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die Fußnote als satirische Intertextfunktion
Während der Aufklärung entwickelt sich das Medium Fußnote - in der Tradition von Rabelais, Sterne, Cervantes - in den innerhalb der Salonkultur zirkulierenden Texte zu einem äußerst beliebten diskursivem Trick, um einem breitem Publikum unterschiedliche Konversationspraktiken, Stile, Abschweifungen, Belehrungen und ironische Anspielungen nahe zu bringen.
Welche verzwickten intertextuellen Konstruktionen durch extensiven Gebrauch von Fußnoten produziert werden können, zeigen unzählige satirische literarische Entwendungen der Fußnotentechnik.
Als literarische Produktionsweise verstärken Anmerkungssysteme eine nicht-lineare Verschachtelungen von Texten, bilden Abschweifungen und mehrschichtige Textformationen - etwa im X.Kapitel von Finnegans Wake, das an beiden Rändern und am Fuße der Seite bestimmte Anmerkungsorte für verschiedene Sprecher markiert. Leser und Leserinnen versehen ihre Bücher mit Markierungen, Unterstreichungen, Eselsohren. In wissenschaftlichen Arbeiten werden komplexe Anmerkungsapparate aus dem physischen Körper des Buches ausgelagert: Exzerpte, Zettelkästen, Materialienbände.
Das historisch-kritische Wörterbuch, das Pierre Bayle nach zehnjähriger Forschungs- und Kompilationsarbeit herausbrachte - und das zu einem einflußreichen Konversationslexikon der aufklärerischen Salons wurde. Es liest sich wie das Projekt einer ‘historisch kritischen’ Neu-Auflage aller bisherigen Wörterbücher: ein Lexikon der Fehler, Irrtümer, Auslassungen und Verdrehungen der gängigen Lexika seiner Zeit: “Ich habe mir in den Kopf gesetzt, die größte mir mögliche Sammlung von Fehlern zusammenzustellen, die sich in den Nachschlagewerken finden [...].” Bayles Verfahren der Textauswahl und der -generierung beruht auf einem endlosen Prozeß der Relativierungen (Behauptungen und Erwiderungen, Meinungen und Gegenmeinungen usw.). Als fortwährende Textkritik ist es eine Frühform des intertextuellen Verfahrens. Die Autor-Funktion gleitet über zu der eines Kompilators, Transformators, Herausgebers, Kommentators. Die überbordende Verwendung von Fremdmaterialien treibt Form und Aussehen der Buchseiten an die Grenze der Buchkultur.
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