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Doro schrieb am 11.6. 2005 um 22:58:17 Uhr über

Michael

Endlich ist es soweit. Sie haben sich gemeldet, ich habe eine Nachricht erhalten. Heute in den frühen Morgenstunden. Ich schlief unruhig und wurde wach, weil ich auf der Straße ein Auto hörte und Stimmen, Türen schlugen. Dann klirrte es in der Küche.

Ich hatte keine Angst, im Gegenteil, ich fühlte mich erleichtert, endlich kam Bewegung in die Geschichte. Ich ging in die Küche, machte Licht, ich hatte keine Angst. Sie hatten mir die Nachricht um einen Stein gewickelt und durch die Fensterscheibe geworfen. Da lag die Nachricht, blutig, zerknittert. Wessen Blut es wohl war? Ich hob sie auf, glättete das Blatt Papier und las: Kommen Sie um Mitternacht zum Zentralfriedhof. Es geht um Ihr Leben! So einen höflichen Text hatte ich gar nicht erwartet. Das Blut sah frisch aus.

Ich legte die Nachricht beiseite und ging ins Bad, schaute in den Spiegel. Ich sah mich an: werde ich heute nacht überleben? Wie lange werde ich leben? Mein Gesicht gefiel mir, ich nahm plötzlich wahr, wie ich aussah. Meine Haare, dick und kräftig, meine Augen klar, etwas wehmütig, mein Mund verschlossen, hart. Endlich hat die Unsicherheit ein Ende, das Warten, eine Entscheidung wird fallen.

Die Nacht ist zu Ende für mich, ich koche mir Kaffe, mache mir Frühstück. Meinen vielleicht letzten Tag werde ich genießen. Ich gehe baden, pflege mich, wasche mir die Haare, creme mich ein. Den Tag vertrödele ich mit Alltagstätigkeiten, Telefonaten, ich gieße meine Blumen, treffe mich noch einmal mit Michael. Sehe ihn vielleicht das letzte Mal. Ob er etwas merkt? Oder spürt, dass ich ihm womöglich zum letzten Mal Tschüß sage? Ich glaube nicht.

Der Abend rückt näher, ich fange an, mich zu wappnen, zu rüsten. Ich gehe noch eine Runde joggen, 10 km durch den Wald, fühle mich stark, zäh, unbesiegbar, ich spüre meinen Körper, der vielleicht bald tot und kalt sein wird, ich spüre meine Bewegungen, meinen Herzschlag, empfinde Dankbarkeit für meinen Körper, der mich all die Jahre gut durch mein Leben getragen hat und das, obwohl ich ihn nicht immer gut behandelt habe. Die Zeiten meiner Drogenexzesse sind zwar schon lange vorbei, haben aber deutliche Spuren hinterlassen.

Wieder zuhause, gehe ich duschen und ziehe mich an für den Abend, die Nacht, die mir jetzt bevorsteht. Ich werde überleben oder ich werde sterben. Das Warten hat ein Ende, Gott sei dank. mein Leben wird so oder so nie wieder das gleiche sein, ich werde tot sein oder alles wird anders werden, nach all den schrecklichen Dingen, die passiert sind.

Ich ziehe mich an, will mich der Nacht als schöne Frau entgegenstellen. Ich lackiere mir die Fußnägel, ziehe meine Lieblingshose an, bügele mir noch eine schicke schwarze Satinbluse, ziehe meine Lieblingsohrringe und Ringe an.

Es ist halb elf, in einer halben Stunde muss ich los. Ich muss zum Zentralfriedhof, am anderen Ende der Stadt, ich werde wohl die Stadtautobahn nehmen. Für die Fahrt dorthin wähle ich mir noch meine Lieblings-CD aus.

In der letzten Viertelstunde denke ich an meine Liebsten. Es sind nicht mehr viele. Ich denke an Michael, wird er mich weiterlieben, sollte ich überleben? Dann werde ich ihm alles erzählen müssen. Wird er trauern, wenn ich sterbe? Wird er damit fertig werden, dass ich vielleicht ermordet werde? Ich denke an meine Schwester, meine Schwester. Und meine Freundin. Das sind die Menschen, die ich liebe.

Elf Uhr. Ich will auf jeden Fall pünktlich kommen zu meinem Rendezvous, meinem Tete-à-tete mit der Vergangenheit, meiner Chance auf eine Zukunft. Ich verlasse die Wohnung, gehe zu meinem Auto, lege die CD ein und rolle langsam aus der Tiefgarage in Richtung Stadtautobahn. Jetzt kommt der Highwaysong, das beste Lied der Band und sie singen: These days are never coming back...



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