Mannigfaltigkeit
Das Denken ist nicht baumförmig, und das Gehirn ist weder eine verwurzelte noch eine
verzweigte Materie. Die zu Unrecht so genannten »Dendriten« stellen keine
Verbindung von Neuronen in einem zusammenhängenden Gewebe her. Die
Diskontinuität der Zellen, die Rolle der Axonen, die Funktion der Synapsen, die Existenz
synaptischer Mikro-Fissuren der Sprung jeder Botschaft über diese Fissuren hinweg,
machen aus dem Gehirn eine Mannigfaltigkeit, die auf ihrer Konsistenzebene oder ihrer
Glia in ein ungewisses System von Wahrscheinlichkeiten eingebettet ist, unt@ertain
nei-t,oiis system. Vielen Menschen ist ein Baum in den Kopf gepflanzt, aber das Gehirn
selbst ist eher ein Kraut oder Gras als ein Baum. »Axon und Dendrit sind umeinander
gewunden wie eine Ranke um einen Brombeerstrauch, mit einer Synapse an jedem
Dom.« 13 Das gilt auch für das Gedächtnis... Die Neurologen und Psychophysiologen
unterscheiden zwischen einem Langzeit und einem Kurzzeitgedächtnis (in der
Größenordnung von einer Minute). Die Differenz ist allerdings nicht nur quantitativ: das
Kurzzeitgedächtnis gehört zum Typus Rhizom oder Diagramm, während das
Langzeitgedächtnis baumartig und zentralisiert ist (Abdruck, Einprägung, Kopie oder
Photo). Das Kurzzeitgedächtnis hängt nicht von einem Gesetz der Kontiguität oder
Unmittelbarkeit seines Gegenstandes ab. Es kann sich entfernen und viel später
kommen oder wiederkehren, aber immer unter der Voraussetzung der Diskontinuität,
des Bruchs oder der Mannigfaltigkeit. Mehr noch, beide Gedächtnisformen
unterscheiden sich voneinander nicht nur als zwei zeitgebundene
Wahmehmungsweisen derselben Sache. Es ist nicht dieselbe Sache, es ist nicht dieselbe
Erinnerung, und es ist auch nicht dieselbe Idee, die sie beide auffassen. Der Glanz eines
schnellen Einfalls: man schreibt mit dem Kurzzeitgedächtnis, also mit kurzen Ideen,
aber man liest lange Entwürfe immer mit dem Langzeitgeächtnis. Das
Kurzzeitgedächtnis schließt das Vergessen als Prozeß it ein; es ist nicht mit dem
Augenblick, sondem mit dem kollektiven, eitlichen und nervlichen Rhizom verbunden.
Das Langzeitgedächtnis Familie, Generation, Gesellschaft oder Zivilisation) kopiert oder
bersetzt, aber was es übersetzt, wirkt in ihm weiter, aus der Distanz, ur Unzeit,
»unzeitgemäß«, indirekt.
Der Baum oder die Wurzel rufen ein trauriges Bild des Denkens
ervor, das - von einer höheren Einheit, einem Zentrum oder Seg
ent ausgehend - immer wieder das Mannigfaltige imitiert. Und sächlich spielt der
Stamm, wenn man die Gesamtheit von Zweigen nd Wurzeln betrachtet, für eine dieser
Unter-Einheiten die von unten ach oben durchlaufen werden, die Rolle eines
gegenläujigen Seg
3. Steven Rose, The Cotis(-ious Bi@aiii, New York 1975, S. 76: über das Gedächtnis vgl.
185-219
|