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Verhaltensauffälligkeiten in der
frühen Kindheit - Prävention
und Behandlung
von Ulrike Lehmkuhl
Die überragende Bedeutung der Mutter für die Entwicklung des
Kindes während der ersten Lebensjahre ist elementarer
Bestandteil tiefenpsychologischer,
entwicklungs-psychologischer und pädagogischer Theorien.
Lichtenberg (1983, 1991) interessiert sich für die "zentrale
Entfaltungsbewegung der frühen Kindheit" und versucht so eine
Annäherung an die Befunde der sogenannten
»Säuglingsforscher«. Vernachlässigung, Ablehnung und
mangelnde Anreize durch die Mutter sind Begriffe, die mit
Deprivation in engen Zusammenhang gebracht werden. Diese
Vorstellungen fasste Bowlby (1952, 1973) unter dem Begriff
»Bindungstheorie« zusammen. René Spitz (1972) beschrieb
ähnliche Zusammenhänge; Sigmund Freud machte
frühkindliche Traumen für eine gestörte Entwicklung
verantwortlich. Vor wenigen Jahren erst widersprachen Cécile
Ernst und von Luckner (1985) diesen Zusammenhängen und
betonten aufgrund eigener Daten, dass nicht kurzlebige
Traumen, sondern Dauereinwirkungen von gestörten
Familienver-hältnissen, manifeste Beziehungsstörungen der
Eltern oder zwischen Eltern und Kindern entscheidender sind.
Zeitlich näher liegende Umwelteinflüsse sind nach ihrer
Einschätzung wichtiger als weiter zurückliegende. Die hier nur
skizzenhaft vorgetragenen Ansichten stehen sich kontrovers
und polemisch gegenüber. Leider gilt für alle gleicher-maßen:
es fehlen ausreichende empirische Daten.
Die Bedeutung von Langzeitauswirkungen von
Beziehungsverlusten, Trennungserleb-nissen und
Erziehungsmängeln ist bis heute unbestimmt. Bowlby war der
dramatischen Meinung, dass mütterliche Deprivation in der
frühen Kindheit zu permanenten und irreversiblen Schädigungen
führt. Langzeituntersuchungen konnten diese Annahme nicht
bestätigen. Emmy E. Werner begann 1955 auf Kauai eine
ausführliche und eingehende Längsschnittuntersuchung, die bis
heute fortgeführt wird. Die Hauptziele der Untersuchung sind
die Feststellung der Langzeitfolgen prä- und perinataler
Stress-situationen sowie die Auswirkung ungünstiger
Lebensbedingungen in der frühen Kindheit auf die physische,
kognitive und psychologische Entwicklung der Kinder. Werner
und ihre Mitarbeiter beobachteten die 698 im Jahr 1955 auf
dieser Insel geborenen Kinder in ihrer Entwicklung, beginnend
mit der Schwangerschaftsanamnese, im Alter von 1, 2, 10, 18,
31 oder 32 Jahren.
Der Großteil dieser Kinder - 422 - wurde ohne Komplikationen
nach unkomplizierten Schwangerschaften geboren und wuchs
in einer günstigen Umgebung auf. Während dieser
Untersuchung erwachte bei den Forschern das Interesse an
den Kindern mit hohem Risiko, die trotz schwerer Geburten,
ungünstiger häuslicher Umgebung, mit Eltern, die nur geringe
Schulbildung hatten, Alkoholiker oder psychisch krank waren,
zu gesunden Persönlichkeiten mit stabilen Karrieren in festen
Beziehungen zu anderen Menschen wurden. Bei der
Nachuntersuchung nach zwei Jahren waren 96% der Kinder
noch in Kauai ansässig, nach 10 Jahren noch 90% und nach
18 Jahren noch 88%.
Von den 698 Kindern aus dem Geburtsjahrgang 1955 kam es
bei 69 zu Komplikationen während der Schwangerschaft und
Geburt; 14 Kinder der Gruppe starben bis zum Alter von 2
Jahren; bei 9 von ihnen lagen schwere perinatale
Komplikationen vor.
