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! schrieb am 30.10. 2001 um 18:56:40 Uhr über

Trauma

Die Intrusionen sind nun also das Problem. Sie können uns abends Angst machen, wir
trinken dann etwas mehr, gehen zum Hausarzt, der verschreibt uns Valium oder ein
Schlafmittel oder er sagt: »Machen Sie mal Urlaub.« »Nein, neinsagen Sie, " ich gehe
besser gleich wieder zur Arbeit, da bin ich wenigstens abgelenkt." Diese Flashbacks und
Intrusionen sind in vielen Filmen ganz gut verarbeitet. Da kann man sich das ganz gut bildlich
vor Augen führen. Überhaupt spielt ja Trauma und Traumaverarbeitung nicht nur in der
Wissenschaft, sondern auch im Kino eine gewisse Rolle, von »Titanic« über »Speed I« und
»Speed II«, »Vulcano«, »Deep Impact«, »Armaggeddon«: immer geht es um Katastrophen
und um Traumatisierungen. Dabei sind die verschiedenen Zustände, die mit Traumata zu tun
haben, immer personifiziert: Dieser Zustand der Hypervigilanz und Emotionslosigkeit, das ist
im allgemeinen der Held, das ist Bruce Willis oder Arnold Schwarzenegger. Dann gibt es die
Emotionsbestimmten wie etwa Sandra Bullock, meistens Frauen, die schreien und die
Orientierung verlieren und die dann den Menschen mit Hypervigilanz brauchen, der die
Übersicht behält. Weiterhin gibt es die Stuporösen, die depressiv sind und in der Ecke
sitzen, die brauchen dann auch diesen Menschen, der abgeschaltet ist. Das ist ein ganz
interessantes Szenarienprinzip.

Flashbacks können Sie gut sehen in dem Film »Mercury Puzzle« mit Bruce Willis - Sie
merken schon, den sehe ich ganz gerne -: Bruce Willis hat als Polizist versucht, einen
jugendlichen Straftäter zu retten, der aber neben ihm erschossen worden ist. Er kommt
abends nach einem anstrengenden Tag nach Hause, wie es offenkundig immer so bei ihm ist
im Film, er schaltet ab und dann kommt wieder die ganze Szene. Und diese Szene ist etwas
farblich verändert, so ein bißchen schwarz-weiß-bunt, und sie läuft zeitlupenähnlich ab,
langsam, gedehnt, zeitlich in einer anderen Welt, man hört seinen Herzschlag. Er ist in dieser
Szene wieder drin, er sitzt auf dem Sofa und reibt sich die Hände, er hat einen
Schweißausbruch und macht dann etwas, was viele Menschen tun, die unter einem solchen
Symptom leiden: Er steht auf, knallt die Tür zu, macht einen Zug durch die Gemeinde und
knallt sich den Kopf voll. Alkohol ist ein gutes Medikament gegen Flash backs und
Intrusionen. Ein anderer Film, in dem Flash backs und Intrusionen verfilmt worden sind, ist
beispielsweise »Angeklagt« mit Judie Foster, die ebenfalls unter intrusiven Zuständen leidet.

Mit diesen Intrusionen muß man nun also fertig werden, man muß sie irgendwie verarbeiten.
Die normale Verarbeitung besteht darin, daß man sie erst mal verträumt - und das ist mir
ganz wichtig. Leute, die traumazentriert arbeiten, haben einen bestimmten Glauben, der auch
einige neurophysiologische Unterstützung erfährt. Sie glauben, daß das menschliche Gehirn,
wenn es funktioniert und gesund ist und seine Arbeit machen kann, nachts im Traum Sachen
erledigt und abarbeitet. Sie glauben daran, daß der Traum so etwas ist wie eine
Informationsschnellkompostieranlage. Ich habe das vorhin schon als Beispiel gebracht: Sie
träumen, daß eine Basketballmannschaft Basketball spielt, und der Schiedsrichter hält einen
Vortrag. In diesem Traum wären widersprüchliche Informationen durcheinandergeworfen
und verarbeitet. Eigentlich sind wir nachts zwei- bis dreimal psychotisch: wir hören Stimmen,
wir sehen Bilder, sind delirant, das Gehirn spielt verrückt. Morgens werden wir wach, unser
Frontalhirn hat sich alle Mühe gegeben, daraus einen sinnvollen Traum zu machen - man
nennt das sekundäre Traumarbeit, Freud hat diese Prozesse sehr gut geschildert und
dargestellt. Die einzelnen Abläufe sind verarbeitet und irgendwie eingebaut worden.

