den Bahnsteig kommen soll.«
»Schon gut, aber glaubst du, er erinnert sich daran, wie Du-weißt-schon-wer aussieht?«
Ihre Mutter wurde plötzlich sehr ernst.
»Ich verbiete dir, ihn danach zu fragen, Fred. Wag es Ja nicht. Das hat ihm gerade noch gefehlt, dass er an seinem ersten Schultag daran erinnert wird.«
»Schon gut, reg dich ab.«
Ein Pfiff gellte über den Bahnsteig.
»Beeilt euch«, sagte die Mutter, und die drei Jungen stiegen in den Zug. Sie lehnten sich aus dem Fenster für einen Abschiedskuss, und ihre kleine Schwester begann zu weinen.
»Nicht doch, Ginny, wir senden dir kistenweise Eulen.«
»Wir schicken dir eine Klobrille aus Hogwarts.«
»George!«
»War nur 'n Witz, Mum.«
Mit einem Ruck fuhr der Zug an. Harry sah die Mutter der Jungen und die kleine Schwester halb lachend, halb weinend zum Abschied winken. Sie rannten mit, bis der Zug zu schnell wurde, dann blieben sie stehen und winkten.
Der Zug ging in eine Kurve und Harry verlor das Mädchen und seine Mutter aus den Augen. Vor dem Fenster zogen Häuser vorbei. Plötzlich war Harry ganz aufgeregt. Er wusste nicht, was ihn erwartete - doch besser als das, was er zurückließ, musste es allemal sein.
Die Abteiltür glitt auf und der Jüngste der Rotschöpfe kam herein.
»Sitzt da Jemand?«, fragte er und deutete auf den Sitz gegenüber von Harry. »Der ganze Zug ist nämlich voll.«
Harry schüttelte den Kopf und der Junge setzte sich. Er warf Harry einen schnellen Blick zu und sah dann schweigend aus dem Fenster. Harry sah, dass er immer noch einen schwarzen Fleck auf der Nase hatte.
»He, Ron.«
Da waren die Zwillinge wieder.
»Hör mal, wir gehen weiter in die Mitte. Lee Jordan hat eine riesige Tarantel.«
»Macht nur«, murmelte Ron.
»Harry«, sagte der andere Zwilling, »haben wir uns eigentlich schon vorgestellt? Fred und George Weasley. Und das hier ist Ron, unser Bruder. Bis später dann.«
»Tschau«, sagten Harry und Ron. Die Zwillinge schoben die Abteiltür hinter sich zu.
»Bist du wirklich Harry Potter?«, kam es aus Ron hervorgesprudelt.
Harry nickte.
»Aah, gut, ich dachte, es wäre vielleicht wieder so ein Scherz von Fred und George«, sagte Ron. »Und hast du wirklich ... du weißt schon ...« Er deutete auf Harrys Stirn.
Harry strich sich die Haare aus dem Gesicht und zeigte ihm die Blitznarbe. Ron machte große Augen.
»Also hier hat Du-weißt-schon-wer ...«
»Ja«, sagte Harry, »aber ich kann mich nicht daran erinnern.«
»An nichts?«, fragte Ron netigienig.
»Naja, ich erinnere mich noch, dass überall grünes Licht war, aber an sonst nichts.«
»Mensch«, sagte Ron. Er saß da, starrte Harry einige Zeit lang an und dann, als sei ihm plötzlich klar geworden, was er da tat, wandte er seine Augen rasch wieder aus dem Fenster.
»Sind alle in eurer Familie Zauberer?«, fragte Harry, der Ron genauso interessant fand wie Ron ihn.
»Ähm - ja, ich denke schon«, sagte Ron. »Ich glaube, Mum hat noch einen zweiten Vetter, der Buchhalter ist, aber wir reden nie über ihn.«
»Dann musst du schon viel vom Zaubern verstehen.«
Die Weasleys waren offensichtlich eine dieser alten Zaubererfamilien, von denen der blasse Junge in der Winkelgasse gesprochen hatte.