Jedes sechste Kind (insgesamt 116) hatte infolge eines
Geburtstraumas körperliche oder intellektuelle Behinderungen,
die bis zum zweiten Lebensjahr diagnostiziert wurden und einer
besonderen ärztlichen oder pädagogischen Behandlung
bedurften.
Insgesamt entwickelten 142 Kinder in den ersten zehn
Lebensjahren schwerere Lern- oder Verhaltensprobleme, die
länger als 6 Monate behandelt werden mussten. Bis zum 10.
Lebensjahr benötigten doppelt soviele Kinder eine
psychologische oder besondere pädagogische Betreuung,
insbesondere wegen Leseproblemen, wie eine ärztliche
Behandlung. Im 18. Lebensjahr waren 15% der Jugendlichen
straffällig geworden, 10% hatten psychische Probleme und
waren in psychiatrischer Behandlung.
Bedeutung der Familie für die Kompetenz von
Risikokindern
Bei den Nachuntersuchungen von der Geburt bis zum 18.
Lebensjahr bemerkte Werner zwei Trends: die Wirkung des
Geburtstraumas verringerte sich mit der Zeit, und die
Entwicklung aller biologischen Risikofaktoren hing von der Art
der häuslichen Umgebung ab. Je besser die häusliche und
familiäre Umgebung war, desto größere Kompetenz zeigten die
Kinder. Man konnte dies schon bei den zweijährigen
Kleinkindern sehen. Kinder, die ein schweres Geburtstrauma
erlitten hatten, aber in Mittelklassehaushalten oder stabilen
Familienverhältnissen lebten, zeigten bei Entwicklungstests im
sensomotorischen oder sprachlichen Bereich fast gleich gute
Ergebnisse wie Kinder, die kein Geburtstrauma erlitten hatten.
Pränatale und perinatale Komplikationen standen nur dann in
Beziehung zu Störungen der körperlichen oder
psychologischen Entwicklung im Alter von 10 bis 18 Jahren,
wenn sie in Kombination mit chronischer Armut, gestörten
Familienverhältnissen oder Geisteskrankheit eines Elternteils
auftraten.
»Hohe« Risikofaktoren
Werner und Mitarbeiter fanden, dass 30%, d.h. 201 der
überlebenden Kinder des Jahrgangs 1955, zu der Gruppe mit
hohem Risiko zählten. Sie erlitten mittlere bis schwere
perinatale Traumen, wuchsen in chronischer Armut auf, wurden
von Eltern mit nur schlechter Schulbildung aufgezogen und
lebten in einer durch Trennung, Scheidung, elterlichen
Alkoholismus oder Geisteskrankheit belasteten familiären
Umgebung. Sie bezeichneten diese Kinder als »verletzlich«,
wenn vier oder mehr derartiger Risikofaktoren vor dem zweiten
Geburtstag dieser Kinder vorlagen. Tatsächlich entwickelten
zweidrittel dieser Kinder (d.h. 129) schwerere Lern- oder
Verhaltensprobleme bis zum Alter von 10 Jahren oder waren
bis zu ihrem 18. Lebensjahr straffällig geworden, hatten
psychische Probleme oder frühe Schwangerschaften.
Stabile Kinder
Aber eines von drei Kindern - 72 im Ganzen - entwickelten sich
zu normalen jungen Erwachsenen: sie waren in der Schule
erfolgreich, führten ein normales soziales Leben und wussten
über ihre Ziele und Erwartungen nach Abschluss der
weiterführenden Schule Bescheid. Am Ende ihrer zweiten
Lebensdekade waren sie kompetente, vertrauenswürdige und
fürsorgliche Menschen geworden, die jede Gelegenheit
ergriffen, um ihr Leben günstig zu gestalten.
