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Beispiel schrieb am 8.11. 2005 um 23:21:22 Uhr über

Plastikblumenfabrik

Zweisamkeit.

Das Zusammenleben mit meinem Mitbewohner ist nicht immer einfach. Zwar sind wir ganz ähnliche Typen, darum hatte ich ja nichts gegen seinen Einzug hier. Allerdings dachte ich, das genau dadurch die Sache hier ganz einfach wird.

Wir haben uns in der Klinik kennengelernt und sofort gewußt, daß wir zusammen besser durchs Leben gehen als jeder für sich allein. Gert ist viel älter als ich. Er kam freiwillig in die Klinik und hat keine Angehörigen mehr, mag darüber nicht viel reden. Obwohl ich dafür in der Klinik sehr anfällig war, hat unsere Freundschaft nichts mit Mitleid zu tun. Im Gegenteil spüre ich in blitzartigen Momenten eine tiefe Verwandschaft zu ihm. Das macht das Leben mit ihm nicht immer unkompliziert. Was aber wirklich schön ist, daß ich auch nach dem betreuten Wohnen in der Klinik jetzt jemanden im Alltag habe, der mich wirklich versteht. Er ist durch viel finsterere Höllen gegangen, als ich. Manchmal ist er auch wie ein Mahnmal für mich, eine bedrückende Vorschau meiner Selbst, hätten die mich nicht da rausgeholt.

Gert hat ein verbranntes Gesicht. In einer schlimmen Zeit hat er vor Wut über seine Welt einen Topf mit heißem Nudelwasser vom Herd geschleudert. Ich glaube ihm, daß das keine Absicht war. Ich war, als wir uns das erste Mal sahen, zugleich abgestoßen und fasziniert von seiner krebsroten Haut und den Verwerfungen auf seiner rechten Gesichtshälfte. Viele in der Klinik hatten Angst vor ihm. Gert wußte das und hat es genossen, als Warnung Vieler herumzulaufen. Er mochte es besonders, Frauen sehr nahe zu treten, das kaputte Gesicht ihnen zugewandt, und dann »Keine Angst« zu flüstern. Das war ein schlechter Witz, schließlich ringen doch praktisch alle dort mit irgendwelchen Angstproblemen. Auch Gert wollte Hilfe.

Über Frauen reden Gert und ich nicht viel. Er hatte mal Familie und sagt oft, ich solle raus gehen, das Leben genießen, selber Familie gründen, Sinn stiften für mich. Als wir das erste Mal in der Klinik geredet haben, Lebensgeschichtenaustausch, hat er irgendwann gesagt »Kinder - ändern allesDas hätte ich früher vielleicht keinem glauben wollen, doch ihm kann ich es glauben. Das ist überhaupt das Schönste an unserer Zweisamkeit. Er ist der einzige ehrliche Mensch in meinem Leben. Vielleicht hat es damit zu tun, schon einfach viel gesehen und getan zu haben und nach einer Zeit alles durch das Seelensieb zu drücken und zu erkennen, daß Aufrichtigkeit das größte Geschenk ist, was man geben oder erfahren kann.

Die Aufrichtigkeit ist leider nicht immer ganz so einfach, von diesen Seiten hier weiß er nichts. Auch habe ich diesen Teil meiner eigenen Geschichte bei unserem Kennenlernen ausgespart, habe nicht gesagt, daß letztlich ein Leser dieser Seiten mich in die Klinik gebracht hat. Habe zwar erzählt, daß ich ab und zu was geschrieben habe. Allerdings habe ich erzählt, daß ich diese Tagebucheinträge absichtlich in Kneipen vergessen hätte. »Immerhin wolltest Du gehört werden«, hat er da gesagt, »hättest den Kram auch gleich im Internet veröffentlichen könnenDamit war das Thema dieser Zeilen für mich erledigt. Allerdings konnte er verstehen, daß es kein blinder Hilferuf war. Er weiß, daß ich jetzt schon tot wäre, hätte ich ihn nicht getroffen.






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