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. schrieb am 30.10. 2001 um 18:50:13 Uhr über

Trauma

Modethema »Trauma«

Das Thema »Traumatisierung« ist derzeit ein Modethema. Es bewegt und beschäftigt alle,
und wenn ich zurück denke, dann sehe ich, daß es immer wieder solche Modethemen gab:
Als ich studierte, war »die Gruppe« so ein Modethema. Alles war eine »Gruppe«, "Die
Gruppe» veränderte die Welt, «die Gruppe" sollte ein völlig neues Bewußtsein schaffen - und
ich frage mich manchmal, ob dieses Modethema »Gruppe« damals wirklich etwas verändert
hat: Ich denke schon. Ich glaube, daß die Auseinandersetzung mit Gruppenphänomenen
dazu beigetragen hat, daß eigentlich überall in Gruppen gearbeitet wird; es ist eher die
Ausnahme, daß irgendwo jemand noch so alleine vor sich hinarbeitet. Die Arbeit in Teams,
in Gruppen, in Leitungsgruppen, in Arbeitseinheiten hat sich durchgesetzt, und insofern hat
die Auseinandersetzung mit diesem Thema der Gruppe etwas verändert. Ich bin sicher, daß
die Auseinandersetzung mit dem Thema »Trauma« ebenfalls etwas verändern wird.

Ich möchte in meinem Vortrag folgendermaßen vorgehen: Ich spreche zunächst ein bißchen
über die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Trauma, dann über die aktuelle
Sichtweise der Traumaverarbeitung und dann über die Frage "Welche Behandlungsansätze
werden zur Zeit versucht?" abschließend über allererste Ergebnisse.

Zur Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Trauma

Die Auseinandersetzung mit dem Trauma als Phänomen beginnt für viele - gerade für
diejenigen, die aus der Psychoanalyse kommen - 1896 mit Sigmund Freuds Arbeit zur
Ätiologie der Hysterie. Freud stand jedoch bereits in einer Tradition, er fing nicht neu an,
entdeckte nicht, wie er meinte, die Quelle des Nils. Vielmehr kam er aus einer Tradition, die
sich Mitte des letzten Jahrhunderts in Frankreich entwickelte. Damals setzte sich eine
Gruppe von Wissenschaftlern, die mit Psychologie nichts im Sinn hatten, mit der
Traumatisierung von Kindern auseinander. Es handelte sich dabei um Gerichtsmediziner, die
Kriminalstatistiken erstellten, große Zahlensammlungen aus den verschiedensten
Departements, in denen sie zusammentrugen, wie oft eigentlich Kindstötungen mit sexuellem
Hintergrund vorkamen. Sie kamen dabei zu sehr erschreckenden Zahlen. Das bedeutet, daß
dieses Phänomen bekannt war. Ich bin auch sicher, daß der Marquis de Sade nicht nur
Phantasien beschrieben hat. Interessanterweise ist die Auseinandersetzung mit diesem
Thema auch in der Bundesrepublik ursprünglich von einer Gerichtsmedizinerin ausgegangen
- nämlich Frau Trube-Becker - als von der Psychologie, Psychiatrie oder Psychoanalyse.

Die Arbeit und Auseinandersetzung mit dem Phänomen fand in Paris auch an der Salpetrière
statt. Dort machte Sigmund Freud bekanntermaßen ein längeres Praktikum, um sich
fortzubilden, um einen größeren Kenntnisstand im Bereich der Neurologie und Psychiatrie
bei dem damals führenden Neurologen und Psychiater, nämlich bei Charcot, zu erlangen.

Charcot ist ja sehr wesentlich für die Entwicklung des psychiatrisch-psychotherapeutischen
Denkens gewesen, weil er im Grunde genommen der Entdecker der Psychogenese ist.

