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Die frostige Dezemberluft über dem Hildburghausener Weihnachtsmarkt roch nach Zimt, frittiertem Teig und Verzweiflung. Auf der rot-weiß geschmückten Bühne, zwischen funkelnden Lichterketten und Plastiktannengrün, strahlte Herr Goldstahl in die Kamera, als hätte man ihm die Mundwikel mit Angelschnaren nach hinten gezogen. Sein neonroter Sakko leuchtete wie eine Warnleuchte.
„Und hallo, ihr Lieben daheim! Hier ist euer Goldi, live vom schönsten Weihnachtsmarkt Thüringens!“ Seine Stimme überschlug sich vor Begeisterung. Ein paar vereinzelte Rentner vor der Bühne klatschten in ihre wollhandschuhten Hände. Der Rest des Marktplatzes war ein Meer aus leeren Plastikstühlen, über die ein windgepeitschtes „Frohe Weihnachten“-Banner klagte.
„Weihnachtsmarkt is geil!“ Ja, der Weihnachtsmann, der steht parat!“ Goldstahl stimmte seine Eigenkomposition zur Melodie von „Crazy for you“ an und hüpfte dazu. Die Kamera schwenkte weg, als hätte sie Scham.
In der flackernden Beleuchtung der Imbissbude daneben, einer Konstruktion aus kaltem Aluminium und Fettdunst, zermatschte Freno eine Zigarette auf dem mit Fettstarren überzogenen Grillrost. Sein Gesicht, eine Landkarte aus Granit und Groll, verzog sich zu einer schmalen Linie. Sein Blick schweifte über die dick eingemummten Besucher.
„Schau sie dir an. Diese wandelnden Wurstberge. Thüringer sind wie ihre Rostbratwürste – kurz, fett und brutzeln vor sich hin.“
Er spuckte verächtlich aus. Dann griff er zu einer der Würste, die in Reih und Glied auf dem Grill lagen. Sie sahen perfekt aus: goldbraun, saftig, mit den charakteristischen Grillstreifen. Ein Kunstwerk der Täuschung. Er hatte sie selbst hergestellt, stundenlang, in einer Hinterhofgarage. Fichtenrinde, fein gemahlen, mit veganem Schmalz und einem Cocktail aus Gewürzen und Geschmacksverstärkern zu einer emulsionierten Masse verrührt. Eine perfide Kreation.
»Ha,ha!. Mal sehen, was sie sagen. Die Thüringer fressen sowieso zu viele Bratwürste, und so sehen die auch aus.«
Von der Bühne dröhnte es weiter. „Und jetzt begrüßen wir zwei ganz besondere Jungs! Freno, unser Grillmeister mit der rauen Schale und dem… nun ja… dem ganz eigenen Charme! Und Olaf aus Hoyerswerda!“
Olaf taumelte bereits hinter der Bude auf. Sein Gesicht war puterrot, die Augen glasig. Er umklammerte einen selbstgefällten Glühweinbecher wie einen Rettungsring.
„Servus, Olaf! Bist du schon in Weihnachtsstimmung?“
Olaf verschluckte sich an seinem Glühwein. „Nee, also… der Schbriz is scho ganz annehmbar. Aber der Glühwein… der schmeckt wie heiße Limonade mit ‘nem Schuss Benzin. Hab schon drei davon.“ Er nippte erneut. „Vierte, meine ich. Is ja auch wurscht.“
Freno beobachtete ihn mit einem fahlen Interesse. Ein Versuchskaninchen in freier Wildbahn.
Die Kamera schwenkte zu Goldstahl zurück, dessen Grinsen nun etwas verkrampft wirkte. Er warf einen Blick auf den leeren Zuschauerbereich, dann hinüber zum Regiebus. Ein Funkgerät an seinem Gürtel krächzte leise.
