Immer der Sonne hinterher
»Schatz, lass uns das Haus in den Schatten rollen«
- Sätze wie dieser gehören zum Alltag in einem
ungewöhnlichen Wohnort in Österreich. Die durch
Solarenergie erzielten Stromüberschüsse aus dem
Kraftwerk werden ins öffentliche Netz eingespeist
Es erinnert an eine Tonne mit Geweih auf dem Dach,
dreht sich mit der Sonne und stellt mehr Energie her, als
die Bewohner brauchen. In wenigen Jahren soll das
»Gemini-Haus« getaufte Bauwerk serienreif sein. Vorerst
durchläuft es im österreichischen Weiz einen Test auf
Alltagstauglichkeit: Ein junges Paar lebt zur Probe im
bewohnbaren Kraftwerk.
Man nähert sich und ist verwirrt. Je nachdem, zu welcher
Tageszeit der Gast bei Tanja Eisner und Martin
Wiesenhofer klingelt, befindet sich die Haustür an einer
anderen Stelle. Denn das Gemini-Haus dreht sich: Jede
Stunde gehen im Keller die Motoren an, die das runde
Holzhaus auf Rollen um wenige Zentimeter
voranbewegen, immer der Sonne nach, die durch ein
riesiges, 40 Quadratmeter großes Fenster über beide
Geschosse ins Innere scheint. Abends macht sich das
Haus auf den Rückweg, sodass es am Morgen den
Sonnenaufgang an der richtigen Stellung erwartet. Nichts
ruckelt, der Motor läuft ruhig und rund, nur manchmal
hören Tanja und Martin ein leises Knarren im Gebälk.
Doch daran, sagen sie, haben sie sich längst gewöhnt.
Das Gemini-Haus dreht sich nicht aus Gründen der
Extravaganz, sondern um seine Ausbeute an Energie zu
erhöhen. Die Hülle des Gebäudes ist gespickt mit
Photovoltaikzellen. Sie sitzen zum einen auf dem Dach
auf zwei Flügeln, die ihrerseits schwenkbar sind. Zum
anderen hat der Architekt Erwin Kaltenegger vor dem
Riesenfenster einen »Sonnenvorhang« montiert. Es
handelt sich um eine Flucht von Glaslamellen, die nicht
nur mit Solarzellen, sondern auch mit Hologrammfolien
bestückt sind. Die trickreiche Installation lässt das
indirekte Licht ins Innere des Hauses und leitet die
Sonnenstrahlen direkt auf die Photovoltaik - was deren
Wirkungsgrad erhöht. Um die Wärme im Gebäude zu
halten, hat Kaltenegger das Haus bestens isoliert. Im
Inneren ist es ganz aus Holz, darüber liegt eine sieben
Zentimeter starke Kartonwabe mit viel Luft dazwischen,
und die Außenhaut besteht aus Polycarbonat, das
aussieht wie perlmuttfarbenes Wellblech. Vorteil des
Hightech-Materials: Die Sonnenstrahlen können bis zur
hölzernen Innenhaut vordringen und erwärmen so -
zeitverzögert - den Innenraum. Heizkörper fehlen, was
Tanja und Martin beim Putzen praktisch finden. Die
wenige Wärme, die das Haus benötigt, kommt mit der
frischen Luft. Diese wird den Bewohnern, ähnlich wie bei
jeder Klimaanlage, durch Schlitze in den Wohnräumen
zugefächelt. Das Heizen besorgt eine elektrische
Wärmepumpe. Die freilich hat nicht viel zu tun: Weil das
Haus praktisch luftdicht gebaut ist, geht kaum Wärme
verloren. Vier Kilowatt, das entspricht der Leistung von
19 Hundert-Watt-Glühbirnen, genügen, und es ist wohlig
warm auch am frostigsten Wintertag.
Die Fäden der Technik laufen im Keller zusammen.
Auch er ist kreisförmig, bewegt sich aber nicht mit dem
Haus. Neben den Rollen fürs Drehen und sämtlichen
Leitungen gibt es hier auch zwei Stromzähler: einen für
den verbrauchten und einen für den hergestellten Strom,
der ins öffentliche Netz eingespeist wird. 9.000
Kilowattstunden aus Sonnenenergie müsste das
Gemini-Haus pro Jahr erzeugen. Mit 7.000
Kilowattstunden sollten Tanja und Martin für Heizen,
Kochen und Licht auskommen, haben die Planer
errechnet. Zum Vergleich: Ein gleich großes,
herkömmliches Einfamilienhaus verbraucht etwa 18.000
Kilowattstunden.
Nicht, dass die Dreh-Tonne im Inneren nach
ungemütlichem Hightech-Schnickschnack aussähe. Im
Gegenteil. Die Wohnfläche ist mit 120 Quadratmetern
vielleicht etwas eng bemessen, doch das Haus wirkt
überaus freundlich - wohl gerundet und duftend nach
dem Holz der Innenhaut. Im Alltag zeigt die Tonne auch,
was technisch in ihr steckt. Wenn die Aussicht mal
langweilt, starten Tanja und Martin den Rechner und
drehen ihr Fenster einfach in eine andere Richtung.
»Schatz, lass uns das Haus in den Schatten rollen« - ein
Satz, der in ihrem Alltagsleben durchaus vorkommt. In
der kalten Jahreszeit können sie, ebenfalls via Rechner,
Dämmflügel vor das Fenster fahren, so dick wie
Frachtraumtüren von Jumbojets. Dann bleibt allerdings
auch das Licht draußen, und die Yuccapalmen sind
verstimmt.
Temperatur und Beleuchtung regeln Bewegungsmelder:
Die Haustür geht auf, das Licht an. Anderswo kann das
lästig sein. Im Schlafzimmer beispielsweise. "Eine
Bewegung in der Nacht, und die Lampen gingen an",
erinnern sich die beiden an ihre Anfänge im
Gemini-Haus.
Die kleineren und größeren Tücken der Technik im
Alltag aufzudecken, ist der Job des Testerpaares. In
regelmäßigen Abständen kommen Solartechniker
vorbei, lesen Stromertrag und -verbrauch ab und fragen
nach energierelevanten Lebensgewohnheiten:
Kochexzesse am Herd? Heiße Vollbäder? Psychologen
erkundigen sich anhand von Fragebögen nach dem
Befinden der beiden. Die Antwort ist immer gleich:
»Alles bestens, auch die Dreherei macht uns nicht irre.«
Dieser Tage stehen die letzten derartigen Besuche an.
Die Testphase für das Gemini-Haus läuft aus, Tanja und
Martin müssen bald ausziehen. Sie tun es schweren
Herzens.
Sechs Planungsbüros haben am Gemini-Haus
mitgetüftelt: Energie-, Steuerungs- und Elektrotechniker,
Maschinenbauer, Statiker und der Architekt. Plus ein
Manager, der alle koordinierte. Die Baukosten für das
Musterhaus lagen bei 920.000 Euro und sollen bei
Serienproduktion auf 400.000 Euro sinken. Immer noch
ziemlich viel, doch schließlich lässt sich mit dem
bewohnbaren Kraftwerk auch etwas verdienen, weil es
Strom ins Netz einspeist. Der errechnete
Jahresüberschuss liegt bei 2.900 Euro . Ein schöner
Urlaub, zum Beispiel. " GUDRUN SAILER
taz Nr. 7044 vom 3.5.2003, Seite I, 199 Zeilen (TAZ-Bericht),
GUDRUN SAILER
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