Die Trennung zwischen Körper und Psyche war bis etwa 1800 ja gar nicht gegeben. Da
unterschied man nicht zwischen mentalen oder seelischen und somatischen Prozesse,
sondern man sah den Menschen ganzheitlich. Erst durch die Aufklärung entwickelte sich
eine andere Sichtweise. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts wurden psychisch Kranke
immerhin nicht mehr als »vom Teufel besessen«, als »Abweichler« oder irgendwie "moralisch
Dekadente" gesehen, sondern als Kranke. Hinzu kamen dann die ersten Befunde der
Neurologie: Die Effekte von Hirnhautentzündungen, Verletzungen, Traumata oder Blutungen
wurden zunehmend erkannt, und es gab den wichtigen Satz von Griesinger:
»Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten«. Damit war formuliert, daß körperliche
Prozesse an vielen seelischen Symptombildungen beteiligt sind.

Charcot an der Salpetrière beschäftigte sich mit einer besonderen Gruppe von
problematischen Patientinnen und Patienten. Man wußte, daß es zwei Arten von
Anfallskranken gab: Es gab einmal die Anfallskranken, denen es nach jedem Anfall
schlechter ging; diese wurden immer dementer, immer abgebauter, sie mußten schließlich
einen Kopfschutz tragen, mußten gepflegt werden und starben schließlich. Und dann gab es
eine andere Gruppe von Anfallskranken, die auch epileptische Anfälle bekamen - denen es
hinterher aber besser oder zumindest nicht schlechter ging; diese waren nach dem Anfall
wieder klar, für sie schien so ein Anfall etwas zu sein, wodurch sich etwas löste. Es waren
überwiegend Frauen, die dieser Gruppe angehörten.

Eine der ersten Hypothesen über die Entstehung dieser Anfälle war, daß es sich dabei um
Krampfanfälle des »Hyster«, des Uterus, handeln könne; denn es waren ja fast nur Frauen.
Also sprach man von Hystero-Epilepsie. Diese Hypothese hat sich allerdings nicht
durchgesetzt. Charcot stellte nun fest, daß es möglich war, die beobachteten Symptome
durch Hypnose hervorzurufen und durch Hypnose auch günstig zu beeinflussen, also
verschwinden zu lassen. Damit war deutlich geworden und bewiesen, daß es seelische
Symptome gibt, die durch seelische Ursachen herbeigeführt werden und mit seelischen
Mitteln behandelt werden können. Diese Auffassung bildete ein Gegengewicht zu
Griesingers Sicht- und Denkweise. Beide Positionen stehen sich seit 1850/ 1860 gegenüber
und nähern sich jetzt in der Gegenwart allmählich wieder an - die Position der
Somatogenese und die der Psychogenese.

Charcot selbst galt neben einem anderen wichtigen Forscher, nämlich Oppenheim, als
jemand, der die Hysterie als posttraumatische Belastungsstörung sah. Einer der wichtigsten
Schüler von Charcot, Gilles de la Tourette, ein Neurologe, der das Tourette-Syndrom mit
erforscht hat, sagte, Charcot sei ganz selbstverständlich davon ausgegangen, daß hysterische
Symptome sehr oft durch traumatische Erfahrungen hervorgerufen worden seien. Zwei
weitere wichtige Charcot-Schüler haben diesen Gedanken aufgegriffen und fortgesetzt: Einer
war Janet, der die psychologische Abteilung an der Salpetrière leitete und im Grunde
genommen all das schon beschrieben hat, was heute unter den Stichworten "Dissoziative
Störungen, Dissoziation, Aufspaltung des Bewußtseins, posttraumatische Belastungsstörung"
diskutiert wird. Janet hat immer die Position vertreten, schwere seelische Störungen wie
diejenigen, um die es in meinem Vortrag geht, seien posttraumatische Zustände und hätten
oft etwas zu tun mit Kindesmißhandlung, Kindesmißbrauch oder anderen schweren
Traumata. Er lief mit dieser Auffassung allerdings ins Leere. Erst vor 10/15 Jahren wurde
Janet von der Gruppe um Van der Hart, Van der Kolk und Judith Herman wiederentdeckt.

