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kalasnikov schrieb am 7.12. 2000 um 16:01:08 Uhr über

Chemnitz

Neonazis - Stiefbrüder
der Linken?

Was hat Kay Diesner von der Linken gelernt?
Über Militanz und Habitus,
Nationalrevolutionäre und Naturmystik streiten
die Jungle World-Redakteure Ivo Bozic, Jürgen
Elsässer und Wolf-Dieter Vogel sowie der
Antifa-Experte Andreas Fahs

Elsässer: Im März hat der Nazi-Terrorist Kay Diesner einen
PDS-Buchhändler in Berlin-Marzahn niedergeschossen und
wenig später einen Polizisten getötet, einen anderen schwer
verletzt. In der Jungle World wurde in der Berichterstattung
zum kürzlich eröffneten Prozeß gegen Diesner nahelegt, er
habe als verlängerter Arm von Ex-General Jörg Schönbohm
gehandelt, des Berliner CDU-Innensenators. Offenkundig ist
das aber falsch: Diesner selbst hat vor Gericht nicht
Schönbohm, sondern die RAF und die IRA als seine
Vorbilder benannt. Wie denen gehe es auch ihm um den
Kampf gegen den »faschistischen-imperialistischen Staat«.
Müssen wir unsere Einschätzung revidieren?

Vogel: Die vermeintlich linken Phrasen waren nur die eine
Hälfte seiner diffusen Argumentation. Ansonsten hat Diesner
typische Nazi-Positionen vertreten - etwa die Hetze gegen
Türken und Bosnier, die Marzahn vermüllen.

Elsässer: Das ist ja das Interessante: Wie diese beiden
Argumentationsstränge, einer von links und einer von rechts,
in seinem Kopf zusammengehen.

Fahs: Diesner bezieht sich nicht in erster Linie auf die
Inhalte, sondern auf die Formen der RAF. Die
Professionalität und Präzision, mit der die RAF etwa beim
Herrhausen-Attentat die tödliche Bombe an einen
lasergesteuerten Auslöser koppelte - das imponiert auch dem
»Arischen Werwolf« Diesner.

Bozic: Wir haben ihn als Schönbohms verlängerten Arm
bezeichnet, weil Schönbohm die PDS wegen der
Verhinderung eines Nazi-Aufmarsches in Berlin-Hellersdorf
scharf attackiert hat. Das sahen die Nazis genauso. Zur selben
Zeit gab es die Morddrohungen gegen die Berliner
PDS-Chefin - und dann ist Diesner losmarschiert und hat
geballert. Das war richtig, diesen Zusammenhang
aufzuzeigen.
Außerdem: Diesner sieht sich selbst als Einzelkämpfer - das
ist nicht vergleichbar mit dem Konzept der RAF, einem
Agieren im geschlossenen Kollektiv.

Vogel: Ich gehe davon aus, daß Diesners positiver Bezug auf
die RAF in erster Linie einem extremen Subjektivismus
geschuldet ist. Auch in der radikalen Linken, nicht nur in der
bewaffneten, kursiert immer wieder dieses »Wir«, die Guten,
im Kampf gegen »die«, die Bösen. Man denke an die Position
»Mensch oder Schwein«. Diesner hat den Schußwechsel mit
den Polizisten als »Kampf Mann gegen Mann« geschildert.
Das erinnert fatal an manche Punks, die Kapuzenpullis mit
dem Aufdruck »Schieß doch, Bulletragen.

Elsässer: Es stimmt nicht, daß Diesner sich nicht auf die
Inhalte der RAF beziehen konnte. Die RAF hat hauptsächlich
als nationale Befreiungsfront agiert, nicht als soziale, ihre
spektakulärsten Aktionen richteten sich gegen die US-Armee,
die Nato und ihre Repräsentanten. Das ist kompatibel mit dem
Ziel der Rechten, die sogenannten »Besatzer« loszuwerden.

Fahs: Ohne daß ich jetzt zentrale Fehler der RAF
beschönigen wollte, bleibt doch Fakt, daß ihre
spektakulärsten Aktionen dem deutschen Großkapitalisten und
Kriegsverbrecher Schleyer plus noch einigen anderen
ähnlichen Kalibers gegolten haben.

Bozic: Interessant ist vielleicht, daß Diesner im Lübecker
Knast einen neuen Freund gefunden hat, und zwar Michael
Steinau, der der Mitgliedschaft in den Antiimperialistischen
Zellen (AIZ) verdächtigt wird. Die AIZ bezog sich anfangs
unter anderem auf die RAF, hat aber dann immer radikaler ein
islamistisch-fundamentalistisches Weltbild vertreten. Mit
Diesner trifft er sich regelmäßig beim Hofgang. "Wir liegen
gar nicht so weit auseinander", hat Steinau in einem Brief
geschrieben.

Elsässer: Also noch einer, in dessen Kopf sich rinks und
lechts vermischt hat.

