Ein Teenie-Leben für Bill
Nina liebt Bill – doch Bill kennt Nina nicht. Die 13-jährige Pforzheimerin ist ganz verrückt nach dem Sänger der Teenie-Band „Tokio Hotel“. Für ein gemeinsames Foto würde sie alles tun. Zur Not auch die Schule schmeiße
Wahrscheinlich ist sie normal, so wie sie ist. Ein Teenie, der in heißer Liebe entflammt ist zu einem Unerreichbaren. Denn Nina liebt Bill. Bill Kaulitz, den Sänger von „Tokio Hotel“. Die 13-Jährige liebt ihn so sehr, dass sie der Band hinterherreist. Sie pfeift auf die Schule, sie pfeift auf die Eltern. Wie? Sie protestieren? Das sei keineswegs normal? Vielleicht. Aber wer ist schon normal? Beatles-Fans vor 40 Jahren? Elvis-Jünger? Oder doch Nina?
Eigentlich will sie nur dieses eine Bild. Sie und Bill. Bill und sie. Deshalb reist Nina quer durch die Republik.
Zur „Bravo Supershow“ nach Düsseldorf, zum Hotel nach Stuttgart, zum Konzert nach Frankfurt. Würde sich die Teenie-Band „Tokio Hotel“ auflösen, sie würde gar nach Magdeburg, die Heimatstadt der vier angehimmelten Milchbubis, düsen. „Selbst wenn es Tokio Hotel nicht mehr geben würde, ich würde sie nicht in Ruhe lassen. Das können die vergessen“, sagt Nina Ströhle aus Pforzheim, 13 Jahre.
So spricht nur ein Edel-Fan.
Sie sitzt auf ihrem Bett, die Beine verschränkt im Schneidersitz, die Gedanken umarmen nur einen: Bill Kaulitz, ihren androgynen, schmalbrüstigen Lieblingssänger und das Bild mit ihm, das sie sich so sehnsüchtig wünscht. „Ich will doch gar nicht mehr. Dann würde ich „Tokio Hotel“ nicht länger hinterher reisen. Aber es klappt einfach nicht, die Sicherheitskräfte erlauben keine Bilder“, so Nina. So oft schon war der richtige Moment zum Greifen nahe: der stille Bill war da, sein Bruder Tom, das Großmaul mit den vielen Frauengeschichten, war da. Nina war da. Meist vor dem Hotel, wo man als Fan nach Konzerten Stunden, manchmal Tage lang auf der Lauer liegt. Und dafür die Schule schwänzt. Als der große Moment gekommen war, versagten die Nerven. „Bei Bill bin ich immer schüchtern. Aber ich habe Tom gefragt. Der wollte auch. Dann hat ihn ein Sicherheitsmann weg gezogen.“
Zelten im Fancamp
Wieder war alles vergeblich. All der Aufwand, den die 13-jährige Realschülerin betreibt. All der Aufwand, den man nicht mit gesundem Menschenverstand begründen kann. Neulich zum Beispiel, war von Nina in fast allen deutschen Tageszeitungen zu lesen. Sie eröffnete das „Tokio-Hotel“-Fancamp vor der Halle in Frankfurt. Sie ließ sich als erste mit Sack, Pack und Zelt vor der Halle nieder. Sechs Tage vorher. Warum so früh? „Wir Fans haben mit den Sicherheitskräften ein System ausgemacht. Die ersten 30, die vor der Halle sind, bekommen Nummern, dürfen am Tag des Konzerts auch zuerst in die Halle.“ Diese Praktik würde funktionieren und die wirklichen Fans davor schützen, von Möchte-Gern-Fans weggedrängt zu werden. Die Bandmitglieder von „Tokio Hotel“ würden Nina und Co. gerne vor sich selbst schützen. „Die sind gegen unsere Camps, wollen in Zukunft die Polizei rufen lassen. Aber das ist uns egal. Wir lassen uns das nicht verbieten“, sagt Nina mit jugendlichem Trotz.
Nina wohnt in einem normalen Block, in einem Zimmer wie Millionen andere Jugendliche auch. Nichts, was aus dem Rahmen fällt. Die Poster an der Wand gehören zum Teenager-Dasein wie die Borsten zum Schwein. Bill hier, Bill da.