Jemand anderer aber hospitierte auch in der Salpetrière, nämlich Sigmund Freud, der im
Anschluß an seinen Pariser Aufenthalt in Wien mit Breuer zusammenarbeitete. Breuer hatte
einige Patientinnen, die er nicht gut behandeln konnte und mit denen er nicht richtig zurecht
kam. Breuer und Freud haben zunächst versucht, die Charcot’sche Hypnose bei schwer zu
behandelnden psychogenen Störungen anzuwenden. Dabei machten sie nun eine ganz
interessante Wandlung durch. Bissige Zungen behaupten, die Psychoanalyse sei weder von
Sigmund Freud noch von Breuer entwickelt worden, sondern von Anna O., einer 20jährigen
Patientin mit all den Symptomen, die man heute bei Borderline Persönlichkeitsstörungen
oder auch bei Multipler Persönlichkeitsstörung findet. Abends sprach Anna O., z.B. nur
englisch, manchmal zerriß sie die Bettwäsche, warf mit Sachen um sich, dann wieder war sie
ein liebes kleines Mädchen und setzte sich Breuer auf den Schoß, was diesen in
Eheschwierigkeiten brachte.

Mit Anna O. kamen die beiden mit der Hypnose nicht so richtig weiter. Lorenzer hat das
sehr differenziert beschrieben, wie die Anfänge der Psychoanalyse damals abgelaufen sind.
Irgendwann kam Anna O. dann auf eine Idee, übertragen gesprochen: "Lieber Herr Breuer,
am besten bekommt es mir, wenn sie vorbeikommen, sich hinsetzen, mir einfach zuhören,
möglichst wenig sagen, und ich kann mir mal alles von der Seele reden." Sie nannte das
»chimney sweeping«, also den Schornstein freikehren, und sprach von »talking cure« -
abends sprach sie ja nur englisch. Diese »talking cure« bekam ihr tatsächlich, und Breuer und
Freud kamen auf die Idee, daß Hypnose mit Reden eventuell wirksamer ist als Hypnose
ohne Reden.

Freud entwickelte dann in einem Zwischenschritt ein Verfahren, bei dem er seine Patienten
in Hypnose versetzte und sie aufforderte, dabei alles auszusprechen, über alles zu reden,
was ihnen zu dem Symptom in den Sinn kam. Heute würde man das vielleicht Focussing
nennen oder Traumaexposition. Und was er dabei zu hören bekam, versetzte ihn in
Erstaunen bzw. auch wiederum nicht zu sehr, weil er bei Charcot und auch bei Janet ja
schon ähnliches gehört hatte: Nämlich daß am Grunde jeder hysterischen Symptombildung
eine Erfahrung vorzeitiger sexueller Erregung in Kindheit und Jugend liegt! Hier taucht zum
ersten Mal die Verführungstheorie auf. 18 Fälle publizierte Freud 1896, die Reaktion darauf
ist bekannt: Krafft-Ebing sprach von einem wissenschaftlichen Märchen, Freuds Vortrag
wurde weder zitiert noch diskutiert; er mußte feststellen, daß er keine Überweisungen mehr
bekam, daß er ausgegrenzt wurde und daß man mit ihm nichts mehr zu tun haben wollte.

Ein Jahr später hat Freud dann das formuliert, was heute oft als Widerrufsbrief bezeichnet
wird: er habe sich wohl doch geirrt, es gäbe auch viel Phantasien. Danach durchzieht sein
Werk ein Pendeln: Es gibt immer wieder Textpassagen, die man als Beleg dafür zitieren
könnte, daß Freud immer an das Trauma geglaubt hat; es gibt aber immer wieder auch
Textpassagen, mit denen man belegen könnte, Freud habe die Verführungstheorie damals
begraben, die Psychoanalyse entwickelt und sei der Auffassung gewesen, nicht das Trauma
sei wichtig, sondern die ubiquitären Phantasien, die der menschlichen Entwicklung zu
Grunde lägen: die Kindheitsentwicklung und das, was in der Seelenschaft zum Trauma
gemacht werde.