Genau das aber fällt mit traumatischen Erfahrungen schwer. Die laufen wieder und wieder
ab und sind schlecht zu verträumen - das ist das Problem. Wenn es gut geht, dann gibt es
erst ein Video, wir werden wach, dann gibt es noch mal ein Video, wir werden wach, und
dann wird das Video allmählich zum Alptraum. Dieser Alptraum ist schon die erste
Verarbeitung, und nach und nach verträumen wir die Sache.

Es gibt aber auch die Situation, daß wir das Ganze in den Dialog bringen, daß wir darüber
reden. Unsere Umwelt reagiert auf eine traumatische Erfahrung polar: Die eine Gruppe sagt:
"Darüber mußt Du reden, das muß raus! Komm, erzähl doch mal, Du hast es zwar schon
fünfmal erzählt, aber wir sind ja gut befreundet, erzähl es noch mal! Wie war das denn auf
dem Zebrastreifen? Erzähl noch mal. Es geht Dir ja immer im Kopf rum, das geht ja nicht."

Innerseelisch schwanken Menschen nach einer traumatischen Erfahrung zwischen zwei
Zuständen: Da ist einmal der Zustand der Intrusion und zum andern der Zustand der
Konstriktion. Das ist ein bißchen etwas anderes als die Hypervigilanz, aber was auch dazu
gehört, ist der Zustand des Abgeschaltetseins: Die Gefühle sind wie betäubt, man ist
irgendwie in einem dumpfen Zustand, nichts erreicht einen mehr so recht, ob nun Herbst
oder Sommer ist, es ist ziemlich egal, das Essen schmeckt immer gleich schlecht, über Witze
kann man nicht so recht lachen, man ist so etwas in Watte. Es ist ein subdepressiver
Zustand, es tut einem irgendwie körperlich auch alles weh. Es ist ein Zustand von
Abgeschaltetsein.

In diesem Pendeln zwischen Konstriktion, Intrusion, darüber reden, sich ablenken und
davon träumen wird eine solche Erfahrung in einem Vierteljahr langsam verarbeitet. Daß
eine solche Verarbeitung aber auch länger dauern kann, wissen wir, wenn wir uns klar
machen, daß das Trauerjahr etwas Sinnvolles ist. Letztlich ist die Traumaverarbeitung nichts
anderes als ein Trauerprozeß, der ganz ähnlich abläuft mit intrusiven und mit
depressiv-konstriktiven Zuständen, und er dauert bis zu einem Jahr. Das wußten die
Menschen, und deshalb war dieses Jahr früher der Trauer gewidmet. Heute müssen wir ja
nach einem Trauerfall drei Tage später wieder voll arbeitsfähig sein; das ist nicht dem
menschlichen Wesen angemessen. Wir tun uns auch sicherlich damit Gewalt an.

Das also ist die normale Verarbeitung eines Monotraumas, eines Typ-I-Traumas, wobei
schon diese Verarbeitung Schwierigkeiten bereiten kann. Es kann sein, daß jemand es nicht
schafft, seine Erfahrung irgendwie zu verarbeiten: er kann nicht darüber reden, man glaubt
ihm nicht, er hat keine Gesprächspartner, er kann sich nicht so richtig ablenken, er ist nicht in
der Lage, seine Träume auszuhalten, er betrinkt sich häufig oder nimmt viele Medikamente.
Wenn die Intrusionen nicht verarbeitet werden, dann können sie getriggert werden, d.h.: Sie
können angestoßen werden. Dann kann jemand so verrückte Verhaltensweisen entwickeln
wie gerade bei einem Zebrastreifen nicht über die Straße zu gehen, oder Umwege zu
machen, um keine Zebrastreifen zu sehen. Oder er entwickelt irgendwelche Zwangsrituale:
erst muß viermal nach rechts und links geguckt werden, bevor er über den Zebrastreifen
gehen kann.