Bill umrahmt in einem Herzen aus CD-Rohlingen. Ein Bett. „Heute nicht so aufgeräumt.“ Ein kleiner Fernseher. Auf dem Schreibtisch steht ein herkömmlicher Computer.
Ebenfalls teenagertypisch: Auf dem Flachbildschirm blinkt und tut etwas. Dann piepst es. MSN Messenger, wie SMS nur kostenlos und via Internet. Die bevorzugte Kommunikationsform der Jugend von heute.
Wenn sich MSN meldet, springt Nina über ihr Bett zum Computer als ginge es um den Weltrekord im Hürdenlauf. „Ich kann jetzt nicht“, jauchzt Nina ihrem PC entgegen, hackt in Windeseile eine Nachricht in die Tastatur. Würde man die Anschläge pro Minute, beats per minute, zählen, es wären mehr als bei der schnellsten „Tokio-Hotel“-Nummer. Sie tippt schneller als die meisten 13-Jährigen. Aber auch das weicht nicht sonderlich ab von der Norm.Bei Nina gibt es keine äußerlichen Anzeichen von Fanwahn. Ein normales Mädchen also? Sympathisch ist sie. Kein Rotzlöffel. Nicht einmal Zahnspange. Was hat ihre Mutter nur? Warum hasst sie „Tokio Hotel“ bloß? Ninas Arme sind nicht einmal beschrieben mit Bill-Botschaften, ihre Augen nicht geschminkt im Gruftie-Look. Also ein ganz normaler Fan, oder?
Schule? Die Band ist wichtiger
Nein. Wie sehr die absonderliche Anziehungskraft des Phänomens „Tokio Hotel“ die Welt von Nina aus den Angeln gerissen hat, seit sie im Oktober 2006 anfing, der Band hinterher zu reisen, wird klar, wenn die Schule zur Sprache kommt. Es schwirren Sätze durch die jugendliche Atmosphäre, die nachhaltig irritieren: „Tokio Hotel ist das allerwichtigste in meinem Leben. Wie Luft – man braucht es einfach. Müsste ich mich zwischen einem Schulabschluss und ,Tokio Hotel‘ entscheiden, wäre die Wahl klar: ,Tokio Hotel‘.“ Am liebsten wohl auf „Zimmer 483“, so heißt das neue Album, mit Bill, dem Frontmann.
Dieses gedankliche Luftschloss, erbaut weit abseits der Realität, hat keine Anbindung an den Alltag. Nina: „Wie soll man ,Tokio Hotel‘ mit dem täglichen Leben verbinden? Meist sind die Konzerte unter der Woche.“ Also leidet das tägliche Leben. Vor allem die Schule.„Zurzeit weiß ich überhaupt nicht, wo wir sind. In Englisch verstehe ich nichts mehr.“ Zu viele Fehlzeiten. Einmal wurde sie sogar von der Polizei aufgegabelt. Die Mutter hat diese gerufen, weil die Tochter nach einem Konzert partout nicht nach Hause kommen, sondern vor einem Hotel in einer fremden Stadt campieren wollte. „,Tokio Hotel‘ blieben einen Tag länger im Hotel. Und ich wollte sie noch unbedingt sehen“, sagt die 13-Jährige. Das gab Ärger: mit der besorgten Mutter und dem Jugendamt.
Was macht die Faszination für Bill und Co. aus? „ Wenn man bei einem Konzert ist, wenn ich mit Bill rede, ist das eine andere Welt, in der nur der Augenblick zählt.“ Die Fabelwelt für den Augenblick hier, das auf Nachhaltigkeit angelegte Koordinatensystem der Realität dort, dazwischen eine 13-jährige, die sich nicht mehr so recht zu helfen weiß. „Ich kann das alles nicht mehr. Ich dachte, das sei alles nur eine Phase, aber es wird immer schlimmer. Manche wollen mich schon zum Psychiater schicken.“
Vielleicht kann der helfen. Vielleicht jedoch genügt schon ein kleiner Knopfdruck, ein einsetzender Blitz, ein Ausdruck. Ein Bild von Nina mit Bill. Das ist es, was sie eigentlich will. So einfach wären Realität und „Tokio Hotel“ in Einklang zu bringen. So einfach könnte man die Schönheit des Augenblicks nachhaltig festhalten auf buntem Papier. Doch so einfach ist es eben auch nur auf dem Papier.
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