In der Zeit nach ihm, bei seinen Schülerinnen und Schülern, war das Trauma ein Tabu. Es
galt ganz klar, daß das Trauma kein relevantes Ereignis sei, Traumatisierungen spielten keine
Rolle. Mit dieser Position stand die Psychoanalyse nun nicht sonderlich alleine da, in
Frankreich z.B. wurde die Diskussion um den sexuellen Kindesmißbrauch um die
Jahrhundertwende eigentlich abgeschlossen. Es gab viele Gegenstimmen gegen diejenigen,
die sagten, daß Kindesmißbrauch weit verbreitet sei und daß man gerichtlich einschreiten
müsse. Es gab viele, die meinten, das seien alles Phantastereien; insbesondere als dann auch
geachtete Männer angezeigt wurden und nicht nur Leute aus Randgruppen, hieß es schnell,
das seien alles Spinnereien. Die Frauen, die solche »Phantasien« von sich gaben, kamen in
die Psychiatrie als seelisch Verwirrte, und das Thema war damit begraben. Letztlich kann
man sagen: Zwischen 1895 und etwa 1980 spielte dieses Thema in der Wissenschaft keine
Rolle. Sexueller Mißbrauch und Kindesmißbrauch waren kein Thema, Kindesmißhandlung
sowieso nicht, die Grenzen zwischen dem Erziehungs- und Züchtigungsrecht und
Mißhandlungen sind ja auch heute noch sehr fließend. Es ist ja auch gar nicht einfach, in
diesem Bereich präzise Kategorien zu definieren.

Eine zweite Denktradition ist wesentlich, die sehr vielen, die im Psychotherapiebereich
arbeiten, überhaupt nicht gegenwärtig ist. Es geht dabei um Unfälle, Haftpflicht und Krieg.
Als die erste Eisenbahn in Großbritannien fuhr, gab es am ersten Tag auch schon den ersten
Eisenbahnunfall. Mit der Industrialisierung häuften sich die Unfälle in den Bereichen des
Verkehrswesens und der Fabriken, und es entstand so allmählich der Haftpflichtgedanke. Es
entstand der Gedanke: wenn so etwas durch eine Eisenbahn verursacht worden ist, dann
muß die Eisenbahngesellschaft auch dafür bezahlen. Es gab eine ganze Reihe von Leuten,
die nach so einem Eisenbahnunglück oder auch nach einem anderen Verkehrsunfall oder
wenn sie sich in der Fabrik mit irgendwelchen Maschinen verletzt hatten dann sagten, dieser
Vorfall habe ihnen geschadet: Sie könnten nicht mehr schlafen, müßten immer an den Vorfall
denken, sie fingen an zu zittern, könnten sich nicht mehr konzentrieren und seien
durcheinander. Sie sagten, das liege an dem Unfall.

Die ersten Hypothesen bezüglich dieser Ereignisse waren somatische Hypothesen. Erichsen
formulierte die Überlegung, daß die Erschütterungen z.B. bei einem Eisenbahnunfall zu
Irritationen in der Wirbelsäule und im Rückenmark führten, und diese
»Eisenbahnwirbelsäule« sei dafür verantwortlich, daß es später zu Zittern,
Konzentrationsstörungen und schnellem Herzschlag komme. Der ganze Prozeß habe also
eine organische Genese. Diese Hypothese hat bis heute ihre Wertigkeit. Bei sehr vielen
Halswirbelsäulenschleudertraumata ist die Irritation der Wirbelsäule etwas, was immer
wieder mit diskutiert wird. Es ist also nicht so, daß der Aspekt der Somatogenese heute
vom Tisch sei.

