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Der Junge von nebenan schrieb am 20.6. 2010 um 14:51:57 Uhr über

Tagebuch-einer-Eintagsfliege

Zwei der ältesten Exemplare flogen im ziellosen Zickzack über einem Forellenbach und sprachen mit einigen jungen Fliegen aus der Abendbrut.
Heute ist die Sonne nicht mehr so wie damals“, klagte einer der beiden Alten.
Das stimmt. In den guten alten Stunden gab´s eine richtige Sonne. War ganz gelb und nicht so rot wie jetzt.“
Und sie stand höher am Himmel.“
Läßt sich nicht leugnen.“
Und Nymphen und Larven zeigten einem mehr Respekt.“
Und ob, und ob“, bestätigte die andere alte Eintagsfliege.
Wenn sich die jungen Burschen anständig benehmen würden, hätten wir bestimmt eine bessere Sonne.“
Die jungen Eintagsfliegen hörten geduldig zu.
In meiner Jugend erstreckten sich hier überall Felder, soweit das Auge reichte“, ließ sich eine andere alte Eintagsfliege vernehmen.
Die jüngeren blickten sich um.
Die Felder existieren noch immer“, erklang es nach einer höflichen Pause.
Aber früher war sie besser„, betonte die alte Fliege scharf.
Ja“, summte die zweite Alte. „Und ich erinnere mich an eine Kuh.“
Stimmt! Stimmt! Ich erinnere mich ebenfalls an sie. Sie fraß dort drüben Gras, und zwar, äh, vierzig Minuten lang. War braun.“
Solche Kühe gibt es in den jetzigen Stunden nicht mehr.“
Es gibt überhaupt keine mehr.“
Was sind Kühe?“ fragte eine der jungen Eintagsfliegen.
Ich wusste es!“, triumphierte die älteste Fliege. „Die modernen Ephemeriden haben von nichts eine Ahnung.“ Sie zögerte. „Womit haben wir uns vor unserem Gespräch über die Sonne beschäftigt?“
Wir sind ziellos und im Zickzack überm Wasser herumgeflogen“, erwiderte eins der jungen Exemplare. Diese Antwort war praktisch immer richtig.
Und davor?“
Ähdu hast uns von der Großen Forelle erzählt.“
Ja. Ja, genau. Die Forelle. Nun, wenn man eine gute Eintagsfliege gewesen ist und immer auf die richtige Weise im Zickzack überm Bach flog…“
„… und wenn man außerdem immer Respekt vor älteren hatte…“
Ja, und wenn man außerdem immer Respekt vor älteren hatte, dann kommt die Große Forelle und…“
Plitsch.
Platsch.
Ja?“ fragte eine der jungen Eintagsfliegen.
Keine Antwort.
Dann kommt die Große Forelle und was?“ ertönte die nervöse Stimme einer anderen Fliege.
Sie blickten aufs Wasser hinab und sahen mehrere sich ausdehnende konzentrische Kreise.
Das heilige Zeichen!“ entfuhr es einer Eintagsfliege. „Man hat mir davon erzählt! Ein Großer Kreis im Wasser! Es ist das Zeichen der Großen Forelle!“
Die älteste der jungen Eintagsfliegen starrte nachdenklich auf den Bach hinab: Als Senior hatte sie das Recht, besonders dicht an der Wasseroberfläche zu fliegen.
Wenn man von der Großen Forelle geholt wird… „, begann jene Eintagsfliege, die über allen anderen im Zickzack flog. „Es heißt, sie bringt einen in ein Land, wowo…“ Eintagsfliegen können mit Milch und Honig nichts anfangen, und deshalb fügte sie unsicher hinzu: „Wo Wasser fließt.“
Glaubst du?“ fragte die älteste Fliege.
Dort muss es herrlich sein“, sagte die jüngste.
Ach? Warum denn?“
Es kehrt nie jemand zurück.“

Das ist das eine 24-Stunden-Extrem mit den Eintagsfliegen und das andere folgt jetzt:
Auf eine eher vage Weise waren sie sich bewusst, dass die Menschen die Ringe eines Baums zählen, um das Alter festzustellen, und daraus zogen sie den Schluss: Aus diesem Grund werden Bäume gefällt.
Die Zählenden Kiefern nahmen diese Erkenntnis zum Anlass, sofort die eigenen genetischen Code zu verändern, um in Augenhöhe und gut lesbar ihr exaktes Alter anzugeben. Innerhalb eines Jahres waren sie daraufhin fast ganz ausgestorben, was sie einer Hochkonjuktur in der Industrie für schmuckvolle Hausnummern-Schilder verdankten. Nur in äußerst abgelegenen Regionen gab es einige wenige Überlebende.
Die sechs Zählenden Kiefern lauschten der ältesten Kiefer weit und breit: Der knorrige Stamm verkündete ein Alter von einunddreißigtausendsiebenhundertvierunddreißig Jahren. Das Gespräch dauerte siebzehn Jahre und wird hier im Zeitraffer wiedergegeben.
Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als es hier nicht nur Felder gab.“
Die Kiefern blickten über die mehr als anderthalbtausend Kilometer freis Land vor ihnen hinweg. Das Firmament flackerte wie der schlechte Spezialeffekt eines Zeitreisefilms. Schnee erschien, verweilte kurz und schien sich einfach in Luft aufzulösen.
Und was gab es statt dessen?“ fragte die nächste Kiefer.“
Eis. Wenn diese Bezeichnung angemessen ist. Damals hatten wir richtige Gletscher. Nicht so ein Eis wie heute: plötzlich da und schon wieder weg. Es blieb eine Ewigkeit lang.“
Was ist damit passiert?“
Es verschwand.“
Wohin?“
Was weiß ich? Wohin die Dinge eben verschwinden. Alles hat´s so eilig…“
Potzblitz! Der hatte es in sich.“
Was meinst du?“
Den letzten Winter. War ziemlich streng.“
So etwas hältst du für einen strengen Winter? Als ich ein junger Baum warda hatten wir richtige Winter. Aber heute…“
Die Kiefer verschwand.
Nach einer schockierenden Pause, sagte ein anderer Baum der Gruppe: „An einem Tag war er noch da, und am nächsten nicht mehr! Wie ist so etwas möglich?“
Wenn die übrigen Bäume Menschen gewesen wären, hätten sie jetzt mit den Füßen gescharrt.
So was kommt vor, Junge“, erwiderte einer von ihnen behutsam. „Bestimmt ist er jetzt an einem besseren Ort. (Er befand sich sogar drei besseren Orten. Gemeint sind die Tore in der Ulmenstraße 31, 7 und 34, Ankh-Morpok.) Da kannst du sicher sein. Immerhin war er ein guter Baum.“
Der junge Baumer hatte erst fünftausendeinhundertelf Jahre hinter sichfragte: „Was für ein ´besserer Ort´?“
Wir wissen es nicht genau“, entgegnete eine andere Kiefer. Sie zitterte unsicher in einem sieben Tage langen Sturm. „Aber wir glauben, es geht dabei um… Sägemehl.“
Die Bäume konnten keine Ereignisse wahrnehmen, die weniger als vierundzwanzig Stunden dauerten, und deshalb hörten sie nie das Hämmern von Äxten.


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