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Annette von Droste-Hülshoff:  
 
 
 »Silvesterabend«
 
 
 Am letzten Tage des Jahres
 Da dacht' ich, wie mancher tot,
 Den ich bei seinem Beginne
 Noch lustig gesehn und rot;
 Wie mancher am Sargesbaume
 Gelacht unterm laubigen Zelt,
 Und wie vielleicht auch der meine
 Zur Stunde schon sei gefällt.
  
 Wer wird dann meiner gedenken,
 Wenn ich nun gestorben bin?
 Wohl wird man Tränen mir weihen,
 Doch diese sind bald dahin;
 Wird wohl man Lieder mir singen,
 Doch diese verweht die Zeit;
 Vielleicht einen Stein mir setzen,
 Den bald der Winter verschneit.
  
 Und wenn die Flocke zerronnen
 Und kehrt der Nachtigall Schlag,
 Dann blieb nur die heilige Messe
 An meinem Gedächtnistag;
 Nur auf zerrissenem Blatte
 Ein Lied von flüchtigem Stift,
 Und mir zu Häupten die Decke
 Mit mooszerfressener Schrift.
  
 Wohl hab' ich viele Bekannte,
 Die gern mir öffnen ihr Haus;
 Doch wenn die Türe geschlossen,
 Dann schaut man nimmer hinaus;
 Dann haben sie einen andern
 An meiner Stelle erwählt,
 Der ihnen singt meine Lieder
 Und meine Geschichten erzählt.
  
 Wohl hab' ich ehrliche Freunde,
 Die greift es härter schon an;
 Doch wenn die Kette zerrissen,
 Man flickt sie, so gut man kann;
 Zwei Tage blieben sie düster
 - Sie meinten es ernst und treu, -
 Und gingen dann in die Oper
 Am dritten Tage aufs neu.
  
 Ich habe liebe Verwandte,
 Die trugen im Herzen das Leid;
 Allein wie dürfte verkümmern
 Ein Leben, so vielen geweiht?
 Sie haben sich eben bezwungen,
 Für andere Pflichten geschont;
 Doch schweben meine Züge
 Zuweilen noch über den Mond.
  
 Ich habe Brüder und Schwestern,
 Da ging ins Leben der Stich,
 Da sind viel Tränen geflossen
 Und viele Seufzer um mich.
 O, hätten sie einsam gestanden,
 Ich lebte in ewigem Licht;
 Nun haben sie meines vergessen
 Um ihres Kindes Gesicht.
  
 Ich hab', ich hab' eine Mutter,
 Der kehr' ich im Traum bei Nacht,
 Die kann das Auge nicht schließen,
 Bis mein sie betend gedacht;
 Die sieht mich in jedem Grabe,
 Die hört mich im Rauschen des Hains, -
 O, vergessen kann eine Mutter
 Von zwanzig Kindern nicht eins!
  
  
 
 
 
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