ch stelle mir das so vor - und die Patientinnen haben mir das bestätigt -, als wenn ich in
einem fremden Raum übernachte: es ist ganz dunkel - ich sorge inzwischen dafür, daß das
nicht mehr der Fall ist -; dann passiert es oft, daß ich Alpträume habe, ich werde wach, es
ist dunkel, und ich muß erst mal suchen, bis ich die Nachtischlampe finde, und bis dahin läuft
der Traum weiter; und ich bin aber schon wach, und das ist ein übler Zwischenzustand, in
dem ich schon wach bin und der Alptraum noch weiterläuft. Dann mache ich das Licht an,
und dann ist es wieder gut: »Aha, hier bin ich, wie komme ich denn hier hin, ach so, ja . . .«,
und dann komme ich langsam wieder in die Realität zurück und der Alptraum ist zu Ende.
Jetzt stellen Sie sich einfach vor, der Alptraum hört nicht auf, sondern läuft weiter; dann
haben Sie meines Erachtens den Zustand einer Patientin, die getriggert ist, bei der
dissoziative Zustände da sind und die in zwei Wirklichkeiten gleichzeitig ist. Das ist ein
scheußlicher Zustand - ich werde gleich noch erläutern, warum Sie mit Worten dabei so
wenig erreichen können -, und dieser Zustand läßt sich gut beenden, nämlich durch einen
Hautschnitt. Ich wüßte gerne, warum. Aber das beste Antidissoziativum ist eine
Selbstverletzung der Haut. Innerhalb von 15 bis 30 Sekunden, manchmal dauert es auch
eine Minute, ist der Kopf wieder klar, die Affekte sind geordnet, die Sprache steht wieder
zur Verfügung, der Druck ist raus, die Leute haben sich abgeregt, sie sind wieder in der
Gegenwart und die ganze Sache ist vorbei. Manchmal muß tiefer geschnitten werden, aber
es wirkt. Und es wirkt nichts anderes. Wir haben bisher kein Medikament, was sicher
antidissoziativ wirkt. Wir haben kein Antidissoziativum.
Mich interessiert, welche biochemischen Prozesse dabei eine Rolle spielen.
Endorphinausschüttung kann es nicht unbedingt sein, weil der Körper im Zustand der
Depersonalisation schon in einem Überendorphinzustand ist. Depersonalisation ist
verbunden mit einer körperlichen Endorphinvergiftung, das kann es also nicht sein. Es muß
irgendeine Mischung aus peripheren und zentralen Prozessen sein, die dadurch in Gang
gesetzt werden und die nach 15 bis 30 Sekunden zur Wirkung kommen, eine
Selbstmedikation. Das macht den Umgang mit der Symptomatik nicht so ganz einfach; denn
man kann nicht so leicht darauf verzichten, und das führt jede Klinik immer wieder in die
neue Diskussion: Konzentrieren wir uns auf das Symptom oder schieben wir es beiseite? Es
gibt verschiedene Strategien, darauf kann ich im Rahmen der Therapiediskussion noch zu
sprechen kommen.
Vor der nächsten Diskussionsrunde ist mir wichtig, daß wir uns klar machen, daß es
inzwischen eine Reihe von Befunden gibt, die die Diskussion um eingebildetete Kranke oder
darum, daß die sich ja nur anstellen, relativieren.
Zunächst ist die Frage wichtig: Was ist die normale Streßphysiologie? Rufen wir uns das
nochmal ins Gedächtnis: Normalerweise kommt ein Impuls ins Gehirn, und gerät ziemlich
bald zum Mandelkern, der Amygdala. Der Mandelkern ist der »Rauchmelder des Gehirns«.
Das ist sozusagen die Alarmglocke, wodurch die Streßachse anspringt. Diese Streßachse
führt dazu, daß Noradrenalin ausgeschüttet wird, wir sind in einem Übererregungszustand, in
einem Hyper-Arousal-Zustand, und zwar bevor wir überhaupt bewußt registriert haben,
was los ist. Es dauert nämlich 5 bis 7 Zwischenneurone, bis das Frontalhirn gemerkt hat,
was Sache ist. Das wäre viel zu langsam, das muß viel schneller gehen. Unser Körper
schaltet also schon auf Hyper-Arousal, auf Übererregung, bevor wir bewußt mitbekommen
haben, was Sache ist.
Wiederum heute Abend gehen Sie nach Hause und plötzlich fällt ein Schuß; dann sind Sie in
Aufregung und zittern und sind in einer Situation, in der Sie kämpfen könnten, bevor Sie
registriert haben, daß das vielleicht ein Mofa ist mit einer Fehlzündung, so daß Sie sich also
wieder abregen können. Es war nur eine Fehlzündung, also nichts Schlimmes, oder es war
ein Schuß in weiter Ferne, der auch nicht schlimm ist. Es braucht aber etwas Zeit, bis das
klar wird.
Was passiert nun aber bei traumatisierten Menschen? Wenn man traumatisierte Menschen
triggert, indem man ihnen einen spezifischen Reiz gibt, ihnen z. B. ihre
Traumatisierungsgeschichte vorliest, und dann beobachtet, wie das Gehirn arbeitet, dann
gibt es einen interessanten Unterschied:
Bei gesunden, nicht traumatisierten Menschen läuft folgendes ab: Amygdala, Hippocampus.