Nicht hinter jeder Phobie, nicht hinter jedem Zwangsritual, nicht hinter jedem depressiven
Zustand, nicht hinter jeder Sucht steht ein schweres Trauma. Es ist aber hilfreich, dies als
eine Möglichkeit mit zu bedenken, als etwas, was neben der Entwicklungspathologie und
neben der Konfliktpathologie als Traumaätiologie in Frage kommen kann, insbesondere
dann, wenn die Symptome sich nicht so gut auf die Kindheit beziehen lassen, wenn das
eigentlich nicht so richtig stimmt. In solchen Fällen war es oft so, daß wir gesagt haben - ich
selbst bin ja auch Psychoanalytiker -: "Da muß doch was sein. Ja also, der verleugnet seine
Kindheit, der sagt, die Kindheit war ganz schön, katastophal war die Pubertät oder der
Militärdienst oder so irgendetwas. Das geht doch nicht, das ist doch eine frühe Störung, eine
schwere, recht frühe Störung." Dieses Vorgehen ist sicher falsch. Gerade dann, wenn die
Anamnese und die Kindheitsgeschichte nicht so richtig passen zur Schwere der
Symptomatik, dann sollte man sich auch mal fragen: "Hat es vielleicht zwischenzeitlich einige
gravierende Traumata gegeben? Hat es irgendwelche Erfahrungen in der Pubertät gegeben?"

Ich habe Frauen behandelt, die hatten eigentlich eine recht stabile Kindheit und Jugend,
haben dann aber aus Trotz, aus Auflehnung einen Partner gewählt - nach dem Motto: "Wir
sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer wieder gewarnt haben." - einen Partner,
der den Eltern nun wirklich nicht gefiel und paßte, und die mit diesem Partner zwei
scheußliche Jahre erlebt haben. Diese Frauen waren auch sehr durcheinander, haben sich
selbst verletzt und geschnitten. Es ist nicht alles »frühe Kindheit«.

Besonders schwierig wird es dann, wenn es sich nicht um ein unvorhergesehenes,
unvorhersehbares Monotrauma handelt, sondern wenn Sie in einer Lebenssituation sind, in
der Sie damit rechnen müssen, traumatisiert zu werden: Wenn Sie z.B. in einem Gefängnis
sind, in dem Sie gefoltert werden, wenn Sie in Isolationshaft sind, wenn Sie in einer Familie
sind, wo Sie damit rechnen müssen, in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen
traumatisiert zu werden - und sich darauf schon einstellen können. An dieser Stelle komme
ich wieder zurück zu der Sache mit den Schützengräben. Es ist ganz wichtig, sich klar zu
machen, daß Hilflosigkeit biologisch im Tierreich nicht so richtig vorkommt. Wenn ein Tier in
Lebensgefahr kommt und weder die Möglichkeit zum Kampf noch zur Flucht hat, kann es
sein, daß das Tier stirbt. Jäger berichten von folgendem: freies Feld, irgendein Kaninchen
flüchtet, ein Raubvogel greift an, der Jäger schießt in die Luft, den Vogel schiessen darf er ja
nicht mehr unter den Naturschutzbedingungen, der Vogel dreht ab, der Jäger geht übers
Feld und das Kaninchen ist tot, obwohl der Raubvogel das Kaninchen gar nicht erreicht hat.

Das kann man natürlich auch im Tierexperiment machen: Man setzt ein Kaninchen unter eine
Glasglocke, läßt einen Vogel angreifen, und in einem statistisch gar nicht so seltenen Ausmaß
ist es nicht nur so, daß das Kaninchen sich tot stellt ( Totstellreflex als erster
Selbstschutzschalter), sondern tatsächlich tot ist. Das bedeutet: Lebensgefahr ist
lebensgefährlich. Innerseelisch scheint es Mechanismen zu geben - wohl überwiegend über
eine massive Kalziumausschüttung -, die dazu führen, daß Tiere in Situationen, in denen sie
damit rechnen müssen, getötet zu werden, sich selbst töten - ein sinnvoller Schutz gegen den
Schmerz beim gefressen oder getötet werden.

Wir sind Säugetiere, und unsere Streßphysiologie ist ebenfalls darauf ausgerichtet, zu
kämpfen oder zu flüchten. Ich komme später noch auf die Streßphysiologie und die
hirnphysiologischen Veränderungen zu sprechen. Jetzt erst mal zum seelischen Ablauf:
Wichtig ist mir das Zwischenergebnis: Völlige Hilflosigkeit in einer Situation der
Lebensgefahr ist für Säugetiere potentiell lebensgefährlich. Das ist wesentlich, im Hinterkopf
zu behalten.