Bozic: Aber die AIZ ist nicht repräsentativ für die radikale
Linke und wird von ihr schon immer scharf kritisiert.

Vogel: Zweifellos sind beide nicht repräsentativ. Doch es
geht eben um die Auswirkungen von linken Diskursen. Ich
erinnere daran, daß Diesner an einer Kreuzberger 1.
Mai-Demonstration teilgenommen und vor Gericht begründet
hat: »Ich teile gewisse Denkanstöße mit diesen Leuten

Fahs: Diesner hat für die Nazi-Szene die Kreuzberger Linke
ausspioniert, und das könnte auch ein Motiv für seine
Teilnahme an dieser Demonstration gewesen sein. Weiterhin
wissen wir nicht, ob er wegen Angriffen gegen die Polizei
verhaftet wurde, oder ob er einfach in eine Massenfestnahme
kam.

Bozic: Es kann natürlich Zufall sein, aber ich möchte
feststellen, daß Diesner nicht an einer 1. Mai-Demonstration
der undogmatischen, autonomen Linken teilgenommen hat,
sondern an einer, die von stalinistisch-maoistischen Gruppen
veranstaltet wurde. Da paßte er mit seinem
Gut-Böse-Weltbild auch besser hin. Die undogmatische Linke
hat ja dieses platte Zwei-Klassen-Denken gerade
durchbrochen.

Fahs: Gegen die Stalinisten kann man alles mögliche
Schlechte sagen, aber den Diesner sollte man ihnen nicht auch
noch anhängen.

Vogel: Es geht doch nicht um eine Schuldzuweisung im
Ping-Pong-Stil: Ätsch, die Stalinisten waren's, wir
Antiautoritären haben damit nichts zu tun. Denn es gibt leider
auch argumentative Versatzstücke, die Diesner von der
undogmatischen Linken übernommen hat, und zwar die
ökologistischen. Diesner sprach im Prozeß vom "Holocaust,
den der BRD-Staat am deutschen Volk betreibt" - und nannte
als Beispiele Castor-Transporte und Gentechnik, vor allem
freilich, daß "die kulturelle Identität der weißen Rasse
ausgelöscht wird".

Bozic: Diese Form von Ökologismus hat mit der radikalen
Linken aber nichts zu tun, höchstens mit der alternativ-grünen
Aussteigerbewegung.

Elsässer: Bei den von Diesner genannten Castor-Aktionen
waren Autonome und Ökolinke dick dabei.

Fahs: Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich, aber sei's
drum: Müssen die Linken zukünftig trotzig Regenschauer
erkennen, sobald ein Fascho strahlenden Sonnenschein
vermeldet? Bitte keine Anti-Reflexe. Nur weil die Rechten
jetzt gegen die Castor-Transporte sind, heißt das noch lange
nicht, daß die Linken dafür sein müßten.

Vogel: Das esoterische Naturbild der Ökobewegung findet
sich bei Rechten und Linken gleichermaßen: Die Natur wird
immer noch häufig per se zum positiv besetzten Wert, der
Technik steht man prinzipiell negativ gegenüber. Ein
anti-modernistisches Weltbild, das die Entwicklungen der
Produktivkräfte nicht mehr auf ihren Nutzen untersucht,
sondern pauschal beargwöhnt - das hat die Linke in der
Ökobewegung toleriert oder selbst propagiert, obwohl es der
Perspektive eines Lebens jenseits des Zwanges zur Arbeit
widerspricht.

Elsässer: Noch einmal zu den psychsozialen Paralellen der
linken und rechten Kämpfer. Norbert Elias macht in seinen
»Studien über die Deutschen« darauf aufmerksam, daß die
Habitusentwicklung der Deutschen nicht mit der in
zivilisierten Nationen Schritt hielt. In den westlichen
Nationen bildeten sich im Zuge der Entstehung der
bürgerlichen Gesellschaft Formen einer unblutigen
Streitkultur heraus, während man sich in Deutschland bis zum
Ende des letzten Jahrhunderts schlug. Das Idealbild in
England ist der Gentleman, das heißt: der sanfte Mann. In
Deutschland hatte der Burschenschaftler mit dem Schmiß ein
vergleichbares Renommée.

Müßten Linke aus dieser Rückständigkeit Deutschlands nicht
die Konsequenz ziehen, Militanz nur sehr vorsichtig
einzusetzen, um die Unzivilisiertheit nicht auch noch zu
befördern? Anders gesagt: Wenn Scheiben klirren, habe ich
immer ein ungutes Gefühl - es erinnert mich an die
Reichskristallnacht.

Bozic: Oje! Bei der Revolution möchte ich bitte nicht mit dir
an derselben Barrikade eingeteilt werden. Also, ich sehe das
anders: Die Linke in der BRD geht beim Einsatz von Gewalt
sehr behutsam vor. Spätestens nach der Ermordung des
US-Soldaten Pimenthal durch die RAF Mitte der achtziger
Jahre gab es eine breite und selbstkritische Diskussion.