Es gab aber auch eine Gegengruppe, die sagten, das ist nicht etwas Organisches, was da
abläuft, sondern das Wesentliche sei der Schreck und der Schock, und es sei auch nicht
eine Sache der Wirbelsäule, sondern überwiegend des Gehirns, und deshalb sei es besser,
vom »railway brain« zu sprechen, vom »Eisenbahngehirn«. Für diese Tradition war
Oppenheim wichtig, der als erster formuliert hatte, daß es eine traumatische Neurose oder
eine traumatogene Neurose gebe. Er sagte 1889: "Aus den körperlichen Veränderungen
heraus entwickeln sich seelische Symptome"; diese seien zwar seelischer Natur, aber er sah
eine körperliche Verursachung im Hintergrund. Gar nicht so unmodern, wie ich später noch
ausführen werde.

Es gab natürlich sehr frühzeitig noch eine dritte Gruppe, die meinte, das seien alles
verkommene Subjekte und Simulanten, Versicherungsbetrüger und Spinner, die anders nicht
zu Geld kommen würden und die sich nach einem Eisenbahnunfall oder weil ihnen irgendwie
in der Fabrik eine Maschine eine Verletzung zugefügt habe, sagen: "Da will ich doch mal die
Versicherungsgesellschaften ausschlachten oder ich will eine Rente haben oder ich will
einfach nicht mehr arbeiten müssen".

Diese drei Hypothesen: Somatogenese, Psychogenese, Simulation und Versicherungsbetrug
durchziehen die gesamte Diskussion bis in die Gegenwart und werden sich wahrscheinlich
erst auflösen lassen, wenn man tatsächlich mit den Gehirnuntersuchungen und mit den
Untersuchungen der posttraumatischen Belastungsstörungen, die gegenwärtig im Gange sind,
weitergekommen ist. 1871 wurden in Deutschland die ersten Gesetze zur Haftpflicht
erlassen, es gab Begutachtungen und Gutachterstreits.

Schließlich führte ein bestimmtes Ereignis noch zu einer Akzentuierung dieser Abläufe, ein
Ereignis, das zu einer, man möchte fast sagen: geschichtlich fast einmaligen, Gruppe von
Symptomen führte, nämlich der erste Weltkrieg. Im ersten Weltkrieg, ziemlich genau ab
1916, entstand plötzlich eine Symptomatik, die vorher und nachher so in Kriegszeiten nur
sehr, sehr selten beobachtet worden ist. Das waren die Kriegszitterer. Das waren Soldaten,
die plötzlich ein unstillbares Zittern bekamen, das nicht abzustellen war. Wurden sie aus der
Frontlinie herausgenommen, beruhigten sie sich allmählich wieder. Sie wurden im Lazarett
behandelt, und sobald sie wieder an die Front sollten, kam das Zittern wieder.
Selbstverständlich war wiederum die erste Hypothese, das sei somatogen, das sei
körperlich bedingt, das sei der Granatenschock; durch die Granatenexplosionen kommt es
in den Schützengräben zu heftigen Erschütterungen, und diese Druckwellen sollten im
Wirbelsäulenbereich Irritationen auslösen, die wiederum verantwortlich seien für dieses
Kriegszittern.

