Kinderleiche

In einer Kneipe lernte ich mal eine Ärztin kennen, und da bahnte sich etwas an ... die kurze Bekanntschaft mit dieser Frau gehört zu den vielen verpassten Gelegenheiten meines Lebens, denen ich gelegentlich nachweine. Anyway: ich besuchte sie einmal am Wochenende auf ihrem »Dienst« in einer geriatrischen Klinik. Das war vorher abgesprochen gewesen, und sie versicherte mir, daß sei »ok« und zulässig. Ich lerne so das recht kompfortable »Dienstzimmer« kennen, in dem wir dann saßen, und sprachen. Möglicherweise hätte da auch mehr passieren können - aber schon ihr beiläufiger Spruch: »Hoffentlich kratzt mir heute nacht keiner ab - das würde mir grade noch fehlen.« - dieser Spruch alleine genügte schon, mich auf eine gehörige Distanz zu bringen.

Wuttrigger. Einen Körper loszulassen, der gerade noch gelebt hat, und nicht weiter zu pressen, zu infundieren oder zu beatmen, macht wütend. Grenze überhaupt.

Zwischen den geputzten Spaziergängern hindurch bei den lachenden und plaudernden Gruppen wurde eine Kinderleiche von sechs kleinen Mädchen in einem offenen Särglein getragen. Das arme kleine Todtengesichtchen sah so friedlich aus, und die Mädchen, die das gestorbene Kind trugen, wehrten ihm die Fliegen ab, und bald war die Eine, bald die Andere beschäftigt, die Blumen zurecht zu legen, womit die Todte bedeckt war, und die sich beider Bewegung zuweilen verschoben; auch vermehrten sich diese Blumen, je weiter der Zug sich vom Thore entfernte, denn manch schönes Weib, manch reizendes Mädchen nahm ein grünes Blatt oder ein Blüthe aus dem Haar oder vom Busen, und warf es mit einem Segenspruch auf die Kinderleiche.


Friedrich Wilhelm Hackländer, Ein Winter in Spanien; Siebenzehntes Kapitel