Vogel: Die Rückständigkeit zeigt sich doch genau andersrum:
In Frankreich etwa werden die Leute bei Kämpfen sehr viel
schneller und selbstverständlicher militant als hierzulande.
Die Zurückhaltung, das Betont-Gewaltfreie erscheint mir eher
als ein deutsches Spezifikum.

Elsässer: Die Frage ist, ob das Dogmatisch-Gewaltfreie und
das Autoritär-Militärische in Deutschland nicht
zusammenhängen, so daß sich periodisch der masochistische
Untertan in den sadistischen Krieger verwandelt. In
zivilisierten Gesellschaften hingegen ist die Unterordnung
unter den Staat lockerer, und ebenso ist die Militanz weniger
diszipliniert. Man sieht es schon am Namen: In Deutschland
nannte man sich großkotzig Rote ARMEE Fraktion, darunter
machte man's nicht, in Italien nannte man sich bescheidener
Rote Brigaden. Und außer den Brigaden gab es noch ein paar
tausend Arbeiter, die sich militant und zum Teil bewaffnet
gegen ihre Bosse zur Wehr setzten. Das nenne ich
Zivilcourage auf proletarische Art.

Bozic: Die italienische Linke in allen Ehren - aber der jetzt
von dir skizzierte Widerspruch Malocher contra Bosse, der
relativ einfach per Knieschuß zu lösen ist - das ist genau das
dualistische Weltbild, das auch Leute wie Diesner im Kopf
haben. Von diesen Vereinfachungen - Mensch oder Schwein,
Gut oder Böse - müssen wir wegkommen.

Elsässer: Pardon, einige Dinge sind sehr einfach, und Marx
hat sie auch schön zugespitzt: Hauptwiderspruch ist Arbeiter
contra Kapitalist. Diese richtige Vereinfachung ist leider post
Marx verdreht worden, plötzlich hieß es Partei contra Staat
beziehungsweise Nation contra Imperialismus. Aber die Wut
der Arbeiter ist emanzipatorischÖ

Fahs: ... solange sie nicht nur die Personifizierungen ihres
Elends angreifen, sondern auch die dahinterstehenden
Verhältnisse zum Tanzen bringen.Das schafft linker
Antikapitalismus leider nur selten, der Antikapitalismus von
rechts schafft es nie. Genausowenig wie sich der
Antikapitalismus der Faschos gegen deutsche Unternehmer -
das sind nämlich Volksgenossen - richtet. Statt dessen aber
um so mehr gegen das internationale Finanzkapital - und von
da zum internationalen Finanzjudentum ist es nicht weit.

Bozic: Dein Hauptwiderspruch ist doch sonst die Nation. Und
jetzt machst du wieder den Marxisten und verteidigst den
deutschen Arbeiter als revolutionäres Subjekt?

Elsässer: Weil der Staatsbürger oder Nationalbürger die
versteinerte Form des sozialen Subjekts ist. Die muß als
erstes gesprengt oder wenigstens mürbe gemacht werden,
deswegen antinational. Aber wenn, wie in Italien,
proletarische Subjektivität noch nicht völlig versteinert ist
und sich regt, ist das doch klasse.

Bozic: Die post-fordistischen Arbeitsverhältnisse lassen eine
genaue Bestimmung von Ausbeuter und Ausgebeutetem immer
weniger zu. In vielen selbstverwalteten Kleinbetrieben - wie
etwa bei der Jungle World - beuten sich die Unternehmer
selber aus. Man muß doch mal einsehen, daß sich da seit
Marx etwas verändert hat.

Elsässer: Die italienischen Arbeiter wehrten sich gegen die
Vorarbeiter und Meister, die sie hetzten und antrieben, und
gegen die Chefs, die sie auf die Straße setzten.

Vogel: Vielleicht muß man zwei Stoßrichtungen des
proletarischen Protests unterscheiden: Der eine richtet sich
gegen Schinderei und Plackerei, letztlich gegen die Arbeit
überhaupt - wie beispielsweise im Operaismo der siebziger
Jahren in Italien vertreten. Der andere fordert »Arbeit her!«,
fußt auf dem protestantischen Arbeitsethos und einem
entsprechenden patriarchalen Männerbild, wie es im Held der
Arbeit zum Ausdruck kam. Und findet man das einigende
Band zwischen Deutscher Arbeitsfront und DGB Ö

Bozic: ... sowie zwischen Diesner und der traditionellen
Linke. Die undogmatische Linke, die Spontis und Autonomen,
haben das protestantische Arbeitsethos nie verteidigt, sondern
immer dem »dolce far niente« gefrönt.

Elsässer: Oder dem gesunden Landleben in Gorleben.

Bozic: Man kann es drehen und wenden wie man will: Die
einfachen Weltbilder sind falsch. Es gibt nicht »Wir« und
»Die«. Die Linken, also wir - wir sind Teil des Problems.



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