»Ich hab gehört, dass du bei den Muggeln gelebt hast«, sagte Ron. »Wie sind die?«
»Fürchterlich - naja, nicht alle. Meine Tante, mein Onkel und mein Vetter Jedenfalls. Ich wünschte, ich hätte auch drei Zaubererbrüder.«
»Fünf«, sagte Ron. Aus irgendeinem Grund verdüsterte sich seine Miene. »Ich bin der sechste in unserer Familie, der nach Hogwarts geht. Und das heißt, in mich setzt man hohe Erwartungen. Bill und Charlie sind schon nicht mehr dort - Bill war Schulsprecher und Charlie war Kapitän der Quidditch-Mannschaft. Und Percy ist jetzt Vertrauensschüler. Fred und George machen zwar eine Menge Unsinn, aber sie haben trotzdem ganz gute Noten und sind beliebt. Alle erwarten von mir, dass ich so gut bin wie die andern, aber wenn ich es schaffe, ist es keine große Sache, weil sie es schon vorgernacht haben. Außerdem kriegst du nie etwas Neues, wenn du fünf Brüder hast. Ich habe den alten Umhang von Bill, den alten Zauberstab von Charlie und die alte Ratte von Percy.«
Ron schob die Hand in die Jacke und zog eine fette, graue, schlafende Ratte hervor.
»Ihr Name ist Krätze und sie ist nutzlos, sie pennt immer. Percy hat von meinem Dad eine Eule bekommen, weil er Vertrauensschüler wurde, aber sie konnten sich keine - ich meine, ich habe stattdessen Krätze bekommen.«
Rons Ohren färbten sich rosa. Offenbar glaubte er, er habe jetzt zu viel gesagt, denn er sah jetzt wieder aus dem Fenster.
Harry fand es überhaupt nicht schlimm, wenn jemand sich keine Eule leisten konnte. Schließlich hatte er bis vor einem Monat keinen Penny gehabt, und er erzählte Ron auch, dass er immer Dudleys alte Klamotten tragen musste und nie ein richtiges Geburtstagsgeschenk bekommen hatte. Das schien Ron ein wenig aufzumuntern.
»... und bis Hagrid es mir gesagt hat, wusste ich überhaupt nicht, dass ich ein Zauberer bin, und auch nichts von meinen Eltern und Voldemort.«
Ron stockte der Atem.
»Was ist?«, fragte Harry.
»Du hast Du-weißt-schon-wer beim Namen genannt!«, sagte Ron, entsetzt und beeindruckt zugleich. »Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet du -«
»Ich möchte nicht so tun, als ob ich besonders mutig wäre, wenn ich den Namen sage«, antwortete Harry. »Ich habe einfach nie gewusst, dass man es nicht tun sollte. Verstehst du? Ich hab noch eine Menge zu lernen ... Ich wette«, fuhr er fort und redete sich etwas von der Seele, das ihm seit kurzem viel Sorge bereitete, »ich wette, ich bin der Schlechteste in der Klasse.«
»Das glaube ich nicht. Es gibt eine Menge Leute aus Muggelfamilien und sie lernen trotzdem schnell.«
Während sie sich unterhielten, hatte der Zug London hinter sich gelassen. Wiesen mit Kühen und Schafen zogen nun schnell an ihnen vorbei. Eine Weile schwiegen sie und schauten hinaus auf Felder und Wege.
Um halb zwölf drang vom Gang ein lautes Geklirre und Geklapper herein, und eine Frau mit Grübchen in den Wangen schob die Tür auf und sagte lächelnd: »Eine Kleinigkeit vom Wagen gefällig, ihr Süßen?«
Harry, der nicht gefrühstückt hatte, sprang auf, doch Rons Ohren liefen wieder rosa an. Er habe Stullen dabei, nuschelte er. Harry trat hinaus in den Gang.