Fallvignetten:
Für Michael waren die Aussichten anfangs nicht gut: Seine
Eltern waren Jugendliche, er wurde zu früh mit einem Gewicht
von etwas über 2000 g* geboren, lag die ersten vier Wochen
seines Lebens in einer Klinik von seiner Mutter getrennt. Kurz
nach seiner Geburt wurde sein Vater nach Südostasien
versetzt und blieb dort zwei Jahre. Im Alter von acht Jahren
hatte Michael drei Geschwister, und seine Eltern waren
geschieden. Seine Mutter hatte die Familie verlassen. Sein
Vater zog Michael und seine drei Geschwister mit Hilfe der
Großeltern auf.
Mary wurde von einer übergewichtigen Mutter nach einer
Geburtsdauer von über 20 Stunden geboren. Die Mutter hatte
bereits mehrere Fehlgeburten hinter sich. Ihr Vater war ein
ungelernter Landarbeiter und hatte nur vier Jahre selber eine
Schule besucht. Zwischen Marys fünftem und zehntem
Geburtstag wurde ihre Mutter mehrmals wegen
Geisteskrankheit stationär behandelt, nachdem sie Mary
körperlich und emotional misshandelt hatte.
Zur allgemeinen Überraschung waren Mary und Michael im
Alter von 18 Jahren Erwachsene mit großer Selbstachtung und
gesunden Wertvorstellungen geworden, die sich um andere
kümmerten und von ihren Gleichaltrigen geschätzt wurden. Sie
waren in der Schule erfolgreich und sahen mit Vertrauen in die
Zukunft.
Schutzfaktoren:
Werner und Mitarbeiter erkannten eine Anzahl von
Schutzfaktoren in den Familien, in der Umwelt und in den
Kindern selbst. Einige dieser Widerstandskräfte scheinen
konstitutionell bedingt zu sein: widerstandsfähige Kinder
scheinen Temperaments-charakteristika zu haben, die positive
Reaktionen sowohl bei den Eltern als auch bei Fremden
auslösen. Sie haben diese Eigenschaften auch noch als
Erwachsene. Sie sind ziemlich aktiv, erregen sich nur selten
bei Belastungen und sind weltoffen. Ihre Eltern beschrieben sie
schon als Säuglinge als aktiver, freundlich, leicht zu haben und
gutmütig.
Die Kinderärzte und Psychologen, die diese
widerstandsfähigen Kinder im Alter von zwei Jahren
untersuchten, bemerkten ihre Reaktionsfähigkeit, ihre Freude
am Spiel, ihre Neigung, neue Erfahrungen zu sammeln und,
wenn nötig, andere um Hilfe zu bitten. In der Grundschule
beobachteten die Lehrer ihre gute Konzentrationsfähigkeit, ihre
Problemlösefähigkeit und ihr gutes Lesevermögen.
Aber es fanden sich auch Umweltfaktoren, die diesen Kindern
helfen, Belastungen auszuhalten. Diese Kinder kamen aus
Familien mit vier oder weniger Geschwistern mit einem
Altersabstand von zwei und mehr Jahren zu den anderen. Trotz
Armut, gestörten Familienverhältnissen oder
Geisteskrankheiten eines Elternteils konnten sie mit dem
anderen Elternteil eine enge positive emotionale Bindung in den
ersten Lebensjahren eingehen. Die Erziehung kann auch durch
Ersatzeltern innerhalb der Familie (Großeltern, Geschwister,
Tanten und Onkel) oder durch normale Babysitter erfolgen.
Wenn diese widerstandsfähigen Kinder älter wurden, schienen
sie besonders fähig zu sein, derartige Ersatzeltern zu finden,
wenn ein leiblicher Teil nicht vorhanden oder nicht fähig war.
Aber auch wenn Mütter ganztags arbeiten und jüngere
Geschwister versorgt werden mussten, schienen bei diesen
Kindern die Autonomie und das Verantwortungsbewusstsein
erhöht zu sein.
