Ursprache

Ein König wollte herausfinden ob es eine Ursprache gäbe, die der Mensch gleichsam durch göttliche Eingebung erlernen könne, die besser gesagt sogar in ihm angelegt sei. Zu diesem Zweck erwarb er auf ungeklärten Wegen zwei neugeborene Kinder. Diese wurden von stummen, verhüllten Ammen gesäugt; es war ein großer, fensterloser Saal in einem abgelegenen Turm, in dem sich das Leben dieser Kinder abspielte, ohne ein einziges Wort, das je an sie gerichtet wurde. Sie wuchsen heran, und in ihrem achten Lebensjahr hatten sie noch kein Wort gesprochen. Nur ein alter Hofmeister, dem der Schlagfluss die Zunge gelähmt hatte, versorgte sie über die Woche mit allem, dessen sie bedurften, außer mit einem einzigen Wort, es sei geschrieben oder gesprochen gewesen. Jede Woche besuchte der König die beiden Kinder und saß ihnen gegenüber. So musterten sie sich oft für lange Zeit gegenseitig. Irgendwann jedoch beschloss der König, der eigentlich ein ganz guter Mensch, doch etwas zerstreut war, sich an ein Handbuch der Falknerei zu geben. Über dieser Aufgabe vergaß er die beiden Kinder. Unglücklicherweise verstarb der treue alte Hofmeister zu dieser Zeit an seinem zweiten Schlag. Als der König nach einigen Monaten zu dem Turm zurückkehrte, bekam er einen großen Schreck und sprach nie wieder über die Angelegenheit. Leider war zu diesem Zeitpunkt die Kunde von den beiden stummen Geschwisterchen schon im Reiche verbreitet worden; und als nun neue Nachrichten über die Ursprache ausblieben, dachte sich der gebildete Teil des Reiches schon sein Teil. Doch weil es ansonsten eigentlich ein ganz freundlicher König war, sah man ihm die ganze Sache nach und bis auf den heutigen Tag wird in den Geschichtsbüchern nur beiläufig das Scheitern dieses Wolfskinder–Experiments erwähnt.