Bei den Dursleys hatte er nie Geld für Süßigkeiten gehabt, und nun, mit den Taschen voll klimpernder Gold- und Silbermünzen, hatte er große Lust, so viele Schokoriegel zu kaufen, wie er nur tragen konnte, doch die Frau hatte keine Schokoriegel. Es gab Bertie Botts Bohnen in allen Geschmacksrichtungen, Bubbels Besten Blaskaugummi, Schokofrösche, Kürbispasteten, Kesselkuchen, Lakritz-Zauberstäbe und einige andere seltsame Dinge, die Harry noch nie gesehen hatte. Damit ihm auch nichts entginge, nahm er von allem etwas und zahlte der Frau elf Silbersickel und sieben Bronzeknuts.
Ron machte große Augen, als Harry mit all den Sachen ins Abteil zurückkam und sie auf einen leeren Sitz fallen ließ.
»Bist wohl ziemlich hungrig?«
»Ich verhungere gleich«, sagte Harry und nahm einen großen Bissen von einer Kürbispastete.
Ron hatte ein klobiges Papierbündel herausgeholt und es aufgewickelt. Drin waren vier belegte Brote. Er zog eins davon auseinander und sagte: »Sie vergisst immer, dass ich kein Corned Beef inag.«
»Ich tausch es für eine hiervon«, sagte Harry und hielt eine Pastete hoch. »Na los -«
»Das Brot magst du sicher nicht, es ist ganz trocken«, sagte Ron. »Sie hat nicht viel Zeit«, fügte er rasch hinzu, »mit gleich fünfen von uns, du weißt ja.«
»Ach, komm schon, nimm dir eine Pastete«, sagte Harry, der noch nie etwas zu teilen gehabt hatte oder auch nur jemanden, mit dem er etwas hätte teilen können. Es war ein gutes Gefühl, hier mit Ron zu sitzen und sich durch all seine Pasteten und Kuchen zu futtern (die Stullen hatten sie längst vergessen).
»Was ist das?«, fragte Harry und hielt eine Schachtel Schokofrösche hoch. »Das sind keine echten Frösche, oder?« Allmählich hatte er das Gefühl, dass ihn nichts mehr überraschen vrürde.
»Nein«, sagte Ron. »Aber schau nach, was auf der Karte ist, mir fehlt noch Agrippa.«
»Was?«
»Ach, das weißt du natürlich nicht! In den Schokofröscheu sind Bildkarten von berühmten Hexen und Zauberern zum Sammeln. Ich habe über fünfhundert, aber mir fehlen noch Agrippa und Ptolemäus.«
Harry wickelte den Schokofrosch aus und entnahm die Karte. Sie zeigte das Gesicht eines Mannes. Er trug eine Lesebrille, hatte eine lange, krumme Nase, wehendes Silberhaar und einen mächtigen Vollbart. Unter dem Bild stand der Name Albus Dumbledore.
»Das ist also Dumbledore«, rief Harry.
»Sag bloß, du hast noch nie von Dumbledore gehört!«, rief Ron. »Kann ich einen Frosch haben? Vielleicht ist Agrippa drin. - Danke.«
Harry drehte seine Karte um und las:
Albus Dumbledore, gegenwärtig Schulleiter von Hogwarts.
Gilt bei vielen als der größte Zauberer derjüngeren Geschichte.
Durnbledores Ruhm beruht vor allem auf seinem Sieg über den schwarzen Magier Grindelwald imjahre 1945, auf der Entdeckung der sechs Anwendungen für Drachenmilch und auf seinem Werk über Alchernie, verfasst zusammen mit seinem Partner Nicolas Flamel. In seiner Freizeit hört Professor Dumbledore mit Vorliebe Kammermusik und spielt Bowling.
Harry drehte die Karte wieder um und stellte verblüfft fest, dass Durnbledores Gesicht verschwunden war.
»Er ist weg!«
»Tja, du kannst nicht erwarten, dass er den ganzen Tag hier rumhängt«, sagte Ron. »Er wird schon wieder kommen. Ach nein, ich hab schon wieder Morgana; von der hab ich doch schon sechs Stück ... willst du Sie? Du könntest anfangen zu sammeln.«
Rons Augen wanderten hinüber zu dem Haufen Schokofrösche, die nur darauf warteten, ausgewickelt zu werden.