Widerstandsfähige Kinder scheinen auch außerhalb der Familie
emotionale Unter-stützung zu finden. Sie werden meist von
ihren Klassenkameraden geschätzt, haben in der Regel einen
oder mehrere enge Freunde, verlassen sich in Krisenzeiten auf
Gleichaltrige und bitten Nachbarn um Rat und Hilfe.
Beim Interview mit 18 Jahren berichteten diese Jugendlichen
meist über einen Lieblingslehrer, der ihnen Vorbild, Freund und
Vertrauter bei Belastungen geworden war. Andere fanden
Vorbilder und Unterstützung in kirchlichen oder weltlichen
Jugendgruppen.
Gute Prognose
1985 konnten Werner und Mitarbeiter noch 545 Personen des
Geburtsjahrganges 1955 von Kauai auffinden (Ausgang 698
Kinder), darunter waren 62 der im Alter von 18 Jahren als
»widerstandsfähig« bezeichneten Jugendlichen. Sie hatten ihre
Schulausbildung auf dem Höhepunkt der Energiekrise beendet
und fingen ihr Arbeitsleben zur Zeit der schlimmsten Rezession
in den Vereinigten Staaten an. Die dreißigjährigen Männer und
Frauen schienen ihr Leben aber trotzdem gut zu meistern. Drei
von vier von ihnen hatten eine weiterführende Schule besucht,
und sie waren mit ihrer Beschäftigung zufrieden.
Im Vergleich zu ihren Gleichaltrigen mit niedrigem Risiko waren
sie mit ihren Lebensumständen eher glücklicher. Sie klagten
jedoch über mehr Gesundheitsprobleme: bei den Männern
fanden sich vermehrt Rückenschmerzen, Schwindel- und
Ohnmachts-anfälle, Gewichtszunahme und Magengeschwüre;
bei den Frauen Probleme im Zusammenhang mit
Schwangerschaften und Geburten. Viele der Kinder mit hohem
Risiko, die in ihrer Adoleszenz Probleme hatten, zeigten in
ihrer dritten Lebensdekade einen wesentlichen Aufschwung.
Fast allen Teenager-Müttern ging es mit 30 Jahren besser als
beim Interview mit 18 Jahren.
Die Befunde von Werner und Mitarbeiter scheinen auf eine
günstigere Perspektive hinzuweisen, als sie sonst in der
Literatur über Problemkinder aufgezeigt wird. Risikofaktoren
und ungünstige Umweltbedingungen führen nicht
unausweichlich zu einer schlechten Adaptation. So besteht in
jedem Entwicklungsstadium von der Geburt bis zu
Erwachsenenalter ein wechselndes Gleichgewicht zwischen
Belastungen, die die Verletzlichkeit erhöhen und
Schutzfaktoren, die die Widerstandsfähigkeit vergrößern.
Sind jedoch die Belastungen größer als die Schutzfaktoren, so
kann auch das widerstandsfähigste Kind Probleme haben. Es
gibt große individuelle Unterschiede bei den Kindern mit hohem
Risiko auf negative oder positive Einflüsse aus ihrer Umgebung.
Frühinterventionsprogramme
sollten sich auf Säuglinge und Kinder konzentrieren, die am
verletzbarsten erscheinen, weil ihnen - immer oder nur temporär
- einige der wichtigen sozialen Bedingungen zu fehlen
scheinen, die Stress mindern. Zu diesen Kindern gehören
Überlebende der Frühgeborenenintensivpflege, Kinder im
Krankenhaus, die für längere Zeit von ihren Familien getrennt
sind, Kinder von süchtigen oder geisteskranken Eltern und
Kinder, deren Mütter ganztags arbeiten müssen sowie Kinder
alleinstehender oder von Teenager-Müttern, die keine Hilfe von
anderen Erwachsenen im Haushalt haben, sowie Kinder von
Einwanderern und Flüchtlingen ohne feste Bindung in einer
Gemeinde oder Gruppe.
