HansMagnusEnzensberger:
»Von der Arbeit im Weinberg der Literatur. Kleine Rede auf eine diskrete Eminenz: Karl Markus Michel und die Haarnadelkurven des Zeitgeistes.«
Laudatio auf Karl Markus Michel aus Anlaß der Verleihung des Heinrich-Mann-Preises der Berliner Akademie der Künste am 29. März 1998.
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"Eine der sonderbarsten Zeremonien ist die Preisverleihung. Wenige andere Auftritte kommen ihr gleich. Auf Anhieb fallen mir ein: die Siegerehrung bei der Fußballmeisterschaft, die Fronleichnamsprozession und das Staatsbegräbnis. Manche Leute werden bei solchen öffentlichen Ritualen leicht nervös. Wahrscheinlich hat das mit der Überdosis an symbolischen Inszenierungen zu tun, die sich die Deutschen in diesem Jahrhundert verschrieben haben. Glückliches Frankreich, dessen schreibende Zunft, ohne zu erröten, dem grün- und goldbestickten Frack der Académie entgegenfiebert! Wir dagegen zucken schon beim unschuldigsten Anlaß zusammen.
Im gegenwärtigen Fall ist es vor allem die Rolle des Laudators, die seltsam anmutet. Seine Aufgabe ist es, dem Preisträger, der wehrlos im Saale sitzt, zu erklären, wer er ist, was er vollbracht hat und wofür ihm der Dank des Vaterlandes gebührt. Damit wird er seinem wichtigsten Zuhörer nichts Neues sagen. Der nämlich weiß es allemal besser. Offen bleibt, wem bei diesem Spiel die peinlichere Rolle zufällt: dem, der redet, oder dem, der zuhört.
Glücklicherweise hat die Jury einen Preisträger erkoren, der, was die Peinlichkeit angeht, als Experte gelten muß. Ich habe den Vorzug, Karl Markus Michel seit mehr als fünfunddreißig Jahren zu kennen. In all diesen Jahren ist mir niemand begegnet, der eine feinere Empfindlichkeit für jenes komplizierte und durchdringende Gefühl besäße – und, was noch weit mehr besagt: Niemand hat es wie er verstanden, die Peinlichkeit als Wünschelrute zu benutzen. Als Indikator für das Falsche ist sie dem Brecheisen der Ideologiekritik weit überlegen. Wo immer sie sich einstellt, liegt ein Hund begraben. Wer ihr nachspürt, kann unsere Sitten und Gebräuche, die öffentlichen wie die intimen, bis in ihre verborgensten Falten hinein erforschen.
Der Kapitalismus, eine Geschmacksfrage
In seinem ziemlich weitverzweigten essayistischen Werk hat Carlos, wie ihn die Eingeweihten nennen, nicht zuletzt mit dieser Sonde erstaunliche Entdeckungen gemacht. Freilich fürchten viele seiner Freunde, daß es ihm gar nicht recht ist, diese Arbeiten ans grelle Licht des Lobes gezerrt zu sehen; denn zu seinem Habitus als Schriftsteller gehört das Understatement. Die Zurückhaltung, die er an den Tag legt, grenzt an Selbstverleugnung. Fast kann man den Eindruck gewinnen, daß er nur widerwillig publiziert. Wir haben es mit einem Autor zu tun, der sich, ganz im Gegensatz zu den vorherrschenden Usancen, nicht vor-, sondern zurückdrängt. Am liebsten wäre es ihm wohl, wenn er eine Tarnkappe besäße. Darin sehe ich mehr als eine persönliche Idiosykrasie, nämlich eine gründliche Einsicht in jene Industrie, die sich mit der Verbreitung von Texten beschäftigt und deren unhygienische Züge keinem verborgen bleiben können, der mit ihr in Berührung kommt. Und das betrifft nicht nur die literarische, sondern auch die akademische Sphäre.
Kein Motto könnte diesem Preisträger mehr zuwider sein als publish or perish. Das mag einer der Gründe dafür sein, daß er die glänzende Universitätskarriere, die ihm seine Lehrer prophezeiten, sanft, aber entschieden in den Wind geschlagen hat. In der Tat kann man sich Karl Markus Michel als Beamten schwerlich vorstellen. Auch am Angestelltendasein hat er keinen Geschmack gefunden. Damit gehört er zu den letzten Mohikanern, die der Betreuung durch den Sozialstaat entronnen sind. Die eigene Sicherheit war ihm nie viel wert. Beinahe trotzig beharrt er darauf, daß die prekäre Existenz zur Geschäftsgrundlage des Intellektuellen gehört. Darin drückt sich eine stillschweigende, aber tiefverwurzelte Ablehnung nicht nur des herrschenden Betriebs, sondern auch seiner Rahmenbedingungen aus. Ideologisch gefestigte Ansichten hat er sich stets vom Leib gehalten. Wenn er mit dem Kapitalismus nichts anfangen kann, so sehe ich darin eher einer Geschmacksfrage. Der Verwertungszusammenhang schmeckt ihm einfach nicht. Daß diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruht, kann nicht verwundern.