»Bedien dich«, sagte Harry. »Aber in der ... in der Muggelwelt bleiben die Leute einfach sichtbar.«
»Wirklich? Soll das heißen, sie bewegen sich überhaupt nicht?« Ron klang verblüfft. »Komisch!«
Harry machte große Augen, als Dumbledore wieder ins Bild auf seiner Karte huschte und ihn kaum merklich anlächelte. Ron war mehr daran interessiert, die Frösche zu verspeisen, als die Karten mit den berühmten Hexen und Zauberern zu betrachten, doch Harry konnte seine Augen nicht von ihnen abwenden. Bald besaß er nicht nur Dumbledore und Morgana, sondern auch Hengis von Woodcroft, Alberich Grunnion, Circe, Paracelsus und Merlin. Schließlich wandte er mit Mühe die Augen von der Druidin Cliodna ab, die sich gerade an der Nase kratzte, und öffnete eine Tüte Bertie Botts Bohnen aller Geschmacksrichtungen.
»Sei bloß vorsichtig mit denen«, warnte ihn Ron. »Wenn sie sagen jede Geschmacksrichtung, dann meinen sie es auch. - Du kriegst zwar alle gewöhnlichen wie Schokolade und Pfefferminz und Erdbeere, aber auch Spinat und Leber und Kutteln. George meint, er habe mal eine mit Popelgeschmack gehabt.«
Ron nahm sich eine grüne Bohne, studierte sie sorgfältig und biss sich ein Stück ab.
»Ääähhh - siehst du? Sprösslinge.«
Die Bohnen jeder Geschmacksrichtung zu essen machte ihnen Spaß. Harry hatte Toast, Kokosnuss, gebackene Bohnen, Erdbeere, Curry, Gras, Kaffee und Sardine und war sogar kühn genug, um das Ende einer merkwürdigen grauen Bohne anzuknabbern, die Ron nicht einmal anfassen wollte. Sie schmeckte nach Pfeffer.
Die Landschaft, die nun am Fenster vorbeiflog, wurde zunehmend wilder. Die ordentlich bestellten Felder waren verschwunden. Jetzt sahen sie Wälder, verschlungene Flüsse und dunkelgrüne Hügel.
An der Abteiltür klopfte es, und derjunge mit dem runden Gesicht, an dem Harry auf dem Bahnsteig vorbeigegangen war, kam herein. Er sah ganz verweint aus.
»Tut mir Leid«, sagte er, »aber habt ihr vielleicht eine Kröte gesehen?«
Als sie die Köpfe schüttelten, fing er an zu klagen: »Ich hab sie verloren. Immer haut sie ab!«
»Sie wird schon wieder auftauchen«, sagte Harry.
»Ja«, sagte derjunge verzweifelt. »Gut, falls ihr sie seht ...
Er verschwand wieder.
»Weiß nicht, warum er sich so aufregt«, sagte Ron. »Wenn ich eine Kröte mitgebracht hätte, dann wär ich sie so schnell wie möglich losgeworden. Doch was soll's, hab ja Krätze mitgebracht, ich sollte also lieber den Mund halten.«
Die Ratte döste immer noch auf Rons Schoß.
»Sie könnte inwischen gestorben sein, ohne dass ich es gemerkt hätte«, sagte Ron voller Abscheu. »Gestern hab ich versucht, sie gelb zu färben, damit sie interessanter aussieht, aber der Spruch hat nicht gewirkt. Ich zeig's dir, schau mal ...«
Er stöberte in seinem Koffer herum und zog einen arg in Mitleidenschaft genommenen Zauberstab hervor. An manchen Stellen war er angeschnitten und etwas Weißes glitzerte an der Spitze.
»Das Einhornhaar kommt schon fast raus. Egal -«
Gerade hatte er seinen Zauberstab erhoben, als die Abteiltür erneut aufgeschoben wurde. Wieder war es der krötenlose Junge, doch diesmal war ein Mädchen bei ihm. Sie trug schon jetzt ihren neuen Hogwarts-Umhang.