„Goldi, was ist da los? Wo sind alle? Es ist Heiligabend in zehn Tagen!“
Goldstahl tätschelte sein Mikrofon und zwinkerte in die Linse. „Wir haben hier heute ein ganz besonderes Flair! Intim!“
Olaf war inzwischen an seinem fünften Becher angelangt. Er stolperte zur Grillbude und stützte sich mit beiden Händen auf der Theke ab. „Mann, Freno, isch hab‘n Bärenhunger. Die Musik da drüben… die macht mir Magengrimmen. Gib mir eine von deinen Würschtchen.“
Frenos Mundwinkel zuckten. Er legte eine der braunen Stangen auf den Rost. Ein zischendes Geräusch, begleitet von einem Geruch, der irgendwo zwischen Waldboden und verbranntem Plastik lag.
„Hier. Dein Abendmahl.“
Olaf bezahlte mit zittrigen Fingern und biss sofort hinein. Er kaute. Sein Gesicht durchlief eine Reihe seltsamer Verzerrungen – von Erwartung zu Verwirrung zu vorsichtiger Akzeptanz.
„Hm. Schmeckt irgendwie komisch.“ Er sprach mit vollem Mund, die Worte verschwammen in seinem sächsischen Dialekt zu einem nasalen Gestammel. „Aber knusprig is sie! Richtig knusprig!“
Er verschlang den Rest und wischte sich die Hand am Jackenärmel ab. Freno beobachtete ihn, wie ein Biologe eine seltene Käfersorte studiert. Keine Würgereiz. Kein Ausspucken. Nur dämliche Zufriedenheit. Eine bizarre Enttäuschung breitete sich in ihm aus.
Goldstahl gesellte sich zu ihnen, sein Grinsen war eine Maske professioneller Freundlichkeit, die Risse zeigte. „Na, Jungs? Alles in bester Ordnung?“
„Alles tutti, Goldi!“ grölte Olaf und schlug ihm auf die Schulter, dass das Mikrofon in Goldstahls Hand fedderte.
Der Moderator wich einen Schritt zurück und warf Freno einen prüfenden Blick zu. Dieser stand regungslos da, eine neue Zigarette zwischen den Lippen, und ließ seinen Blick über die leeren Stühle schweifen.
„Wenn einer mit einer Visage wie Freno hier steht, ist das kein Wunder.“ Das Krächzen aus dem Funkgerät war kaum zu überhören. Goldstahl schnaubte leise und wandte sich wieder den Kameras zu.
„Und jetzt, ihr Lieben, kommt der Höhepunkt unseres Abends! Gebt einen tobenden Applaus für… De Mitteltannen!“
Aus den Lautsprechern drang ein ohrenbetäubender Trompetenstoß, gefolgt von einem schmalzigen Akkordeon. Drei Männer in ledernen Lederhosen und glänzenden Hemden betraten die Bühne. Ihre Frisuren waren Werke der Provinzfrisörskunst.
„Eins, zwei, drei…“ Der Sänger gab den Takt vor, und dann erklang es, in breitestem Sächsisch, über den verlassenen Platz: „Geht denn der alte Betonmischer noch?“
Olaf, nunmehr im Stadium der hemmungslosen Trunkenheit, reckte die Faust. „Ja! Er geht noch!“ Seine Stimme war ein heiseres Gröhlen.
Goldstahl, dessen professionelles Lächeln endgültig einer Panikattacke gewichen war, sah sich um. Die Kamera. Der leere Platz. Die gröhlende Trio. Den besoffenen Olaf. Und Freno, der ihn aus seiner Rauchwolke heraus mit einem Blick ansah, der pure Verachtung ausstrahlte. Was tat man in so einer Situation? Man gröhlte mit.
Er schloss die Augen und brüllte aus vollem Halse: „Ja, er geht noch!“
Olaf schlang einen Arm um ihn, und sie wiegten sich im Takt, zwei Figuren in einer surrealen Weihnachtskrippe, umgeben von der Stille eines ignorierenden Publikums und dem Geräusch bratzender Fichtenrinde.
Freno drehte sich um und warf eine neue Charge seiner Kreation auf den Grill. Ein befriedigendes Zischen erfüllte die Luft. Vielleicht waren die Sachsen doch noch zu retten. Sie fraßen einfach alles. Er zog an seiner Zigarette und lächelte. Ein schmales, hartes Lächeln.
„Na also,“ murmelte er in den Qualm. „Ja, er geht noch!"
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