Der Inescapable-Schock ist etwas, was nicht gut ist. Wir Menschen haben nun eine
Möglichkeit, die auf der einen Seite unser Segen ist, auf der anderen Seite unser Fluch.
Tierforscher sagen, der Mensch hält einfach zu viel aus. Was Menschen Menschen schon
angetan haben, das hätte keine Tierpopulation, keine Tierrasse überlebt. Diese Tiere gäbe
es einfach nicht mehr. Wir Menschen halten zu viel aus, wir ertragen zu viel! Und zwar
deshalb, weil bei uns die kognitiven Strukturen, das Frontalhirn, einen sehr großen Einfluß
haben.

Mit diesen kognitiven Strukturen können wir umschalten. Wir können die Realität
verändern. Wir können sagen: »Ich bin gar nicht da, ich schalte ab«. Wir können induziert
depersonalisieren, können sagen: "Ich steige aus meinem Körper aus, ich stehe daneben, ich
nehme das gar nicht wahr, was mit meinem Körper geschieht." Und wir können induziert
derealisieren: Dann sind wir in einer anderen Welt. Gefangene in einer engen Zelle erschaffen
sich eine riesige Phantasiewelt, in der sie ihren Raum verlassen können. Diese Möglichkeiten
haben wir.

Diese Möglichkeit ist nun eine Überlebensstrategie bei schwerer Traumatisierung. Viele, die
mißhandelt und mißbraucht worden sind, berichten: "Ich bin dann oben auf dem Schrank
gesessen und habe das nur noch von oben gesehen. Ich bin neben mir gestanden, ich war
ganz woanders. "Es gibt ein sehr beeindruckendes literarisches Beispiel für kindliche
Dissoziativität, nämlich »Alice im Wunderland« und »Alice hinter den Spiegeln«. Der Autor
Lewis Carol ist bekannt als pädophiler Autor, der möglicherweise Erfahrungen und Szenen
von Kindern (auch sich selbst?), die in bestimmten Situationen dissoziiert haben, literarisch
verarbeitet hat. Auf der einen Seite sind »Alice im Wunderland« und "Alice hinter den
Spiegeln" literarische Kunstwerke, auf der anderen Seite ist das keine normale kindliche
Phantasietätigkeit mehr; da ist so viel Morbides, Kaputtes, Krankes enthalten, das ist eine
Flucht. »Alice hinter den Spiegeln« beginnt ja auch so, daß das Mädchen hinter den Spiegel
gehen kann. Das ist eine Dissoziation, ein induzierter Derealisationszustand, in dem sich
Alice dann in einer ganz anderen Welt aufhält - und das wird schon seinen Grund gehabt
haben. Solche Prozesse ermöglichen uns das Überleben oft schwerer Traumatisierungen.

Man hat festgestellt, daß es umso wahrscheinlicher ist, daß wir eine chronifizierte
posttraumatische Belastungsstörung bekommen, je besser wir in der traumatischen Situation
dissoziieren. Das ist das Dilemma: Je besser akut die Dissoziation klappt, umso schwerer
fällt die Verarbeitung. Was nämlich jetzt im Gehirn gespeichert ist als - wie ich gerne sage -
»Erinnerungsabszeß« und was nicht verarbeitet werden kann, ist nicht die traumatische
Erfahrung, sondern ein Konglomerat aus Fetzen des Traumas, der traumatischen Situation
und der Dissoziation, eine Mischung aus Depersonalisation, Derealisation und Fetzen der
traumatischen Erfahrung.

Das wird dann evtl. getriggert, durch Gewitter, durch knarrende Bohlen, durch plötzliche
Dunkelheit, durch einen Knall oder sonst etwas, und das bedeutet, daß dann die Zustände
nicht klassische Intrusionen sind, sondern eine Mischung aus Trauma und Verarbeitung. Es
stellt sich ein Zustand ein, der gekennzeichnet ist durch Depersonalisation und
Wirklichkeitsverlust, die Wahrnehmung verändert sich, alles kommt durcheinander und die
Leute brechen ein, ticken aus, rasten weg, sind im falschen Film, haben einen
Erregungszustand und können sich nicht mehr orientieren. Dieser Zustand des
Kontrollverlustes ist ausgesprochen beunruhigend und ängstigend.