»Hat jemand eine Kröte gesehen? Neville hat seine verloren«, sagte sie mit gebieterischer Stimme. Sie hatte einen üppigen braunen Haarschopf und recht lange Vorderzähne.
»Wir haben ihm schon gesagt, dass wir sie nicht gesehen haben«, erklärte Ron. Doch das Mädchen hörte nicht zu, sondern betrachtete den Zauberstab in seiner Hand.
»Aha, du bist gerade am Zaubern? Dann lass mal sehen.«
Sie setzte sich. Ron sah verlegen aus.
»Ähm - na gut.«
Er räusperte sich.
»Eidotter, Gänsekraut und Sonnenschein,
Gelb soll diese fette Ratte sein.«
Er wedelte mit dem Zauberstab durch die Luft, doch nichts passierte. Krätze blieb bei seiner grauen Farbe und schlief munter weiter.
»Bist du sicher, dass das ein richtiger Zauberspruch ist?«, sagte das Mädchen. »Jedenfalls ist er nicht besonders gut. Ich hab selbst ein paar einfache Sprüche probiert, nur zum Üben, und bei mir hat's immer geklappt. Keiner in meiner Familie ist magisch, es war ja so eine Überraschung, als ich meinen Brief bekommen hab, aber ich hab mich unglaublich darüber gefreut, es ist nun einmal die beste Schule für Zauberei, die es gibt, wie ich gehört hab - ich hab natürlich alle unsere Schulbücher auswendig gelernt, ich hoffe nur, das reicht. Übrigens, ich bin Hermine Granger, und wer seid ihr?«
Das alles sprudelte in atemberaubender Geschwindigkeit aus ihr heraus.
Harry sah Ron an und war erleichtert, in seinem verblüfften Gesicht ablesen zu können, dass auch er nicht alle Schulbücher auswendig gelernt hatte.
»Ich bin Ron Weasley«, murmelte Ron.
»Harry Potter«, sagte Harry.
»Ach tatsächlich?«, sagte Hermine. »Natürlich weiß ich alles über dich, ich hab noch ein paar andere Bücher, als Hintergrundlektüre, und du stehst in der Geschichte der modernen Magie, im Aufstieg und Niedergang der dunklen Künste und in der Großen Chronik der Zauberei des zwanzigstenjahrhunderts.«
»Nicht zu fassen«, sagte Harry, etwas schwurbelig im Kopf
»Meine Güte, hast du das nicht gewusst, ich jedenfalls hätte alles über mich rausgefunden, wenn ich du gewesen wäre«, sagte Hermine. »Wisst ihr eigentlich schon, in welches Haus ihr kommt? Ich hab herumgefragt und hoffentlich komme ich nach Gryffindor, da hört man das Beste, es heißt, Dumbledore selber war dort, aber ich denke, Ravenclaw wär auch nicht schlecht ... Gut denn, wir suchen jetzt besser weiter nach Nevilles Kröte. Übrigens, ihr beide solltet euch lieber umziehen, ich glaube, wir sind bald da.«
Den krötenlosen Jungen im Schlepptau zog sie von dannen.
»Egal, in welches Haus ich komme, Hauptsache, die ist woanders«, sagte Ron. Er warf seinen Zauberstab in den Koffer zurück. »Blöder Spruch, ich hab ihn von George. Wette, er hat gewusst, dass es ein Blindgänger ist.«
»In welchem Haus sind deine Brüder?«, fragte Harry.
»Gryffindor«, sagte Ron. Wieder schienen ihn düstere Gedanken gefangen zu nehmen. »Mum und Dad waren auch dort. Ich weiß nicht, was sie sagen werden, wenn ich woanders hinkomme. Ravenclaw wäre sicher nicht allzu schlecht, aber stell dir vor, sie stecken mich nach Slytherin.«
»Das ist das Haus, in dem Vol-, ich meine, Du-weißtschon-wer war?«
»Ja«, sagte Ron. Er ließ sich mit trübseliger Miene in seinen Sitz zurückfallen.
