>Info zum Stichwort Kirche | >diskutieren | >Permalink 
flo janner schrieb am 22.3. 2000 um 01:55:46 Uhr über

Kirche

1921 wird in der Krypta der Kirche St.Georg in Köln der 190 cm hohe Torso einer Christusfigur entdeckt. Das überlebensgroße Werk, eine Schnitzerei aus Nußbaumholz, war einmal Teil eines Kruzifixes und ist heute in desolatem Zustand: es fehlen nicht nur die Arme und Füße der von Wurmlöchern durchsetzten Christusfigur; auch die Fassung, die ursprüngliche Bemalung des Bildwerkes also, ist verlorengegangen - und nicht zuletzt fehlt auch das Kreuz. Am Rest des linken Oberarmes ist noch zu erkennen, daß die Arme ursprünglich schräg nach oben gestreckt waren, die
Figur also die Haltung des Gekreuzigten einnimmt. Es läßt sich nur schätzen, wann genau das heute allgemein als Kruzifix aus St. Georg bekannte Werk entstand. Man vermutet jedoch, daß es aus der zweiten Hälfte des 11.Jh stammt und bringt es mit der Weihe der Georgskirche im Jahre 1067 in Verbindung. Seit 1929 befindet sich das Objekt im Kölner Schnütgen-Museum
Die Figur beschreibt eine große, nach links gewölbte Kurve und wirkt so wie ein Kreisbogen. Denken wir uns das fehlende Kreuz hinzu, so weicht der Körper deutlich seitwärts von dessen
senkrechter Achse ab, was den Eindruck einer Bewegung, eines Ausschwingens der Figur erzeugt. Von vorne gesehen ist der gesamte Körper vom sehr differenziert gestalteten, stark nach vorne geneigten Kopf bis zu den Beinen in diese ausladende Bogenform eingebunden. Zusätzlich zu dieser Seitwärtsbewegung der Figur jedoch entsteht durch das jähe Herausfallen des Kopfes aus der reinen Flächenansicht nach vorne eine weitere Dynamik, die als weitere Raumachsen auch noch Vorne und Hinten miteinbezieht. Der Nacken ist dabei in unnatürlich großem, fast rechtem Winkel stark herausgedehnt, was den Eindruck größter Anspannung erzeugt; er scheint wie mit Gewalt herausgebogen. Der ebenso wie der Hals stark gelängte Kopf sinkt nicht ganz auf die Brust herab sondern bleibt vielmehr starr in der Luft stehen, was noch einmal den Eindruck äußerster
Anspannung verstärkt. Der Längung des Kopfes entsprechend kommen bei der Modellierung sowohl des Profils von Nase und Kinn als auch der Gesichtszüge gratige, scharf geschnittene Formen zur Verwendung. So ist der Ausdruck des Gesichts geprägt von tief eingeschnittenen Falten. Die
schärfsten und markantesten führen von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln herab. Die von der Nasenwurzel ebenfalls zu den Mundwinkeln reichenden Falten sind zwar länger, dafür aber nicht ganz so tief eingekerbt. Unter den Jochbeinen schließlich befinden sich jeweils zwei bogenförmige, übereinander angeordnete Hängefalten, die an ihren Scheitelpunkten herausstehen. Über den sich hervorwölbenden Jochbeinen scheint sich die Haut zu spannen, was den schon durch die starke Längung des gleichzeitig sehr schmalen Kopfes unterstützten, hageren und ausgemergelten Ausdruck des Gesichtes noch verstärkt. Dessen Länge wird durch die Vertikalität der Falten noch einmal betont, was auch durch die hochgezogenen Stirnbeinbögen noch unterstützt wird. Auch kommt die durch
diese Längung von Hals und Kopf angedeutete Anspannung in der Härte und Tiefe der Falten erneut zum Ausdruck. Der Schärfe der Falten entspricht die Gestaltung des Haupthaares, welches in tiefen, streng parallel angelegten Einkerbungen zu beiden Seiten des Mittelscheitels "eng geriefelt in ornamental wirkendem
Schwung" um die großen, nach vorn geklappten Ohren führt und in jeweils drei Strähnen auf beide
Schultern fällt. Ebenso dicht und streng parallel gefurcht wie das Haupthaar sind auch der Lippenbart
sowie der Wangen- und Kinnbart dargestellt. Letzterer ist in stilisierte Büschel zusammengefaßt,
welche durch bogenförmige, zu beiden Seiten des Kopfes jeweils in Richtung des Kinns sich
vorwölbende Einschnitte gekennzeichnet sind. Es lässt sich nicht genau ausmachen, ob der
Gekreuzigte hier in der Anspannung des Todeskampfes dargestellt ist, oder ob seine Züge noch im
Tod angespannt sind. Denn ob die Augen nun geschlossen sind oder nicht, läßt sich allein anhand von Abbildungen und ohne dem Original gegenüberzustehen nicht mit letzter Gewißheit sagen.