Ich stelle mir das so vor - und die Patientinnen haben mir das bestätigt -, als wenn ich in
einem fremden Raum übernachte: es ist ganz dunkel - ich sorge inzwischen dafür, daß das
nicht mehr der Fall ist -; dann passiert es oft, daß ich Alpträume habe, ich werde wach, es
ist dunkel, und ich muß erst mal suchen, bis ich die Nachtischlampe finde, und bis dahin läuft
der Traum weiter; und ich bin aber schon wach, und das ist ein übler Zwischenzustand, in
dem ich schon wach bin und der Alptraum noch weiterläuft. Dann mache ich das Licht an,
und dann ist es wieder gut: »Aha, hier bin ich, wie komme ich denn hier hin, ach so, ja . . .«,
und dann komme ich langsam wieder in die Realität zurück und der Alptraum ist zu Ende.

Jetzt stellen Sie sich einfach vor, der Alptraum hört nicht auf, sondern läuft weiter; dann
haben Sie meines Erachtens den Zustand einer Patientin, die getriggert ist, bei der
dissoziative Zustände da sind und die in zwei Wirklichkeiten gleichzeitig ist. Das ist ein
scheußlicher Zustand - ich werde gleich noch erläutern, warum Sie mit Worten dabei so
wenig erreichen können -, und dieser Zustand läßt sich gut beenden, nämlich durch einen
Hautschnitt. Ich wüßte gerne, warum. Aber das beste Antidissoziativum ist eine
Selbstverletzung der Haut. Innerhalb von 15 bis 30 Sekunden, manchmal dauert es auch
eine Minute, ist der Kopf wieder klar, die Affekte sind geordnet, die Sprache steht wieder
zur Verfügung, der Druck ist raus, die Leute haben sich abgeregt, sie sind wieder in der
Gegenwart und die ganze Sache ist vorbei. Manchmal muß tiefer geschnitten werden, aber
es wirkt. Und es wirkt nichts anderes. Wir haben bisher kein Medikament, was sicher
antidissoziativ wirkt. Wir haben kein Antidissoziativum.

Mich interessiert, welche biochemischen Prozesse dabei eine Rolle spielen.
Endorphinausschüttung kann es nicht unbedingt sein, weil der Körper im Zustand der
Depersonalisation schon in einem Überendorphinzustand ist. Depersonalisation ist
verbunden mit einer körperlichen Endorphinvergiftung, das kann es also nicht sein. Es muß
irgendeine Mischung aus peripheren und zentralen Prozessen sein, die dadurch in Gang
gesetzt werden und die nach 15 bis 30 Sekunden zur Wirkung kommen, eine
Selbstmedikation. Das macht den Umgang mit der Symptomatik nicht so ganz einfach; denn
man kann nicht so leicht darauf verzichten, und das führt jede Klinik immer wieder in die
neue Diskussion: Konzentrieren wir uns auf das Symptom oder schieben wir es beiseite? Es
gibt verschiedene Strategien, darauf kann ich im Rahmen der Therapiediskussion noch zu
sprechen kommen.

Vor der nächsten Diskussionsrunde ist mir wichtig, daß wir uns klar machen, daß es
inzwischen eine Reihe von Befunden gibt, die die Diskussion um eingebildetete Kranke oder
darum, daß die sich ja nur anstellen, relativieren.

Zunächst ist die Frage wichtig: Was ist die normale Streßphysiologie? Rufen wir uns das
nochmal ins Gedächtnis: Normalerweise kommt ein Impuls ins Gehirn, und gerät ziemlich
bald zum Mandelkern, der Amygdala. Der Mandelkern ist der »Rauchmelder des Gehirns«.
Das ist sozusagen die Alarmglocke, wodurch die Streßachse anspringt. Diese Streßachse
führt dazu, daß Noradrenalin ausgeschüttet wird, wir sind in einem Übererregungszustand, in
einem Hyper-Arousal-Zustand, und zwar bevor wir überhaupt bewußt registriert haben,
was los ist. Es dauert nämlich 5 bis 7 Zwischenneurone, bis das Frontalhirn gemerkt hat,
was Sache ist. Das wäre viel zu langsam, das muß viel schneller gehen. Unser Körper
schaltet also schon auf Hyper-Arousal, auf Übererregung, bevor wir bewußt mitbekommen
haben, was Sache ist.