Selbstverständlich bildeten eine zweite große Gruppe diejenigen, die sagten, das seien feige
Gesellen und Vaterlandsverräter, die sich nur drücken wollten; die wollten nicht kämpfen,
sondern sich nur der Situation entziehen. Es entwickelte sich eine militärpsychiatrische
Tradition, die darin bestand, daß man sagte: die psychiatrische Behandlung eines Soldaten
muß belastender sein als der Fronteinsatz. Das ist durchaus auch erfolgreich in allen
Nationen durchgeführt worden, da nahmen sich Amerikaner, Engländer, Franzosen,
Deutsche und Österreicher nicht viel. Mit Kaltwasserbehandlungen, mit Elektroschocks und
Aversionstherapie wurde versucht, die Soldaten dazu zu motivieren, wieder in den Einsatz
zurückzugehen, durchaus mit Erfolg. Die Soldaten flüchteten im Grunde genommen
irgendwann einmal aus dem Lazarett, bekamen aber sehr schnell wieder dieses Kriegszittern
und waren dann doch nicht mehr einsatzfähig. Heute weiß man ziemlich sicher, daß eine
bestimmte Art der Kriegsführung dieses Symptom hervorgerufen hat, eine Kriegsführung,
die vorher und nachher nur sehr selten war, nämlich der Schützengrabenkrieg. Die Soldaten
waren völlig hilflos in ihren Schützengräben eingegraben, und es war eine absolut statistische
Willkür, ob sie überlebten oder nicht. Es hat in Frankreich während des ersten Weltkrieges
auf den Schlachtfeldern Tage gegeben, da gab es fünfzig-, sechzig-, siebzigtausend Tote an
einem Tag in allen kriegführenden Nationen. Man erforscht zur Zeit, welche Effekte diese
Massentraumatisierungen möglicherweise auf die Geschichte der Nachkriegszeit, auf die Zeit
1920/1930 und die Katastrophe des 2. Weltkrieges hatten.

Ja, es ist eine potentiell lebensgefährliche Situation. Es gab einige wenige Personen in
Großbritannien, den USA, die versuchten, bei diesen Soldaten, die aus dem 1. Weltkrieg
wiederkamen, eine »talking-cure« zu machen, eine Redekur nach Sigmund Freud. Kardinger
war ein Jahr bei Freud gewesen und hat selbst in seiner Autobiographie berichtet, daß es
ihm als Kind nicht gut gegangen ist, daß er viel geschlagen wurde, daß er verschiedene
Traumata erlebt hat. Er konnte sich in posttraumatische Zustände einfühlen und versuchte
eine Redekur mit den Soldaten, sagte aber ganz offen, daß sie ihnen nicht geholfen habe.
Was die Soldaten trotzdem gut fanden, war, daß ihnen überhaupt jemand geglaubt hat und
ihnen zugehört hat und sie nicht gleich als Simulanten oder Versicherungsbetrüger
abgestempelt hat. Nach dem 1. Weltkrieg gab es in allen Nationen eine ganze Reihe von
Soldaten, die Versicherungsansprüche stellten; das wurde zum volkswirtschaftlichen
Problem. Mitten in der Weltwirtschaftskrise hatte man kein Geld auch noch dafür übrig, und
es gab sehr bald Gesetze, die besagten, daß es für diese Probleme nichts gebe. In
Deutschland gab es einen Beschluß des Reichsversicherungsamtes, der wirklich perfide ist,
und der besagte: Sofern jemand von seinem Unfall etwas hat, ist es zwangsläufig so, daß das
der Grund für seine persistierenden Symptome ist. Das bedeutet: sobald jemand eine Rente
beantragt, hat er einen sekundären Krankheitsgewinn, der die Ursache stabilisiert und
verstärkt, und das spricht dagegen, daß er bezugsberechtigt ist. Das ist ein hervorragender,
geradezu klassischer Double bind, aus dem es ja kein Entrinnen gibt: In dem Moment, in
dem Menschen mit solchen Symptomen einen Rentenantrag stellen, sind sie
Rentenneurotiker und haben deshalb keinen Rentenanspruch.

Im zweiten Weltkrieg versuchten die Amerikaner und Briten einen anderen Umgang mit
ihren Soldaten als im ersten. Sie hatten aus der posttraumatischen Belastungsstörung gelernt,
machten Militärpsychiatrie und, wie einige von Ihnen vielleicht wissen, auch
Gruppentherapie. Therapeutische Gemeinschaften entstanden, man versuchte eine
bestimmte Gruppenkohäsion herzustellen, weil man festgestellt hatte, daß das beste Mittel
gegen posttraumatische Belastungszustände eine gute Gruppenkohäsion ist. Das ist das, was
am ehesten verhindert, daß Soldaten schwere PTSD, also posttraumatische
Belastungsstörungen entwickeln, und das hatte man auch erforscht.

