109. c) Grund der bei Mitteilung der Dialektik anzuwendenden Vorsicht
Ich ahne also, sprach ich, daß er Vater und Mutter und die andern geglaubten Verwandten mehr ehren wird als die Schmeichler
und weniger übersehen, wenn sie etwas bedürfen, weniger auch etwas Gesetzwidriges gegen sie tun oder reden, auch weniger
ihnen in großen Dingen ungehorsam sein als den Schmeichlern, in der Zeit nämlich, wo er die Wahrheit noch nicht weiß. -
Natürlich. - Hat er aber das Wahre gemerkt: so ahne ich im Gegenteil, er werde an Ehrfurcht und Bemühung um jene
nachlassen, den Schmeichlern aber davon zulegen und ihnen bei weitem mehr als zuvor folgen, ja indem er sich schon
unverhohlen zu ihnen hält, ganz nach ihrem Willen leben, um jenen Vater aber und die übrigen angeblichen Verwandten, wenn
er nicht sehr rechtschaffen ist von Natur, sich gar nichts kümmern. - Du beschreibst alles, wie es geschehen wird. Aber wie
bezieht sich nun dieses Bild auf diejenigen, welche sich in jenes Gebiet des Denkens begeben? - So. Es gibt doch bei uns
Lehren vom Gerechten und Schönen, unter denen wir von Kindheit an erzogen worden sind wie von Eltern, ihnen gehorchend
und sie ehrend. - So ist es. - Gibt es nun nicht auch andere, diesen entgegengesetzte Bestrebungen, die Lust bei sich führen und
unsern Seelen zwar schmeicheln und sie anlocken, aber doch diejenigen, die auch nur einigermaßen tauglich sind, nicht
überreden; sondern solche ehren jene väterlichen Lehren und gehorchen denen? - Die gibt es. - Wie nun, sprach ich, wenn
einem, mit dem es so steht, eine Frage kommt und ihn fragt, was das Schönste ist, und wenn er das antwortet, was er vom
Gesetzgeber gehört hat, die Rede ihm dann bestreitet und durch öftere und vielfältige Widerlegungen ihn auf den Gedanken
bringt, als sei dieses um nichts mehr schön als häßlich, und ebenso mit dem Gerechten und Guten und was er am meisten in
Ehren gehalten hat: wie, meinst du, wird er sich nach diesem gegen jene verhalten, was Ehrfurcht und Folgsamkeit betrifft? -
Notwendig, sagte er, wird er sie weder mehr ebenso ehren noch ihnen ebenso gehorchen. - Wenn er nun, sprach ich, diese
nicht mehr so für ehrenwert und verwandt hält wie zuvor, aber auch das Wahre nicht findet, kann er sich zu einer andern
Lebensweise als jener schmeichlerischen hinneigen? - Unmöglich, sagte er. - Ein Unrechtlicher also wird er geworden zu sein
scheinen aus einem Rechtlichen. - Notwendig. - Muß dies nun nicht ganz natürlich denen begegnen, die so an jene
Untersuchungen geraten? Und verdienen sie nicht, wie ich eben sagte, alle Nachsicht? - Und Mitleiden dazu, sagte er. - Also
damit du dieses Mitleid nicht nötig habest bei den Dreißigjährigen, so muß zu diesen Untersuchungen auf die umsichtigste Weise
geschritten werden. - Gar sehr, sagte er. - Ist nun nicht schon dies, sprach ich, eine sehr große Vorsicht, wenn sie sie nicht zu
jung kosten dürfen? Denn ich glaube, es wird dir nicht entgangen sein, daß die Knäblein, wenn sie zuerst solche Reden kosten,
damit umgehen, als wenn es ein Scherz wäre, indem sie sie immer zum Widerspruch lenken, und den nachahmend, der sie
widerlegt, wieder andere widerlegen und ihre Freude daran haben, wie Hündlein alle, die ihnen nahekommen, durch die Rede
zu zerren und zu rupfen. - Ganz über die Maßen, sagte er. - Wenn sie nun viele widerlegt haben und von vielen auch widerlegt
worden sind, so geraten sie gar leicht dahinein, nichts mehr von dem zu glauben, was sie früher glaubten, und dadurch kommen
denn sie und alles, was die Philosophie betrifft, bei den übrigen in schlechten Ruf. - Sehr wahr, sagte er. - Wer aber schon älter
ist, sprach ich, wird an solcher Torheit keinen Teil nehmen wollen, sondern lieber den, der untersuchen und die Wahrheit ans
Licht bringen will, nachahmen als den, der Scherz treibt und zum Scherz widerspricht, und so wird er selbst achtbarer sein und
auch die Sache zu Ehren bringen statt in Unehre. - Richtig. - Und das vor diesem Gesagte ist auch alles aus Vorsicht gesagt,
daß man nur sittsame und ernste Naturen soll an Untersuchungen teilnehmen lassen und nicht so wie jetzt der erste beste, der
gar nicht taugt, dazu gelangen kann. - Allerdings, sagte er. -
109. d) Weiterer Ausbildungsgang der Herrscher. Scblußworte über die Möglichkeit dieses Staates
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