Wiederum heute Abend gehen Sie nach Hause und plötzlich fällt ein Schuß; dann sind Sie in
Aufregung und zittern und sind in einer Situation, in der Sie kämpfen könnten, bevor Sie
registriert haben, daß das vielleicht ein Mofa ist mit einer Fehlzündung, so daß Sie sich also
wieder abregen können. Es war nur eine Fehlzündung, also nichts Schlimmes, oder es war
ein Schuß in weiter Ferne, der auch nicht schlimm ist. Es braucht aber etwas Zeit, bis das
klar wird.

Was passiert nun aber bei traumatisierten Menschen? Wenn man traumatisierte Menschen
triggert, indem man ihnen einen spezifischen Reiz gibt, ihnen z. B. ihre
Traumatisierungsgeschichte vorliest, und dann beobachtet, wie das Gehirn arbeitet, dann
gibt es einen interessanten Unterschied:

Bei gesunden, nicht traumatisierten Menschen läuft folgendes ab: Amygdala, Hippocampus.
Der Hippocampus ist eine Art Ordnungssystem, in dem wird eingeteilt. Stellen Sie sich
folgende Szene vor: Ein Forscher steht einem Säbelzahntiger gegenüber, beide benutzen
ihren Hippocampus und teilen das Gesehene ein. Der Forscher ist am Nachdenken: "Das ist
doch so eine Art Löwe oder sollte man eher sagen: Tiger. Eigentlich ist dieses Exemplar
doch ausgestorben, wieso steht es mir denn dann gegenüber?" Das ist der Hippocampus.
Der Säbelzahntiger benutzt auch seinen Hippocampus: »Wow, das Mittagessen«. Beide
benutzten ihren Hippocampus, um das Gesehene einzuteilen. Dann geht die Information
weiter zum Frontalhirn, und dort schaltet sich beim Menschen dann die Broccaregion ein -
beim Säbelzahntiger wahrscheinlich nicht -, dort kommt die Sprache dazu, und dann denken
wir nach: Aha, dieser Knall ist von einem Mofa, von einem Auto, von irgendeinem Jäger
oder ein Fenster ist zugeknallt oder jemand hat seine Tasche fallen lassen und dann denken
wir über die Situation nach.

Was passiert nun, wenn man einen traumatisierten Menschen triggert? Die rechte Amygdala
ist sehr aktiv, die linke nicht; die linke Amygdala leitet normalerweise weiter zum Frontalhirn,
zur linken Hirnhälfte und zum Sprachzentrum. Beim Traumatisierten haben Frontalhirn und
Sprachzentrum also Sendepause, weil die linke Amygdala inaktiv ist. Das bedeutet: Sie
haben das klinische Bild in der Gehirnarbeit abgebildet, das da lautet: hochgradig aufgeregt,
Hyperarousel-Zustand. Sie stehen der traumatisierten Patientin/dem traumatisierten
Patienten gegenüber und sagen zu ihr/ihm: "Nun sagen Sie doch, was Sache ist, Sie können
es doch sagen, sagen Sie doch, was los ist!" Und der Patient steht da und findet keine
Worte, er ringt nach Worten.

Es ist klinisch lange bekannt, daß im Zustand des Hyperarousel eine hirnphysiologische
Situation gegeben ist, in der das Sprachzentrum und das Frontalhirn nicht arbeiten. Am
nächsten Tag sagt Ihnen dann die Patientin/der Patient: "Ja, wenn ich erstmal darüber reden
kann, dann gehts auch schon wieder." Aber in der Situation selbst können Sie verbal nichts
erreichen - und das ist auch ganz wichtig zu wissen -, weil beim getriggerten Patienten die
entsprechenden Hirnareale praktisch gelähmt sind. Wenn man die PatientInnen mit
Traumaexposition behandelt hat und dann wieder triggert, dann springt das Frontalhirn und
das Sprachzentrum an.