Nach dem zweiten Weltkrieg war insbesondere die Bundesrepublik Deutschland mit einer
geschichtlichen Tatsache konfrontiert, die nicht aufarbeitbar ist, und die die Geschichte
Deutschlands verändert hat und weiterhin verändern wird: die Auseinandersetzung mit dem
Holocaust. Auf Druck der Alliierten verabschiedete der Bundestag 1956 das
Entschädigungsgesetz, das beinhaltete, daß jemand, der durch nationalsozialistische
Verfolgung und Konzentrationslager Gesundheitsschäden davongetragen hat, einen
Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente hat, auf eine EU-Rente. Der Gesetzestext war
so formuliert, daß, wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, daß es da Zusammenhänge gibt,
daß dann eine solche Rente gewährt werden muß. Dies mußte begutachtet werden,
selbstverständlich viel über die Ordnungsämter, und traf auf die wissenschaftliche
Lehrmeinung in der Psychiatrie - nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA, ja
sogar in Israel -, daß akute Belastungsreaktionen zwar zu posttraumatischen Zuständen
führen können, daß diese aber nur ein ¼ bis ½ Jahr andauern und sich dann wieder geben.
Hat jemand mehr als ½ Jahr nach einer Traumatisierung Störungen, dann müsse er vorher
schon konstitutionell belastet gewesen sein, neurotisch beispielsweise; und wenn die
Symptome mit einem gewissen zeitlichen Abstand zum ursprünglichen Ereignis auftauchen,
dazwischen also 5 oder 10 Jahre liegen, dann konnten sie mit dem eigentlichen Trauma
nichts mehr zu tun haben, sondern seien auf andere Faktoren zurückzuführen. Ein Wiener
Psychiater formulierte: »Die Belastbarkeit der menschlichen Seele liegt im Unendlichen«, ein
gesunder Mensch verkraftet also alles.

Nun darf man nicht vergessen, daß bei einem umschriebenen Trauma - nehmen wir die
Entführung der »Landshut« nach Mogadischu - ziemlich uniform folgendes zu beobachten ist:
Etwa ¼ der Leute hat keine über eine Woche hinausgehenden Symptome und Störungen;
etwa die Hälfte hat Störungen, die etwa ein halbes Jahr andauern, also eine akute
posttraumatische Belastungsstörung; etwa ¼ behält schwere chronische posttraumatische
Belastungsstörungen. Das bedeutet: Ein und dasselbe Ereignis hat eine gewisse Bandbreite
an Folgen. Insofern gibt es für die alte Hypothese, entscheidend sei die innerseelische
Verarbeitung und nicht das Trauma, durchaus auch Argumente. Es bedurfte dann aber der
Arbeiten von Venzlaff - Ulrich Venzlaff ist mein psychiatrischer Lehrer - und anderer, die
besagten, daß es auch Extremtraumatisierungen gibt. Unter denen bricht fast jeder
zusammen.

Diese Gruppe bekam Unterstützung aus einer ganz anderen Ecke: der amerikanische
Militärpsychiater Lifton arbeitete in Japan und Korea mit Kriegsgefangenen, mit Leuten, die
in japanische Kriegsgefangenschaft geraten waren oder die bei den Chinesen eine
Gehirnwäsche erlebt hatten. Dieser Psychiater interessierte sich 1955 für die Frage: "Wie
hat sich eigentlich der Abwurf der Atombomben ausgewirkt?". Er stellte bei den
Überlebenden von Hiroschima und Nagasaki fest, daß diese ein psychopathologisches
Syndrom hatten, das demjenigen der Überlebenden von Konzentrationslagern sehr ähnlich
war.