Die Forschungsergebnisse bei den widerstandsfähigen Kindern
zeigten, dass andere Bezugspersonen wie Großeltern,
Geschwister, Pflegerinnen oder Lehrer, im Leben eines Kindes
eine wichtige Rolle spielen können, wenn ein Elternteil unfähig
ist oder fehlt. Die widerstandsfähigen Kinder dieser
Untersuchung hatten alle zumindestens eine Person, die sie
ohne Rücksicht auf geistige oder körperliche Behinderungen
absolut akzeptierten.
Verhaltensauffälligkeiten im engeren Sinne gibt es in der frühen
Kindheit kaum, wohl aber Störungen in den
Entwicklungsaufgaben. So hat jedes Kind »sichere«
Entwicklungsaufgaben (Sitzen-, Krabbeln-, Laufen-,
Sprechen-Lernen), bei denen es eigentlich nicht scheitern
kann. Eltern geben sich immense Mühe, diese Fähigkeiten
dem Kind beizubringen: das Entwicklungsergebnis wird
dadurch nur wenig beeinflusst, vielleicht wird das Ziel ein wenig
früher oder später erreicht. Möglicherweise bieten diese ersten
großen Entwicklungsaufgaben des Kindes den Eltern
Gelegenheit, ihr elterlichen Lehrprogramm zu üben und an ihr
individuelles Kind anzupassen, ohne dass damit diese ersten
Entwicklungsaufgaben selbst gefährdet wären. Das Kind lernt
seinerseits seine Eltern als Lehrer kennen und lernt zugleich,
wie weit es bei späteren, gefährdeteren Aufgaben auf ihre
Unterstützung und behutsame Lenkung rechnen kann. Es wäre
also zu überprüfen, ob nicht das elterliche Verhalten während
dieser Entwicklungsaufgabe für die weitere Entwicklung des
Kindes von größerer prognostischer Bedeutung ist als der
interindividuelle variierende Zeitpunkt der sicheren Meisterung
dieser Entwicklungsaufgaben bei Kindern.
Kopp & McCall (1984) entwickelten folgendes Modell: der
Säugling ist in seinem Entwicklungsgrad nur sehr wenig durch
stärkere positive oder negative Entwicklungs-einflüsse
abzubringen. Erst ab dem zweiten Lebensjahr können
differentielle Entwicklungen über längere Zeitstrecken
beobachtet werden. Die Entwicklungsexperten der frühen
Kindheit werden nach dieser Hypothese, da sie so wichtig für
das Überleben sind, biologisch und psychologisch in hohem
Maße abgesichert; gerade deshalb erlauben sie wenig
differentielle Prognose auf die späteren Jahre. Diese
Absicherung ist bei biologisch beeinträchtigten Kindern
geringer als bei gesunden Säuglingen nach Meinung von Kopp
& McCall: diese sind zu einem früheren Zeitpunkt
empfänglicher für Umwelteinflüsse und werden insbesondere
durch widrige Einflüsse früh und langan-haltend aus ihrer
Entwicklungsbahn gebracht. Die deutlich größere Streubreite in
den Entwicklungsniveaus der geistigen, motorischen und
sprachlichen Entwicklung bei Kleinkindern mit Down-Syndrom,
einem eindeutig zu diagnostizierenden Chromosomen-fehler, im
Vergleich zu gleichaltrigen »normalen« Kindern und Kindern mit
mittlerem Leistungsiveau sprechen für dieses Modell (Rauh &
Berry 1989).