Gleichzeitig ist es so, daß es diesen Leuten sehr schwer fällt, sich abzuregen. Um uns
abzuregen, brauchen wir Cortison. Nun könnte man denken, diese Leute haben einen
ständig erhöhten Cortisonspiegel. Das aber ist nicht der Fall, sie haben einen reduzierten
Cortisonspiegel, wobei unklar ist, wieso. Das sind alles Befunde, die hauptsächlich bei
Vietnam-Veteranen, aber auch bei Frauen mit chronischer Traumatisierung erhoben wurden.

Außerdem haben diese Menschen einen verkleinerten linken Hippocampus. Der linke
Hippocampus ist nicht so aktiv, und er ist kleiner geworden als der rechte. Dafür gibt es
organische Befunde sowohl bei Vietnam-Veteranen als auch bei Frauen nach schweren
Vergewaltigungen. Das bedeutet, daß wir es mit einer Streßpsychosomatose zu tun haben,
einer funktionellen Gehirnpsychosomatose. Die alten Gedanken von Oppenheim und
Kardiner, daß es sich um eine Physioneurose, eine seelische Störung mit körperlicher
Beteiligung handelt, bewahrheiten sich, worauf im Rahmen der Therapie Rücksicht
genommen werden muß.

Wir können diese Menschen nicht wie Neurotiker behandeln. Die Therapiestrategien, die
wir für Neurotiker mit einer überstarken neurotischen Abwehr entwickelt haben, sind nach
meiner Überzeugung für Menschen mit einer dissoziativen Störung, mit einer zu schwachen
Abwehr ungeeignet. Das ist aus der Arbeit mit Borderlinestörungen auch seit langem
bekannt, aber da kann man durchaus noch ein, zwei Schritte weitergehen.

Soviel zur normalen und pathologischen Traumaverarbeitung, zur Streßphysiologie, zur
Problematik der veränderten Informationsverarbeitung. Haben Sie dazu Fragen?

Einige Anmerkungen also zum Zustand des Inescapable-Schock, der absoluten Hilflosigkeit,
der bei Menschen oft assoziiert ist mit Suizidalität. Ich habe subjektiv das Gefühl, in einer
ausweglosen Situation zu sein, also will ich mir das Leben nehmen. Welche akuten
Interventionsmöglichkeiten gibt es, wenn man mit solchen Menschen zu tun hat?

Als erster Schritt, zur Suizidalität wieder Abstand zu bekommen - eine sog. Metaebene
herzustellen - hat sich bewährt zu versuchen, die Suizidalität umzudeuten. Ich lasse mir erst
mal die Suizidalität durch den Patienten erläutern, frage z.B. nach, worin die
Aussichtslosigkeit besteht und so fort, und sage dem Patienten dann, daß ich denke, daß
seine Suizidalität ein Signal der Seele ist, das er sehr ernst nehmen sollte. "Es ist ein Signal,
daß Sie dieses Leben beenden sollten. Ich halte es allerdings für ein Mißverständnis, wenn
Sie glauben, das geht nur dadurch, daß Sie Ihren Körper töten. Ich halte es für etwas, was
geschehen sollte, auch geschehen muß, wobei wir gucken müssen, wie es gehen kann, aber
eigentlich ist es ein Veränderungsimpuls. Sie sagen ja ganz richtig: so wie die Situation ist, ist
sie ausweglos. Sie fühlen sich wie so ein Hamster im Rad oder wie jemand in einer
Zwickmühle, und aus ihrer Seele kommt: »Dieses Leben muß aufhören«. Das ist gesund, das
ist richtig. Der Schritt aber: »Ich sollte mich töten«, den halte ich für ein Mißverständnis, da
müßten wir daran arbeiten, ob es nicht möglich ist, die Situation anderweitig zu
beeinflussen." Dieses Vorgehen entstammt der Tradition der Hypnotherapie: Damit nehme
ich erst mal die Suizidalität als solche ernst und sage dem Patienten, daß seine Situation, so
wie er sie schildert, aussichtslos ist, ich rede das nicht weg. Dann müssen weitere
Therapiestrategien angewandt werden. Wichtig an Ihrer Frage ist mir Ihr Hinweis, daß
dieses Gefühl des unentrinnbaren Schocks oft mit Suizidalität verbunden ist.