Als diese beiden Gruppierungen dann Ende der 50er Jahre zusammenkamen und sich
austauschten, wurde klar, daß es Extremtraumatisierungen gibt, unter denen fast jeder
Mensch schwere seelische Symptome entwickelt, denen also die wenigsten gewachsen sind.
Damit war im Grunde genommen der erste Schritt getan, um das Trauma als solches zu
etablieren.

Krystal, hat einmal gesagt, daß wir uns mit Extremtraumatisierungen beschäftigen, daß aber
eigentlich die meiste alltägliche Gewalt innerhalb der Familie geschieht. Diese Äußerung
zeigte wiederum zunächst keine Wirkung. Es bedurfte eines erneuten Ereignisses, um das
auszulösen, was jetzt aktuell ist, nämlich daß überall über Trauma und posttraumatische
Störung diskutiert und geforscht wird. Dieses Ereignis war der Vietnam-Krieg.

Nach dem Vietnam-Krieg hatten bis zu einer Million Veteranen in den USA mit
posttraumatischen Störungen zu tun, und die erste Argumentation war wiederum: "Die waren
vorher alle schon irgendwie gestört; das sind verkappte Pazifisten oder Hippies oder Leute,
die Drogen genommen haben, das hat mit dem Krieg nichts zu tun." Die Veteranen ließen
sich das aber nicht mehr bieten, insbesondere die Angehörigengruppen wehrten sich und
hielten dagegen: "Nach dem ersten Jahr ist unser Sohn zurückgekommen, mit schönen
Auszeichnungen und Artikeln im Kreisblatt, er stand im Mittelpunkt - und nach zwei Jahren
war er ein menschliches Wrack, hat um sich geschossen, hat seine Frau verprügelt und seine
Kinder, er konnte nicht mehr arbeiten, hat getrunken und war völlig neben der Spur. Der
war im ersten Jahr gesund, und daß er sich nach dem zweiten Jahr so entwickelte, das zeigt,
daß er schon vorher irgendwie gestört gewesen ist? Das geht so nicht!" Damit begann im
Grunde genommen die Erforschung der posttraumatischen Belastungsstörung auf breiterer
Basis. Ebenfalls in den 70er/80er Jahren gab es eine zweite Bewegung, die Frauenhäuser und die
feministische Forschung, die die Diskussion um strukturelle Gewalt gegen Frauen in Gang
brachten. Deren Annahme lautete, daß Kindesmißbrauch, Vergewaltigung und Gewalt in
der Familie Schäden hervorrufen. Begriffe wie Battered-Child-Syndrom oder
Broken-Home-Situation entstanden. Die an dieser Diskussion beteiligten Frauen trafen sich
auf ersten Konferenzen, es wurde die posttraumatische Belastungsstörung formuliert. 1978
erschien ein sehr einflußreiches Buch von Charles Figley, danach war der Begriff der
Traumatisierung klar formuliert, auch in seinen psychodynamischen Verarbeitungen klar, und
es wurde deutlich, daß die Verarbeitung von Traumata relativ uniform abläuft.

Anfang der 90er Jahre erschien ein dickes »Handbuch der posttraumatischen Syndrome«, in
dem verschiedene Syndrome zusammengetragen wurden: Zustand nach
Konzentrationslager, Zustand nach Kriegsgefangenschaft bei den Japanern, Zustand nach
Kriegsgefangenschaft bei den Deutschen, Zustand nach Erdbeben, Zustand nach
Verschüttung, Zustand nach Geiselhaft, Zustand nach Flugzeugabsturz usw. usf. In
annähernd 100 Kapiteln wurden die verschiedensten Traumatisierungen zusammengestellt,
und dabei wurde deutlich, daß es ein bestimmtes Schema der Traumaverarbeitung gibt, das
fast biologisch abläuft.



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