»Weißt du was, mir kommen die Spitzen von Krätzes Schnurrhaaren doch etwas heller vor«, sagte Harry, um Ron abzulenken. »Und was machen jetzt eigentlich deine älteren Brüder, wo sie aus der Schule sind?«
Harry war neugierig, was ein Zauberer wohl nach der Schule anstellen mochte.
»Charlie ist in Rumänien und erforscht Drachen und Bill ist in Afrika und erledigt etwas für Gringotts«, sagte Ron. »Hast du von Gringotts gehört? Es kam ganz groß im Tagespropheten, aber den kriegst du wohl nicht bei den Muggeln: Jemand hat versucht ein Hochsicherheitsverlies auszurauben.«
Harry starrte ihn an. »Wirklich? Und weiter?«
»Nichts, darum hat die Sache ja Schlagzeilen gemacht. Man hat sie nicht erwischt. Mein Dad sagt, es muss ein mächtiger schwarzer Magier gewesen sein, wenn er bei Gringotts eindringen konnte, aber sie glauben nicht, dass sie etwas mitgenommen haben, und das ist das Merkwürdige daran. Natürlich kriegen es alle mit der Angst zu tun, wenn so etwas passiert, es könnte Ja Du-weißt-schon-wer dahinter stecken.«
Harry dachte über diese Neuigkeit nach. Inzwischen spürte er immer ein wenig Angst in sich hochkribbeln, wenn der Name von Du-weißt-schon-wer fiel. Das gehörte wohl dazu, wenn man in die Welt der Zauberer eintrat, doch es war viel einfacher gewesen, »Voldemort« zu sagen, ohne sich deswegen zu beunruhigen.
»Für welche Quidditch-Mannschaft bist du eigentlich?«, fragte Ron.
»Ähm - ich kenne gar keine«, gestand Harry.
»Was?« Ron sah ihn verdutzt an. »Ach, wart's nur ab, das ist das beste Spiel der Welt -« Und dann legte er los und erklärte alles über die vier Bälle und die Positionen der sieben Spieler, beschrieb berühmte Spiele, die er mit seinen Brüdern besucht hatte, und den Besen, den er gerne kaufen würde, wenn er das Geld dazu hätte. Gerade war er dabei, Harry in die raffinierteren Züge des Spiels einzuführen, als die Abteiltür wieder aufging. Doch diesmal waren es weder Neville, der krötenlose Junge, noch Hermine Granger.
Drei Jungen traten ein und Harry erkannte sofort den mittleren von ihnen: Es war der blasse Junge aus Madam Malkins Laden. Er musterte Harry nun viel interessierter als in der Winkelgasse.
»Stimmt es?«, sagte er. »Im ganzen Zug sagen sie, dass Harry Potter in diesem Abteil ist. Also du bist es?«
»Ja«, sagte Harry. Er sah die anderen Jungen an. Beide waren stämmig und wirkten ziemlich fies. Wie sie da zur Rechten und zur Linken des blassenjungen standen, sahen sie aus wie seine Leibwächter.
»Oh, das ist Crabbe und das ist Goyle«, bemerkte der blasse Junge lässig, als er Harrys Blick folgte. »Und mein Name ist Malfoy. Draco Malfoy.«
Von Ron kam ein leichtes Husten, das sich anhörte wie ein verdruckstes Kichern.
Draco Malfoy sah ihn an.
»Meinst wohl, mein Name ist komisch, was? Wer du bist, muss man ja nicht erst fragen. Mein Vater hat mir gesagt, alle Weasleys haben rotes Haar, Sommersprossen und mehr Kinder, als sie sich leisten können.«
Er wandte sich wieder Harry zu.
»Du wirst bald feststellen, dass einige Zaubererfamillen viel besser sind als andere, Potter. Und du wirst dich doch nicht etwa mit der falschen Sorte abgeben. Ich könnte dir behilflich sein.«
Er streckte die Hand aus, doch Harry machte keine Anstalten, ihm die seine zu reichen.