Soviel wir heute wissen, beginnt die Ausbildung einer
individuellen Bindung mit der Geburt. Von Seiten der Mutter
und des Neugeborenen besteht eine phylogenetische
Vorprogrammierung, diese Bindung einzugehen. Die enge
Bindung an eine Bezugsperson ist die sichere Basis, von der
aus Neugierverhalten, Spiel und Lernen möglich ist. Die
Lockerung dieser Bindung im Alter von zwei bis drei Jahren
stellt an beide Partner hohe Anforderungen, sie scheint leichter
zu gelingen, wenn vorher eine enge und sichere Bindung
entstanden war.
Werden Kind und Mutter in dieser Phase getrennt, kommt es
zu Stimulationsmangel und Mangel an Dauerbeziehungen, mit
anderen Worten: Frühdeprivation. Es ist denkbar, dass
verschiedene psychische Funktionen durch Deprivation in
unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlicher
Reversibilität beeinflusst werden (Ainsworth 1972; Rutter 1972).
Dazu gehören:
- vererbte psychische Reaktionsbereitschaften und
Verletzbarkeiten,
- das Geschlecht des Kindes,
- die Milieubedingungen vor der Deprivation,
- das Alter bei der Trennung von der Mutter,
- die Dauer der Deprivation und
- die Bedingungen nach Beendigung der Deprivation.
Kagan (1984) geht davon aus, dass Entwicklung nicht ein
stetiger, bruchloser Prozess ist, sondern dass Entwicklung die
Möglichkeit der Diskontinuität bietet, bei der einige ältere
Merkmale völlig verschwinden und neue hervortreten können.
Mit anderen Worten: Welche Eigenschaften von Kleinkindern
und Kindern bleiben erhalten und wie lange? Kagan vertritt die
Ansicht, dass es einige strukurell durchgängige Elemente in
der Entwicklung des Menschen geben muss, dass aber auch
Veränderungen möglich sind: einige seien genetisch
vorprogrammiert, wie zum Beispiel die Hirnreifung, mit der sich
fast zwangsweise ableitenden Funktionsveränderung, wie zum
Beispiel im motorischen Bereich. Darüber hinaus gebe es
normative Forderungen der Kultur, historische Ereignisse und
schließlich unerwartete und unvorhersehbare Ereignisse wie
Scheidung und Verlust durch Tod.
Von Dobbing (1968) stammt das Konzept der vulnerablen
Periode, das die Verletzbarkeit von Entwickungsprozessen in
Beziehung zur Reifungsgeschwindigkeit bringt. Bei stark
beschleunigtem Entwicklungstempo besteht eine besonders
hohe Störanfälligkeit der jeweils betroffenen cerebralen
Strukturen. Kritische Perioden der Entwicklung betreffen
sowohl die Fähigkeit der Herstellung sozialer Beziehungen
(zum Beispiel Spitz 1949, Bowlby 1952, Kagan et al. 1978) als
auch höherer kortikaler Funktionen wie zum Beispiel den
Spracherwerb (Woods & Carey 1979).
Da bestimmte cerebrale Differenzierungsschritte an
unterschiedliche Entwicklungs-perioden gebunden sind, können
gestörte interne und externe Umweltbedingungen während
dieser Zeitpunkte zu Rückständen führen, die später nicht oder
nur zum Teil wieder ausgeglichen werden können, so dass es
zu dauerhaften Defekten in bestimmten funktionellen Systemen
oder im gesamten Cortex kommen kann.
Es besteht eine enge Beziehung zwischen Entwicklung und
Kontinuität: Der einzige Forschungsansatz, der das Problem
der Kontinuität entwicklungstheoretisch behandelt, ist die
Bindungsforschung. Verschiedene Bindungsqualitäten sind die
Grundlage für die Verhaltensvorhersage. Die einmal erworbene
Bindungsqualität bestimmt die Qualität späterer Beziehungen
(Bowlby 1969, Ainsworth 1982). Es ist in verschiedenen
Unter-suchungen nachgewiesen worden, dass eine sichere
Bindung zur Mutter im ersten Lebensjahr prädiktiv ist für die
Qualität späterer Beziehungen zu Gleichaltrigen sowie
insgesamt für die gesamte soziale Orientierung (Sroufe 1983;
Main, Kaplan & Chassidy 1985).
