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solarschule schrieb am 6.3. 2003 um 04:18:32 Uhr über

Schritte

dem er sie für eine spätere Verwendung zu einem Knäuel aufgewickelt hatte - oder aber für eine Sammlung.

Matthias bückte sich, um es aufzuheben. Als er sich wieder aufrichtete, erblickte er einige Schritte weiter rechts ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren, das ihn mit seinen großen, ruhig auf ihn gerichteten Augen ernsthaft musterte. Er lächelte verhalten, aber das Kind gab sich keine Mühe, ihm zu danken, und erst nach mehreren Sekunden sah er den Blick des Kindes zu dem Knäuel gleiten, das er in Brusthöhe in der Hand hielt. Er wurde durch eine genauere Betrachtung nicht enttäuscht - es war ein schöner Fund - nicht zu glänzend, fein und regelmäßig gezwirnt und offenbar sehr solide.
Einen Augenblick meinte er, die Schnur als etwas wiederzuerkennen, das er selbst vor sehr langer Zeit verloren hatte. Eine ganz ähnliche kleine Schnur mußte wohl schon mal einen wichtigen Platz in seinem Kopf eingenommen haben. Befand sie sich mit den anderen in der Schuhschachtel? Die Erinnerung schweifte sogleich in das trübe Licht einer Regenlandschaft, wo keine Kordel eine sichtbare Rolle spielte.
Er brauchte sie nur in die Tasche zu stecken. Aber er deutete die Bewegung lediglich an und betrachtete mit noch halb angewi ' nkeltem Arm unentschlossen weiter seine Hand. Er sah, daß seine Fingernägel zu lang waren, was er schon wußte. Außerdem stellte er fest, daß sie beim Wachsen eine übertrieben spitze Form angenommen hatten; natürlich hatte er nicht die Gewohnheit, sie so zu schneiden.
Das Kind schaute immer noch in seine Richtung. Es war jedoch schwierig, genau anzugeben, ob es ihn beobachtete oder aber etwas anderes hinter ihm oder gar nichts Bestimmtes; seine Augen schienen fast zu weit geöffnet, um einen isolierten Gegenstand wahrnehmen zu können, es sei denn, einen von sehr großen Ausmaßen. Das Kind betrachtete sicher nur das Meer.
Matthias ließ seinen Arm wieder sinken. Plötzlich stoppten die Maschinen. Das Beben hörte auf einmal auf, zugleich mit dem dumpfen Geräusch, das den Dampfer seit seiner Abfahrt be-

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gleitet hatte. Alle Passagiere schwiegen, regungslos am Anfang des schon überfüllten Laufgangs aneinandergedrängt, über den die Ausschiffung erfolgen sollte. Da sie seit mehreren Minuten schon zur Landung bereit waren, hielten die meisten von ihnen ihr Gepäck in der Hand. Alle hatten die Köpfe nach links gedreht und blickten unverwandt nach oben auf die Mole, wo etwa zwanzig Leute ebenfalls still und starr n einer geschlossenen Gruppe beisammenstanden und sich bemühten, ein Gesicht in der Menge auf dem kleinen Dampfer zu erkennen. Auf beiden Seiten der gleiche Ausdruck. gespannt, beinahe angstvoll, sonderbar einförmig und wie versteinert.
Das Schiff setzte seinen Kurs fort, man hörte nur das Rauschen des auseinandergedrängten, am Rumpf entlangströmenden Wassers. Eine graue Möwe, die von hinten mit kaum größerer Geschwindigkeit heranflog, segelte langsam nach Backbord, vor die Mole und schwebte dann ohne die geringste Bewegung in Höhe des Laufstegs mit zur Seite geneigtem Kopf, um mit einem Auge nach unten zu spähen - mit einem runden, ausdruckslosen, unempfindlichen Auge.
F-in Klingelzeichen erschallte. Die Maschinen setzten sich wieder in Gang. Das Schiff steuerte nun einen Bogen, der es behutsam der Anlegestelle näherte. An seiner anderen Bordwand glitt die Küste schnell vorbei - der gedrungene Leuchtturm mit schwarzen und weißen Streifen, die halb verfallene Festung, die Dockschleuse und die Häuserreihe auf dem Kai. »Er ist pünktlich heute«, sagte eine Stimme. Und jemand sagte berichtigend: »BeinaheVielleicht war es dieselbe Person.
Matthias schaute auf seine Uhr. Die Überfahrt hatte genau drei Stunden gedauert. Die Klingel erschallte von neuem; dann noch einmal, ein paar Sekunden später. Eine graue Möwe, die der ersten durchaus glich, flog in derselben Richtung vorbei und folgte ohne ein Zittern der Schwingen ebenso langsam derselben waagerechten Bahn - mit leicht gedrehtem Kopf, seitlich nach unten zeigendem Schnabel und starrem Auge.
Das Schiff schien sich nicht mehr zu bewegen, nach keiner 9



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Tolle englische Texte gibts im englischen Blaster

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