»Ich denke, ich kann sehr gut selber entscheiden, wer zur falschen Sorte gehört«, sagte er kühl.
Draco Malfoy wurde nicht rot, doch ein Hauch Rosa erschien auf seinen blassen Wangen.
»Ich an deiner Stelle würde mich vorsehen, Potter«, sagte er langsam. »Wenn du nicht ein wenig höflicher bist, wird es dir genauso ergehen wie deinen Eltern. Die wussten auch nicht, was gut für sie war. Wenn du dich mit Gesindel wie den Weasleys und diesem Hagrid abgibst, wird das auf dich abfärben.«
Harry und Ron erhoben sich. Rons Gesicht war nun so rot wie sein Haar.
»Sag das noch mal«, sagte er.
»Oh, ihr wollt euch mit uns schlagen?«, höhnte Malfoy.
»Außer ihr verschwindet sofort«, sagte Harry, was mutiger klang, als er sich fühlte, denn Crabbe und Goyle waren viel kräftiger als er und Ron.
»Aber uns ist überhaupt nicht nach Gehen zumute, oder, Jungs? Wir haben alles aufgefuttert, was wir hatten, und bei euch gibt's offenbar noch was.«
Goyle griff nach den Schokofröschen neben Ron. Ron machte einen Sprung nach vorn, doch bevor er Goyle auch nur berührt hatte, entfuhr diesem ein fürchterlicher Schrei.
Krätze, die Ratte, baumelte von Goyles Zeigefinger herab, ihre scharfen kleinen Zähne tief in seine Knöchel versenkt - Crabbe und Malfoy wichen zur Seite, als der Jaulende Goyle Krätze weit im Kreis herumschwang. Als Krätze schließlich wegflog und gegen das Fenster klatschte, verschwanden alle drei auf der Stelle. Vielleicht dachten sie, noch mehr Ratten würden zwischen den Süßigkeiten lauern, oder vielleicht hatten sie Schritte gehört, denn einen Augenblick später trat Hermine Granger ein.
»Was war hier los?«, sagte sie und blickte auf die Naschereien, die auf dem Boden verstreut lagen. Ron packte Krätze am Schwanz und hob ihn hoch.
»Ich denke, er ist k. o. gegangen«, sagte Ron zu Harry gewandt. Er besah sich Krätze näher. »Nein - doch nicht. Ist wohl wieder eingeschlafen.«
Und so war es.
»Hast du Malfoy schon einmal getroffen?«
Harry erzählte von ihrer Begegnung in der Winkelgasse.
»Ich hab von seiner Familie gehört«, sagte Ron in düsterem Ton. »Sie gehörten zu den Ersten, die auf unsere Seite zurückkehrten, nachdem Du-weißt-schon-wer verschwunden war. Sagten, sie seien verhext worden. Mein Dad glaubt nicht daran. Er sagt, Malfoys Vater brauchte keine Ausrede, um auf die dunkle Seite zu gehen.« Er wandte sich Hermine zu. »Können wir dir behilflich sein?«
»Ich schlage vor, ihr beeilt euch ein wenig und zieht eure Umhänge an. Ich war gerade vorn beim Lokführer, und er sagt, wir sind gleich da. Ihr habt euch nicht geschlagen, oder? Ihr kriegt noch Schwierigkeiten, bevor wir überhaupt da sind!«
»Krätze hat gekämpft, nicht wir«, sagte Ron und blickte sie finster an. »Würdest du bitte gehen, damit wir uns umziehen können?«
»Schon gut. Ich bin nur reingekommen, weil sich die Leute draußen einfach kindisch aufführen und ständig die Gänge auf und ab rennen«, sagte Hermine hochnäsig. »Und übrigens, du hast Dreck an der Nase, weißt du das?«
Unter dem zornfunkelnden Blick von Ron ging sie schließlich hinaus.
Harry sah aus dem Fenster. Es wurde langsam dunkel. Unter einem tief purpurrot gefärbten Himmel konnte er noch Berge und Wälder erkennen. Der Zug schien langsamer zu werden.
