Die erwähnten »Disziplinen« bedeuten im WTO-Jargon nichts anderes als gegen Regierungen anwendbare Zwangsmaßnahmen. Die Arbeitsgruppe für innerstaatiiche Regulierung (WorkingPartyonDomesticRegulation)gehtdern »Notwendigkeits«begriff auf den Grund; sie befasst sich mit der Aufstellung der rechtlich zwingenden Beschränkungen für die Regulierungskapazität der Regierungen. In jedem Land geraten also dessen Regeln für die Qualifikation des Personals, die Zulassungsverfahren zur Ausübung bestimmter Berufe und die beim Erbringen einer Dienstleistung einzuhaltenden Standards sämtlich ins Fadenkreuz.
Jeder Mitgliedstaat hat theoretisch das Recht, sich politische Ziele zu setzen, doch um sie zu erreichen, muss er das Mittel wählen, »das den Handel so wenig wie möglich einschränkt«, und wenn er sich widersetzt, muss er mittels der DSB »diszipliniert« werden. Artikel XIV über die »Allgemeinen Ausnahmen« ermächtigt die Regierungen, »notwendige Maßnahmen« zu ergreifen, um die öffentliche Ordnung und Moral sowie die Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen zu schützen. Diese »notwendigen« Maßnahmen dürfen jedoch keine »versteckte Einschränkung des Handels mit Dienstleistungen« darstellen.
Also wird das »Notwendigkeits«-Kriterium gelten, und der DSB wird es obliegen, im Streitfall zu entscheiden, ob eine nationale Bestimmung - Gesetz, Norm oder Regel »strenger als notwendig« zum Erreichen eines Ziels der Regierung und womöglich nur eine versteckte Einschränkung ist. In letzterem Fall bildet sie eine illegitim Handelsschranke und muss abgeschafft werden. Auch in dieser Hinsicht wird denen, die an der Möglichkeit des Schutzes für die öffentlichen Dienstleistungen unter dem GATSRegime zweifeln, Böswilligkeit und Verbreitung von Falschmeldungen vorgeworfen. Doch nach den Beweisstükken zu urteilen, haben abermals die Kritiker Recht.
74 »Notwendigkeit« stiftet WTO-Recht
Eine Aufstellung der bereits (unter dem GATT-Regime und seit 1995 unter dem vvT0-Regime) mit Bezug auf die »Notwendigkeit« eines Schutzsystems entschiedenen Streittä@ie zeigt, dass die Regierungsmaßnahme in zehn von elf Fällen für »strenger als notwendig« erachtet und die betreffende Regierung gezwungen wurde, ihr Recht in Einklang mit den Regeln der WTO zu bringen."
Wir sind bereits auf den »Thunfisch/Delphin«-Fall und den »Garnelen/Schildkröten«-Fall eingegangen, in denen die Maßnahmen einer Regierung (hier der USA) zum Artenschutz für »strenger als notwendig« erachtet wurden. Die europäische Irnportsperre für Hormonrindfleisch wurde ebenfalls für strenger als zum öffentlichen Gesundheitsschutz notwendig erachtet. Die Thailänder dürfen den Import von amerikanischen Zigaretten nicht untersagen,
Teeranteile und Zusatz-
obwohl diese mehr Chemikalien,
stoffe enthalten als die einheimischen Zigaretten. Die Australier dürfen aus denselben Beweggründen keine Quarantänemaßnahmen gegen kanadische Lachse verhängenUnter Berufung auf die »Notwendigkeit« errichtete Schutzsysteme für die Umwelt, für Arten von Lebewesen oder für die öffentliche Gesundheit wurden, mit einer Ausnahme, jedesmal als inakzeptabel beurteilt.
Der elfte Fall, im März 2001 in der Berufungsinstanz entschieden, betraf Kanadas Klage gegen Frankreich \Negen dessen Importsperre für kanadischen Chrysotilasbest. In erster Instanz hatte die DS13 Frankreich verurteilt (weil es andere isolierstoffe importiert, die im Vergleich mit Asbest »gleichartige Produkte« seien), ihm aber gestat-
70 Michelle swenarchuk, Counsei and Director of international Programmes, Canadian Environ-ental Law Association, »General Agreement on Trade in Services: Negotiations concerning Domestic Regulations under GATS articie VI (4)«. Submission to the Department of Foreign Affairs and international Trade and industry, Canada, 24. November 2000 (swenar@cela.ca).
N t ndi k it" tift tWTO-Recht 75
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