Der frühen Eltern-Kind-Beziehung wird eine protektive Funktion
zugeschrieben. Es ist zu erwarten, dass Vorhersagen über das
Auftreten von Entwicklungsproblemen bei Störungen gemacht
werden können (z.B. Keller & Gauda 1987).
Aber es gilt auch zu beachten, dass wir aufgrund von
Zwillingsuntersuchungen wissen, dass die meisten nicht
organischen psychischen Störungen und Krankheiten und die
meisten Persönlichkeitseigenschaften eine Heredität von etwa
50% aufweisen und somit etwa 50% ihrer Varianz auf
Umweltvarianz zurückgeht. Umweltfaktoren, die sich als
Unterschiede zwischen Familien definieren lassen und alle
Kinder einer Familie betreffen, spielen offensichtlich eine relativ
geringe Rolle: getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge
entwickeln sich hinsichtlich ihrer Persönlichkeitseigenschaften
und psychischer Krankheitsauffälligkeit zu ebensolcher
Ähnlichkeit wie gemeinsam aufgewachsene. Genetisch nicht
verwandte Adoptivgeschwister, die von denselben Eltern
erzogen wurden, sind einander als Erwachsene in ihrer
Persönlichkeit kaum ähnlicher als zufällig ausgewählte
Personen (Plomin 1986). Die Umweltfaktoren, welche
Persönlichkeit und Krankheitsdisposition am stärksten
beeinflussen, sind offenbar individuell: d.h. jedes Kind einer
Familie schafft sich aktiv aufgrund seiner angeborenen
Dispositionen innerhalb dieser Familie eigene Nischen.
Aufgrund von Adoptionsstudien nimmt die Verhaltensgenetik
an, dass im Laufe der Entwicklung hereditäre Tendenzen
Erworbenes zunehmend übertönen. Der Nachweis der Wirkung
intrafamiliärer Unterschiede steht aus.
Unter dem Einfluss der Verhaltensgenetik wird sich mit
Sicherheit unser Bild von der Kindheit verändern und vermutlich
besser mit den Resultaten großer Longitudinal-studien
übereinstimmen.
Prof. Ulrike Lehmkuhl ist Direktorin der Abteilung für
Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes-
und Jugendalters im Klinikum Virchow in Berlin
Literatur:
Ainsworth, M.D.S. (1972). Attachment and dependency: A
comparison. In: Gerwitz, J.L. (Ed.), Attachment and
dependency. Winston, Washington, 97-137.
Ainsworth, M.D.S. (1982). Attachment: Retrospect and
prospect. In: Parkes, C.M., Stevenson-Hinde, J. (Ed.), The
place of attachment in human behavior. Basic Books, New
York.
Bowlby, J. (1952). Maternal care and mental health. Geneva,
WHO. Monograph Series Nr. 2.
Bowlby, J. (1953). Critical phases in the development of social
responses in man. Penguin Books, London.
Bowlby, J. (1969/1982). Attachment and loss. Vol. 1:
Attachment. Basic Books, New York.
Bowlby, J. (1973). Attachment and loss. Vol. 2: Separation.
Basic Books, New York.
Bowlby, J. (1973). Mütterliche Gesundheit und geistige
Gesundheit. Kindler, München.
Dobbing, J. (1968). Vulnerable periods in developing brain. In:
Davison, A.N., Dobbing, J. (Eds.): Applied Neurochemistry.
Blackwell, Oxford.
Ernst, C., von Luckner, N. (1985). Stellt die Frühkindheit die
Weichen? Enke, Stuttgart.
Kagan, J. (1984). The nature of the child. Basic Books, New
York.
Kagan, J., Kearlsley, R.B., Zelazo, P.R.(1978). Infancy: Its
place in human development. H
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