Während sowohl Wesenberg als auch Budde der Ansicht sind, die Augenlider seien geschlossen, der Gekreuzigte also als Toter dargestellt, ist man anderswo davon überzeugt, die
Augen seien nicht etwa geschlossen sondern noch halb offen. Tatsächlich erwecken die je nach
Abbildung in unterschiedlich starker Intensität wahrnehmbaren Schatten jeweils zwischen oberem und
unterem Augenlid den Anschein, die Augen seien noch nicht ganz geschlossen. Die Figur als Ganzes greift also auf unterschiedliche Weisen in verschiedene Raumrichtungen aus: weit, geschwungen und dennoch angespannt zur Seite hin; plötzlich, knapp und von größter
Anspannung erfüllt nach vorne. Die den Körper in die Form des Kreisbogens einbindende Seitwärtsbewegung dominiert dabei aufgrund ihrer ausladenden Weite das Werk. Indem das Haupt nun gleichzeitig nach rechts entlang des Kreisbogens und nach vorne geneigt ist und so an beiden
Bewegungen teil hat, wird es zum Schnittpunkt dieser Dynamiken unterschiedlichen Charakters, die sich eben auch in der Ausgestaltung der Gesichtszüge widerspiegeln. Dem unvermittelt scharfen,
frontalen Abbrechen des Kopfes entsprechen die Schärfe und Härte der Gesichtszüge sowie die scharfgratige Parallelität von Haupt- und Barthaaren; demgegenüber korrespondiert die geschwungene
Linienführung des Haupthaares um die Ohren herum mit der Bogenform des Gesamtkörpers. Das
Haupt wird so zum Mittelpunkt der Figur, seine detailreiche Ausgestaltung unterstreicht noch einmal seine Bedeutung als Ausdrucksträger. Auffällig ist weiterhin der durch die symmetrische Anlage der
Falten unterstützte achsensymmetrische Aufbau des Gesichts, welcher sich im leicht zur rechten
Seite des Kopfes verschobenen Mittelscheitel fortsetzt - eine Symmetrie, aus der sich der Kopf als
Ganzes allerdings durch sein Abknicken, der Gesamtkörper wiederum durch sein Ausschwingen
herausbewegt. Das Gesicht ist also nicht nur der am detailiertesten gestaltete, sondern auch der
einzige achsensymmetrisch angelegte Bereich des ganzen Werkes, was ihm im
Gesamtzusammenhang zusätzliches Gewicht einräumt.
Indem die Kreisbogenform des Körpers den Raum in so großem Radius durchstellt und, von vorne
betrachtet, ohne Knick verläuft, wirkt sie zunächst sehr weich. Die Haltung jedoch, die dem Körper
durch diese Kurve auferlegt wird, ist höchst unnatürlich und angespannt. Ursache sind die wie
aufeinandergesetzte Blöcke wirkenden Bereiche von Oberkörper und Lendentuch, die der
kreisbogenförmigen Bewegung der Figur entgegenstehen. Der Körper erscheint wie "von fremder
Gewalt durchbogen" (14) gegen den Widerstand dieser mächtigen, blockhaften Formen. Diese
Bewegung erinnert an das Spannen eines Bogens - die aus dieser Bewegung resultierende Haltung
wirkt dementsprechend gespannt.
Der Oberkörper ist dabei im Gegensatz zum Gesicht und zum Lendentuch so gut wie gar nicht
in sich gegliedert, seine Oberfläche ist kaum differenziert. Im Bereich des Thorax sind zwar die durch
das Anheben der Arme hervortretenden Brustmuskeln deutlich dargestellt, auch ist schwach zu
erkennen, wie sich die Oberfläche dem Brustbein entlang sehr leicht einzieht; die restlichen
anatomischen Details dagegen, die sich herauswölbenden Rippen zum Beispiel, fehlen. Eigentlich
müßte jedoch besonders dieser Bereich des Körpers das bereits an den Jochbeinen zutage tretende
Merkmal des sich durch die gespannte Haut drückenden Skelettes aufweisen. Dieses Element fehlt
jedoch im Thoraxbereich völlig und es wird deutlich, daß das Werk, was die Einhaltung eines
einheitlichen Themas betrifft, nicht konsequent durchgestaltet ist. Dies macht sich als
Ungleichgewicht der unterschiedlich behandelten Körperpartien bemerkbar.
Zusätzlich zur Neigung des Kopfes ist schließlich im zwischen Thorax und Ansatz des Lendentuches
gelegenen Bereich durch die starke Vorwölbung des Bauches eine weitere Bewegung aus der Fläche nach vorne gegeben, während der komplette restliche Körper in der Fläche verbleibt. Verglichen mit
dem Herausbrechen des Kopfes handelt es sich hierbei jedoch um eine sehr weiche, geschwungene
Bewegung, verwandt mit dem kreisbogenförmigen Ausschwingen der Gesamtfigur. Obwohl sich der
Bauch so massiv vorwölbt, ist der Rücken nur minimal durchgedrückt und entfernt sich so, verglichen
mit dem Herausfallen des Kopfes, nicht wirklich nach vorne vom Kreuz, so daß das typische
Durchhängen und Absinken des Körpers hier nicht wirklich ausgeprägt ist. Die starke Neigung des
Kopfes, hinter dem ein Freiraum entsteht, stellt so die einzige Abweichung des Körpers vom Kreuz
dar und betont auf diese Weise das Verbleiben des restlichen Körpers in der Fläche - andererseits
erhält aber auch die dadurch umso abrupter wirkende Neigung selbst zusätzlichen Nachdruck und der
Kopf als besonders wichtiger, da ausdrucksstarker Körperteil wird zusätzlich betont.