Die beiden legten die Jacken ab und zogen ihre langen schwarzen Umhänge an. Rons Umhang war ein wenig zu kurz für ihn, man konnte seine Trainingshosen darunter sehen.
Eine Stimme hallte durch den Zug: »In fünf Minuten kommen wir in Hogwarts an. Bitte lassen Sie Ihr Gepäck im Zug, es wird für Sie zur Schule gebracht.«
Harry spürte ein Ziehen im Magen und Ron sah unter seinen Sommersprossen ganz blass aus. Sie stopften sich den letzten Rest Süßigkeiten in die Taschen und traten hinaus auf den Gang, der schon voller Schüler war.
Der Zug bremste und kam zum Stillstand. Alles drängelte sich durch die Tür und hinaus auf einen kleinen, dunklen Bahnsteig. Harry zitterte in der kalten Abendluft. Plötzlich erhob sich über ihren Köpfen der Schein einer Lampe und Harry hörte eine vertraute Stimme: »Erstklässler! Erstklässler hier rüber! Alles klar, Harry?«
Hagrids großes, haariges Gesicht strahlte ihm über das Meer von Köpfen hinweg entgegen.
»Nu mal los, mir nach - noch mehr Erstklässler da? Passt auf, wo ihr hintretet! Erstklässler mir nach!«
Rutschend und stolpernd folgten sie Hagrid einen steilen, schmalen Pfad hinunter. Um sie her war es so dunkel, dass Harry vermutete, zu beiden Seiten müssten dichte Bäume stehen. Kaum jemand sprach ein Wort. Neville, der Junge, der immer seine Kröte verlor, schniefte hin und wieder.
»Augenblick noch, und ihr seht zum ersten Mal in eurem Leben Hogwarts«, rief Hagrid über die Schulter, »nur noch um diese Biegung hier.«
Es gab ein lautes »Oooooh!«.
Der enge Pfad war plötzlich zu Ende und sie standen am Ufer eines großen schwarzen Sees. Drüben auf der anderen Seite, auf der Spitze eines hohen Berges, die Fenster funkelnd im rabenschwarzen Himmel, thronte ein gewaltiges Schloss mit vielen Zinnen und Türmen.
»Nicht mehr als vier in einem Boot!«, rief Hagrid und deutete auf eine Flotte kleiner Boote, die am Ufer dümpelten. Harry und Ron sprangen in eines der Boote und ihnen hinterher Neville und Hermine.
»Alle drin?«, rief Hagrid, der ein Boot für sich allein hatte. »Nun denn - VORWÄRTS!«
Die kleinen Boote setzten sich gleichzeitig in Bewegung und glitten über den spiegelglatten See. Alle schwiegen und starrten hinauf zu dem großen Schloss. Es thronte dort oben, während sie sich dem Felsen näherten, auf dem es gebaut war.
»Köpfe runter«, rief Hagrid, als die ersten Boote den Felsen erreichten; sie duckten sich, und die kleinen Boote schienen durch einen Vorhang aus Efeu zu schweben, der sich direkt vor dem Felsen auftat. Sie glitten durch einen dunklen Tunnel, der sie anscheinend in die Tiefe unterhalb des Schlosses führte, bis sie eine Art unterirdischen Hafen erreichten und aus den Booten kletterten.
»He, du da! Ist das deine Kröte?«, rief Hagrid, der die Boote musterte, während die Kinder ausstiegen.
»Trevor!«, schrie Neville selig vor Glück und streckte die Hände aus. Dann stiefelten sie hinter Hagrids Lampe einen Felsgang empor und kamen schließlich auf einer weichen, feuchten Wiese im Schatten des Schlosses heraus.
Sie gingen eine lange Steintreppe hoch und versammelten sich vor dem riesigen Eichentor des Schlosses.
»Alle da? Du da, hast noch deine Kröte?«
Hagrid hob seine gewaltige Faust und klopfte dreimal an das Schlosstor.
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