Der Feind (elfboi, 19. Oktober 2004)
Wie wir alle sicherlich bereits wissen, ist unsere Zivilisation in einem desolaten Zustand. Der ganze Planet ist in einem desolaten Zustand. Menschen werden ausgebeutet, für Geld. Ökosysteme werden zerstört, für Geld. Unzählige Tier- und Pflanzenarten sterben aus, damit Geld eingenommen oder wenigstens weniger Geld ausgegeben wird.
Warum passiert das? Wieso tun Menschen so etwas? Warum tut niemand etwas dagegen, wenn doch alle inzwischen wissen, was verkehrt läuft?
Die Antwort: Kapitalismus. Wir stecken in diesem System, und keiner traut sich, auszusteigen. Wenn mal einige Leute für eine Weile erfolgreich aussteigen, reagiert das System mit einer Immunreaktion und sorgt dafür, daß diese Leute recht schnell erfolgreich reintegriert oder abgekapselt werden, entweder durch wirtschaftliche Zwänge oder Gewalt, wie Polizei oder Militär. Solange das System nicht von selbst zusammenbricht, scheint es unmöglich, dagegen anzugehen.
Wie konnte es soweit kommen? Nun, irgendwann vor einigen Jahrhunderten kamen ein paar schlaue Leute auf die Idee, nicht mehr persönlich haften zu wollen, wenn ihre Firma Mist gebaut hatte, und überlegten sich juristische Konstrukte, durch die Firmen zu »Personen« erklärt werden konnten, und diese »Personen« trugen ab sofort die Verantwortung, nicht mehr die realen Menschen, aus denen die Firma bestand. Dummerweise haben diese Firmen-Personen, da sie keine Menschen sind, auch keinerlei menschliche Regungen, keine Moral, keine anderen Ziele als die reine Profitmaximierung.
Es gibt eine sehr schöne englischsprachige Doku-Serie von TV Ontario aus der Reihe »The View From Here« namens »The Corporation«. Wer einen Donkey-Client wie etwa eMule, eDonkey2000 oder mldonkey hat, kann den Download-Link bei www.indypeer.org finden. In dieser Serie geht es um Konzerne, wie sie entstanden sind, was sie tun, und wie es sein kann, das Konzerne furchtbare Gräuel anrichten, von denen oft ihre eigenen Manager nichts wissen, und wie es kommt, das selbst die Konzernbosse so etwas nicht verhindern können.
Wenn ein Konzern eine Person ist, dann ist er ein Psychopath.
Jeder Mensch, der für einen Konzern arbeitet, vom kleinen ungelernten Arbeiter in Thailand oder Venezuela bis zum Chef in Frankfurt oder Tokyo, ist nur ein Rädchen im Getriebe. Jeder von ihnen muß sich an die kapitalistischen Gesetze halten, die die Welt des Konzerns regieren: Alles, was den Profit schmälert, muß weg; alles, was den Profit vergrößert, muß getan werden; niemand ist für Folgeschäden verantwortlich, allerhöchstens der Konzern als Ganzes, aber niemals eine einzelne Person. So kommt es, daß ein Manager nicht die Freiheit hat, sich für gerechte Entlohnung der Arbeiter oder umweltbewußten und nachhaltigen Umgang mit Ressourcen einzusetzen, solange es nicht erwiesen ist, daß er damit den Gewinn vergrößert - daß es ihm sogar explizit verboten ist, wenn es den Gewinn schmälert!
Wir tun alle leicht daran, den »Kapitalisten« als unseren Feind zu identifizieren. Tatsächlich ist er aber nur ein armes reiches Würstchen in einem Anzug, der die Fäden einer Maschine zu ziehen hat, von der weder er noch sonst irgendwer einen halbwegs brauchbaren Überblick hat, ein Monster, das dazu geschaffen wurde, zu fressen und zu wachsen, welches er auf neue Weidegründe führen darf, das ihn jedoch genauso verschlingt wie irgendeinen armen kleinen »Proletarier«, sollte er sich im in den Weg stellen, oder manchmal sogar einfach nur aus einer Laune des Monsters heraus.