Da der Rücken fast gar nicht durchgedrückt ist, scheint der Oberkörper trotz der merklichen Wölbung
des Bauches und trotz der Bogenform des Körpers unnatürlich aufrecht, was den Eindruck einer
unorganischen Haltung des Gesamtkörpers entscheidend mitprägt. Durch ein schmales, reifförmiges Zingulum ist der Oberkörper streng horizontal gegen das Lendentuch abgegrenzt. Insgesamt ist er durch seine festen Umgrenzungen in die unorganische Form
eines geometrischen Grundelementes, eines Rechtecks, eingefaßt. Dies unterstützt die Wirkung des
kaum gegliederten Oberkörpers als blockhafte Masse, die dem Ausschwingen des Gesamtkörpers
entgegensteht. Im Vergleich zu Schärfe und Detailreichtum der Gesichtszüge, beziehungsweise zum
scharf geschnittenen Lendentuch wirkt der Oberkörper durch seine kaum gegliederte Oberfläche
karger, aber auch viel weicher. Nicht zuletzt scheint er dadurch auch unfertig, das Werk als Ganzes bleibt durch die Überbetonung des Gesichts als Ausdrucksträger bei gleichzeitiger Vernachlässigung anderer Körperpartien im Ungleichgewicht.
Das Lendentuch, ein Perizoma (16) mit Knoten an der rechten Seite der Hüfte, ist durch harte
senkrechte Falten gegliedert. In ihrer streng parallelen Anlage gleicht die Faltenstruktur des Lendentuches dem Aufbau der nach
dem selben Prinzip gestalteten Haupt- und Barthaare und korrespondiert aufgrund ihrer Starre auch
mit der Starre des Nackens. Das Tuch wirkt keineswegs stofflich - vielmehr bildet der Stoff im
wahrsten Sinne des Wortes hölzern wirkende Parallelfalten. Diese scheinen wie erstarrt und von der
eigenen Masse nach unten gezogen, weswegen das Lendentuch einen insgesamt sehr schweren
Eindruck macht. Dadurch, sowie durch seine großen Ausmaße dominiert es die untere Körperpartie.
Indem der wie erstarrt wirkende Stoff den Körper völlig steif umgibt, steht er, sehr viel stärker noch als
der Oberkörper, in seiner strengen Vertikalität der Bewegung des Körpers aus der Senkrechten
entgegen. Im Gegensatz zum Oberkörper, der sich, wenn auch widerstrebend, der Seitwärtsbewegung der Gesamtfigur fügt, bleibt das Lendentuch so völlig statisch und weicht kein Stück von der Senkrechten ab. Es ist, wie schon der Oberkörper, in einen streng rechteckigen, wenn auch an der
unteren horizontalen Kante durch den Faltenwurf ausgefransten Umriß eingefaßt und dadurch deutlich vom restlichen Körper abgegrenzt, was seine Unbeweglichkeit noch unterstreicht. Die Unnatürlichkeit
der Körperhaltung resultiert so auch aus dieser Immobilität des großen Lendentuches, gegen dessen Masse der Körper mit Gewalt gebogen zu sein scheint. Alles in allem ist die Figur erfüllt von einander entgegengesetzten Kräften: einerseits die weiche Kurve der großen Generalbewegung und die mit ihr korrespondierenden Dynamiken, andererseits das heftige
Herausfallen des Kopfes und die dem Charakter dieser Bewegung entsprechenden harten und scharfen Formen; einerseits Bewegung, andererseits Starre; detailreich ausgestaltete Bereiche
einerseits, kaum differenzierte Bereiche andererseits. Diese komplexe Struktur in Verbindung mit den
vielfältigen Beziehungen und Verwandschaften zwischen den einzelnen Bestandteilen, die sich innerhalb des Werkes ausmachen lassen, machen diese Figur zu einem besonderen Werk.



   User-Bewertung: 0
Findest Du »Kirche« gut oder schlecht? Sag dem Blaster warum! Bedenke bei Deiner Antwort: Die Frage dazu sieht keiner, schreibe also ganze Sätze.

Dein Name:
Deine Assoziationen zu »Kirche«:
Hier nichts eingeben, sonst wird der Text nicht gespeichert:
Hier das stehen lassen, sonst wird der Text nicht gespeichert:
 Konfiguration | Web-Blaster | Statistik | »Kirche« | Hilfe | Startseite 
0.0270 (0.0106, 0.0150) sek. –– 882208071