Eine Folge seiner Haltung ist, daß Michel es vorzieht, statt anderer eher sich selber auszubeuten. Insofern ist er tatsächlich eine anachronistische Figur. Das zeigt sich am deutlichsten an seiner Arbeit als Lektor, Herausgeber und Redakteur. Sicherlich, auch heute noch finden sich Stellenanzeigen, in denen von solchen Tätigkeiten die Rede ist; doch dabei handelt es sich gewöhnlich um Etikettenschwindel. Von einem Redakteur bei RTL oder bei einem Wochenmagazin wird niemand erwarten, daß er der deutschen Sprache mächtig ist, und das Lektorat ist in den meisten Verlagen längst zu einer unmaßgeblichen Außenstelle der Vertriebsabteilung geschrumpft. Es handelt sich also um Berufe, die, jedenfalls in ihrer tradierten Form, im Aussterben begriffen sind.
Von der Treue und der Unbestechlichkeit, mit der Karl Markus Michel jahrzehntelang Texte aus dem Deutschen ins Deutsche übersetzt hat, werden künftige Generationen von Schreibenden nur noch träumen können. Es müssen Zehntausende von falschen Konjunktiven sein, die er im Lauf der Zeit fast nebenbei, sozusagen im Handumdrehen, korrigiert hat. Ohne ein Zeichen der Ermüdung oder des Überdrusses hat er Hunderten von Autoren, denen diese Unterschiede Hekuba waren, gezeigt, wozu es neben dem Imperfekt das Perfekt und neben dem Perfekt das Plusquamperfekt gibt.
Diese Arbeit im Weinberg der Literatur spielt sich im verborgenen ab. Unwissende mögen sie für eine Art von Sklaverei halten. Richtiger ist es, sie mit den edlen Anstrengungen des Don Quichote zu vergleichen. Einen Mann wie Michel kann eine solche Charakteristik nicht entmutigen. Wie alle Demut, so hat nämlich auch die seinige ihre Kehrseite. Denn sowenig ihm an der Macht liegt, so unermeßlich ist der Einfluß, den er jahrzehntelang ausgeübt hat. Die seinerzeit vielbeschriebene Suhrkamp-Kultur – wer hat sie eigentlich erfunden und zum Programm gemacht? Wer hat ihr zu einer wissenschaftlichen Grundlage verholfen? Gewiß, das war eine Handvoll bedeutender Autoren. Aber die finden sich nicht von selber ein. Sie brauchen den, der sie bemerkt und der sie kennt, einen ersten Leser; und der sitzt, von der Öffentlichkeit unbemerkt, in einem kleinen Hinterzimmer des Verlags, eingemauert in Stapel von Manuskripten, die er Zeile für Zeile durchgeht.
Selbst die Toten kommen nicht ohne Lektor aus, wie das Beispiel Georg Friedrich Hegels zeigt. Dieser hat ein ziemliches Durcheinander von Druckschriften, Manuskripten und Vorlesungsnachschriften hinterlassen und viele akademische Editoren ins Brot gesetzt. Kaum erschwingliche Gesamtausgaben waren die Folge, bis Karl Markus Michel, zusammen mit Eva Moldenhauer, die Werke des Philosophen in zwanzig wohlfeile Bände gebracht hat; nicht ohne diese elftausend Seiten, wiederum Zeile für Zeile, zu überprüfen – eine wahrhaft entsetzliche Arbeit.
Abenteuer ganz anderer Art waren dem Preisträger als Redakteur und Herausgeber des Kursbuchs beschieden. Sie zu schildern, bin ich kaum der Richtige, da ich selber eine Zeitlang in diese Geschichte verwickelt war. Soviel aber kann ich mit gutem Gewissen sagen: Die Hartnäckigkeit, die dazu gehört, ein derartiges Unternehmen über alle Haarnadelkurven des Zeitgeistes hinweg vierunddreißig Jahre lang zu leiten, hätte ich nie und nimmer aufgebracht.
Ein in der Wolle gefärbter Skeptiker
Zum Beweis dafür, daß es nicht unbedingt darauf ankommt, zu gewinnen, erlaube ich mir, eine Episode zu erwähnen, die Karl Markus und mir viel Spaß gemacht hat, obwohl oder sogar weil sie, ökonomisch gesehen, in einem Desaster endete. Ich meine die kurzlebige Zeitschrift TransAtlantik, die ebenso wie das Kursbuch ohne den Spürsinn und die Sorgfalt Michels nie zustande gekommen wäre. Daß das Publikum von seiner Tätigkeit kaum Notiz genommen hat, kann den idealen Redakteur nicht stören; es dürfte ihm eher Genugtuung bereiten. Seine Unentbehrlichkeit, von der er nichts hören will, wird sich daran erweisen, daß er, wie ich fürchte, einen ebenbürtigen Nachfolger kaum finden dürfte.