Der Hippocampus ist eine Art Ordnungssystem, in dem wird eingeteilt. Stellen Sie sich
folgende Szene vor: Ein Forscher steht einem Säbelzahntiger gegenüber, beide benutzen
ihren Hippocampus und teilen das Gesehene ein. Der Forscher ist am Nachdenken: "Das ist
doch so eine Art Löwe oder sollte man eher sagen: Tiger. Eigentlich ist dieses Exemplar
doch ausgestorben, wieso steht es mir denn dann gegenüber?" Das ist der Hippocampus.
Der Säbelzahntiger benutzt auch seinen Hippocampus: »Wow, das Mittagessen«. Beide
benutzten ihren Hippocampus, um das Gesehene einzuteilen. Dann geht die Information
weiter zum Frontalhirn, und dort schaltet sich beim Menschen dann die Broccaregion ein -
beim Säbelzahntiger wahrscheinlich nicht -, dort kommt die Sprache dazu, und dann denken
wir nach: Aha, dieser Knall ist von einem Mofa, von einem Auto, von irgendeinem Jäger
oder ein Fenster ist zugeknallt oder jemand hat seine Tasche fallen lassen und dann denken
wir über die Situation nach.
Was passiert nun, wenn man einen traumatisierten Menschen triggert? Die rechte Amygdala
ist sehr aktiv, die linke nicht; die linke Amygdala leitet normalerweise weiter zum Frontalhirn,
zur linken Hirnhälfte und zum Sprachzentrum. Beim Traumatisierten haben Frontalhirn und
Sprachzentrum also Sendepause, weil die linke Amygdala inaktiv ist. Das bedeutet: Sie
haben das klinische Bild in der Gehirnarbeit abgebildet, das da lautet: hochgradig aufgeregt,
Hyperarousel-Zustand. Sie stehen der traumatisierten Patientin/dem traumatisierten
Patienten gegenüber und sagen zu ihr/ihm: "Nun sagen Sie doch, was Sache ist, Sie können
es doch sagen, sagen Sie doch, was los ist!" Und der Patient steht da und findet keine
Worte, er ringt nach Worten.
Es ist klinisch lange bekannt, daß im Zustand des Hyperarousel eine hirnphysiologische
Situation gegeben ist, in der das Sprachzentrum und das Frontalhirn nicht arbeiten. Am
nächsten Tag sagt Ihnen dann die Patientin/der Patient: "Ja, wenn ich erstmal darüber reden
kann, dann geht’s auch schon wieder." Aber in der Situation selbst können Sie verbal nichts
erreichen - und das ist auch ganz wichtig zu wissen -, weil beim getriggerten Patienten die
entsprechenden Hirnareale praktisch gelähmt sind. Wenn man die PatientInnen mit
Traumaexposition behandelt hat und dann wieder triggert, dann springt das Frontalhirn und
das Sprachzentrum an.
Gleichzeitig ist es so, daß es diesen Leuten sehr schwer fällt, sich abzuregen. Um uns
abzuregen, brauchen wir Cortison. Nun könnte man denken, diese Leute haben einen
ständig erhöhten Cortisonspiegel. Das aber ist nicht der Fall, sie haben einen reduzierten
Cortisonspiegel, wobei unklar ist, wieso. Das sind alles Befunde, die hauptsächlich bei
Vietnam-Veteranen, aber auch bei Frauen mit chronischer Traumatisierung erhoben wurden.
Außerdem haben diese Menschen einen verkleinerten linken Hippocampus. Der linke
Hippocampus ist nicht so aktiv, und er ist kleiner geworden als der rechte. Dafür gibt es
organische Befunde sowohl bei Vietnam-Veteranen als auch bei Frauen nach schweren
Vergewaltigungen. Das bedeutet, daß wir es mit einer Streßpsychosomatose zu tun haben,
einer funktionellen Gehirnpsychosomatose. Die alten Gedanken von Oppenheim und
Kardiner, daß es sich um eine Physioneurose, eine seelische Störung mit körperlicher
Beteiligung handelt, bewahrheiten sich, worauf im Rahmen der Therapie Rücksicht
genommen werden muß.
Wir können diese Menschen nicht wie Neurotiker behandeln. Die Therapiestrategien, die
wir für Neurotiker mit einer überstarken neurotischen Abwehr entwickelt haben, sind nach
meiner Überzeugung für Menschen mit einer dissoziativen Störung, mit einer zu schwachen
Abwehr ungeeignet. Das ist aus der Arbeit mit Borderlinestörungen auch seit langem
bekannt, aber da kann man durchaus noch ein, zwei Schritte weitergehen.
Soviel zur normalen und pathologischen Traumaverarbeitung, zur Streßphysiologie, zur
Problematik der veränderten Informationsverarbeitung. Haben Sie dazu Fragen?
Einige Anmerkungen also zum Zustand des Inescapable-Schock, der absoluten Hilflosigkeit,
der bei Menschen oft assoziiert ist mit Suizidalität. Ich habe subjektiv das Gefühl, in einer
ausweglosen Situation zu sein, also will ich mir das Leben nehmen. Welche akuten
Interventionsmöglichkeiten gibt es, wenn man mit solchen Menschen zu tun hat?
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