Sicher, der Schlips ist gut abgesichert, er muß vielleicht ein paar von seinen Besitztümern verhökern, wenn er unter die Räder geraten ist, es wird ihm jedoch nie so übel gehen wie einem kleinen Arbeiter aus einem Entwicklungsland. Dennoch ist er letztendlich unschuldig an den Machenschaften der Maschine, jedenfalls hat er nicht mehr Schuld daran als jeder andere Mensch, der an irgendeiner Stelle für einen kapitalistischen Konzern arbeitet. In der kapitalistischen Maschine ist jeder Mensch nur ein Bauteil, egal ob Kabel, Motor, Kardanwelle, Sensorelektronik oder Zentralcomputer: Jeder ist ersetzbar, und wenn er den Job nicht so macht, wie die Maschine es will, wird er ersetzt.
Laßt uns aufhören, Feinde zu suchen. Es gibt nirgendwo einen Feind. Laßt uns nach Freunden suchen, die ebenso wie wir die Schnauze voll von der Maschine haben, ganz gleich, ob sie selbst Teil der Maschine sind oder nicht. Die meisten Menschen haben noch nicht erkannt, daß es anders gehen könnte, für sie ist die Funktionsweise der kapitalistischen Maschine ein Naturgesetz, und sie verhalten sich dementsprechend. Die Maschine ist die Welt dieser Menschen. Sie merken, daß die Maschine bedroht wird, und fürchten den Weltuntergang. Wir müssen diesen Menschen zeigen, daß eine andere Welt funktionieren kann, und daß die Welt _mit_ der Maschine auf jeden Fall untergeht, nicht jedoch _ohne_ sie.
Wie können wir nun diesen Menschen zeigen, daß es anders geht?
Das ist in der Tat eine schwierige Frage.
Die meisten Menschen sind an ihre alten Gewohnheiten so sehr gebunden, daß sie sie gar nicht mehr als Gewohnheiten ansehen, sie erscheinen ihnen vielmehr als Naturgesetze. Alles, was anders ist, was in ihre gewohnte kleine Welt nicht hineinpaßt, ängstig sie. Diese Menschen wählen vielleicht die Grünen, weil in ihrer kleinen Welt die Wiesen, die sie noch als Kinder kannten, zubetoniert worden sind, und weil diese Veränderung ihnen Angst macht. Vielleicht wählen sie aber auch die CSU, weil sie seit ihrer Kindheit regelmäßig in die Kirche gegangen sind, nun aber die Gottesdienste leer sind, während überall mehr und mehr Anhänger anderer, »fremder« Religionen herumlaufen, und sie sich davor fürchten. Egal, wie diese Menschen gepolt sind, wenn es gelingt, sie auf die _wirklichen_ Probleme aufmerksam zu machen, wie die Erdölverknappung, die Überbevölkerung, die Vergiftung des Planeten mit allerlei Chemikalien, das Artensterben, die globale ökologische und ökonomische Krise, dann kann man sie _vielleicht_ für Alternativen gewinnen - aber es wird nur unter folgenden Bedingungen klappen:
1.) Die Menschen müssen sehen, daß die Bedrohung real ist, und daß es sich nicht um ein rein technisches Problem handelt, für das es eine technische Lösung gibt.
2.) Die Menschen müssen verstehen, daß die Zeit knapp ist, und daß wir schnell eine Lösung brauchen.
3.) Die Menschen müssen begreifen, daß andere Menschen keine Feinde sind, bloß weil sie anders sind, anders denken, anders handeln.
4.) Die Menschen müssen bereit sein, zuzulassen, daß sie Macht über ihr eigenes Leben haben, sie müssen bereit sein, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen, und gleichzeitig aufgeben, Macht über andere Menschen ausüben zu wollen.
5.) Die Menschen müssen erkennen, daß große Teile ihrer Realität nicht starr ist, sondern plastisch; daß sie nicht auf Naturgesetzen beruht, sondern auf kulturellen Gesetzen; daß sie ihre eigene Welt schaffen können, wenn sie nur wollen.
Unser Feind ist nicht dort draußen. Unser Feind ist innen, in jedem von uns. Wir sollten immer wieder die Polizisten in unseren eigenen Köpfen erschießen, die uns daran hindern wollen, das zu denken, was undenkbar erscheint, und wir sollten versuchen, andere Menschen ebenfalls auf den Pfad der geistigen Selbstbefreiung zu bringen. Erst wenn wir akzeptieren, daß es kein Patentrezept für eine bessere Welt gibt, weder in irgendeinem Forschungslabor eines Staates, einer Uni oder eines Konzerns, noch in irgendeinem dicken Buch von Marx, Mao oder Chomsky, daß es nur das große Experiment gibt, das wir wagen können, das wir sogar wagen sollten, wenn wir überleben wollen, können wir den Feind besiegen: Das System, das ebenso außerhalb von uns ist, wie es in uns ist.
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