Auch mit dem Autor Karl Markus Michel hat es eine besondere, um nicht zu sagen absonderliche Bewandtnis. Daß er ein glänzender Essayist ist – man weiß es, und man weiß es nicht. Dafür hat er selbst gesorgt. »Texte«, sagt er, »sollen altern mit dem, wovon sie handeln.« Dieser Maxime folgt er, indem er ephemere Medien bevorzugt: die Tageszeitung, das Wochenblatt, die Zeitschrift. Bücher liebt er, aber seine eigenen behandelt er wegwerfend. Im Verzeichnis lieferbarer Bücher taucht er nur mit einem einzigen Titel auf, und selbst der ist kaum in einer Buchhandlung zu finden, weil der Verfasser dafür gesorgt hat, daß der schmale Band an entlegener Stelle erschienen ist, fast so, als wollte er die Überschrift beim Wort nehmen, die er seiner ersten und vielleicht einflußreichsten Arbeit gab. Sie heißt »Die sprachlose Intelligenz«, eine Schrift, die 1968 ans Licht getreten und seit Jahren unauffindbar ist. Der paradoxe Titel ist bezeichnend. Sein Witz liegt darin, daß Michel mit der Gabe, sich zu artikulieren, im höchsten Maß gesegnet ist. Michels Essays gleichen Zöpfen, die konservative und radikale Momente, verschollene Traditionen und neue Kenntnisse derart kunstvoll miteinander verflechten, daß sie auf grobfädige Gemüter eher verwirrend wirken. Man hört sie grummeln: Worauf will Michel eigentlich hinaus? Ja wenn der Autor diese Frage von vornherein und mit zwei Sätzen beantworten könnte, brauchte er sich gar nicht erst die Mühe zu machen, einen Essay zu schreiben. Er wünscht sich selber zu überraschen. Deshalb sucht er sich mit Vorliebe Themen aus, denen etwas Zweideutiges anhaftet.
Wir haben es mit einem in der Wolle gefärbten Skeptiker zu tun, der sich auffallend stark für religiöse Phänomene interessiert; mit einem Liebhaber neuer Ideen, der zugleich ein Archäologe des Denkens ist; mit einem Aufklärer, der sich in den obskursten Winkeln der Tradition auskennt. Der Holzhammer ist ein Werkzeug, das Karl Markus Michel nicht zur Verfügung steht. Er bevorzugt die Pinzette. Was bei seiner Arbeit zum Vorschein kommt, ist ein Amalgam aus altmodischer Gelehrsamkeit und – sit venia verbo – postmodernem Witz. Mit ironischer Nonchalance verteidigt er die Kunstfälscher, und mit scholastischem Eifer diskutiert er die Zahl und die Hierarchie der Engel. Ob es um Ektoplasmen oder um Terroristen geht, die Methode bleibt dieselbe.
Mit ihr steht er ziemlich allein da. Es macht ihm gar nichts aus, in einem Atemzug von Maos Warze und von Giambattista della Porta zu reden, einem Renaissanceautor, den außer Michel wahrscheinlich kein Lebender je gelesen hat. Mit der gleichen Lässigkeit zitiert er Aischylos und die Bundesarbeitsgemeinschaft Kultur der Grünen. Wenn er sich seine Gedanken über Datenverarbeitung und Datenwahn macht, zieht er, ohne mit der Wimper zu zucken, einen gewissen Quételet zu Rate, einen Astronomen, der im neunzehnten Jahrhundert der Brüsseler Sternwarte vorstand. Wo er den nur her hat? Ein paar Seiten weiter, und wir sind beim Buch Sirach, Kapitel 23, Vers 28 folgende, und beim Präsidenten des BKA. Darin, daß man auf jeden Hakenschlag gefaßt sein muß und daß man oft nicht weiß, woran man mit ihm ist, liegen der Gewinn und das Vergnügen, Karl Markus Michel zu lesen.
Ich glaube, mich an einen Zettel zu erinnern, der einst in seinem Zimmer hing, irgendwo im Labyrinth des Suhrkamp-Lektorats. Es stand darauf geschrieben: »Geduld und Ironie sind unsere stärksten Waffen«, ein Satz, der ausgerechnet Trotzki zugeschrieben wird. Unwahrscheinlich genug, den zum einen war dieser Trotzki ein äußerst ungeduldiger Mensch, der, wenn es darauf ankam, jede Ironie über die Klinge springen ließ; zum anderen kenne ich niemanden, der zum Trotzkisten weniger geeignet wäre als Carlos. Allerdings, ein besseres Motto für sein Tag- und Nachtwerk wüßte ich nicht vorzuschlagen. Nur mit einem solchen Schutzpatron bin ich nicht einverstanden. An Leo Bronsteins Stelle sehe ich einen anderen Beschützer seine Hand über unsere Preisträger halten, einen, der unermüdlich und selbstvergessen wie Karl Markus Michel als diskrete Eminenz an seinem Schreibtisch saß: den heiligen Hieronymus im Gehäus."
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