Zur Frage nach der akuten posttraumatischen Situation: Ich bin vor kurzem bei einer Tagung
gewesen, auf der verschiedene Reaktionsmöglichkeiten bei Notarzteinsätzen miteinander
verglichen wurden. Eine Notarztgruppe ist so vorgegangen, daß sie versucht hat, so schnell
wie möglich Analgesie, also Schmerzfreiheit herzustellen, unter Einsatz auch von Opiaten;
oder man hat versucht hat, mit höheren Dosen an Benzodiazepinen zu arbeiten. Dabei hat
sich ergeben, daß anschließend die Entwicklung von posttraumatischen Zuständen nach
Verkehrsunfällen deutlich niedriger war. Das bedeutet, daß es in der akuten Situation gut ist,
das medizinisch Mögliche zu tun, um diese Situation zu unterbrechen.

Das ist etwas, was ich inzwischen bei uns auf der Station mache, nach dem Motto "Ganz
oder gar nicht". Ich habe keine Schwierigkeiten damit, einer Patientin 4 mg Rohypnol und
240 mg Truxal zu geben, was im Suchtbereich sicherlich etwas schwerer fallen würde.
Wenn der Zustand so ist, daß jemand die Wände hochgeht und nicht mehr rauskommt,
dann muß das unterbrochen werden. Kann man den Hintergrund nicht aufarbeiten, dann ist
man ständig am Nachfüttern mit hoher Medikation, das ist sicher schlecht. Darauf komme
ich gleich noch zu sprechen. Aber ich vertrete die Position, daß ich ein unterdosiertes
Medikament auch weglassen kann. Da hätte ich nur die Nebenwirkungen, aber nicht die
Hauptwirkung. Entweder ich erreiche eine Wirkung oder nicht. Es ist aber schwer, bei
echten posttraumatischen Zuständen medikamentös wirksam zu sein. Im allgemeinen müssen
Sie an die Obergrenze dessen gehen, was Sie sonst geben; denn es ist auch ein
medizinischer Befund, daß die Medikamente in solchen Situationen nicht so richtig wirken.
Die Erfahrung ist: wenn es gelingt, die posttraumatische Belastungsstörung zu behandeln,
dann geht die Medikation nach unten. Wir haben oft Leute, die mit hoher Medikation zu uns
kommen und dann zum Schluß noch so 15 mg Atosil bei Bedarf haben.

Es geht um die Frage: Wenn man verbal nicht hilfreich sein kann, aber auch Berührung als
bedrohlich erlebt wird, was soll man denn dann machen? Welche Möglichkeiten hat man
da? Ich nehme das als Stichwort für die Frage der therapeutischen Vorgehensweise. Dabei
muß man zwischen den Notfallreaktionen und den allgemeinen Therapiestrategien
unterscheiden. Ich will die Notfallreaktionen, also die Kriseninterventionsmöglichkeiten in
meine Überlegungen zur gesamttherapeutischen Vorgehensweise einbauen.

Anfang der 80er/90er Jahre gab es recht bald Forscher in den USA, die meinten: die
schweren Persönlichkeitsstörungen in Psychiatrien, gerade die
Borderline-Persönlichkeitsstörungen, das sind doch eigentlich alles chronifizierte
posttraumatische Belastungsstörungen. Es hat sich inzwischen statistisch hochgradig
erwiesen, daß bei den schweren Persönlichkeitsstörungen massive Traumatisierungen in 50
bis 80 % eine Rolle spielen. Das hängt nun sicher auch davon ab, wie man die Störungen
definiert und welche Kriterien man anlegt, aber der Anteil ist jedenfalls sehr viel höher als die
Prävalenz in der Gesamtbevölkerung, die nach den neuesten Studien des Kriminologischen
Instituts in Hannover bei den schweren Traumatisierungen bei 0,8 % in der
Gesamtbevölkerung liegt. 0,7% bis 0,8% der Frauen sind in der Familie bis zum 16.
Lebensjahr schwerer sexueller Gewalt ausgesetzt; bei den Patientinnen mit
selbstverletzendem Verhalten und Borderline-Persönlichkeitsstörungen sowie schwerer
Suchtentwicklung liegen die Zahlen irgendwo bei 80 bis 85%!

Es gibt einen langen Streit darüber, welche Rolle das nun spielt. Ist das nun die Ursache,
oder gibt es eine prämorbide Persönlichkeit, bei der die Traumatisierungen stärker wirken?



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