der künstler ist der schöpfer schöner dinge ... kunst zu offenbaren und den künstler zu verbergen ist ziel der kunst ... kritiker ist, wer seine eindrücke von schönen dingen in einem andern stil oder ein neues ausdrucksmittel zu übersetzen vermag ... die höchste wie die niedrigste form der kritik ist eine art selbstbiographie ... wer in schönen dingen häßliche bedeutungen findet, ist verdorben, ohne reizend zu sein. das ist ein fehler ... wer in schönen dingen schöne bedeutungen findet, hat kultur. für ihn ist hoffnung ... auserwählt ist, wem schöne dinge nur schönheit bedeuten ... es gibt kein moralisches oder unmoralisches buch. es gibt schlecht geschriebene oder gut geschriebene bücher. das ist alles ... die abneigung des neunzehnten jahrhunderts gegen realismus ist die wut calibans, der sein gesicht im spiegel sieht ... die abneigung des neunzehnten jahrhunderts gegen romantik ist die wut calibans, der sein gesicht nicht im spiegel sieht ... das moralische leben des menschen kann stoff für den künstler sein, aber die moral der kunst besteht im vollkommenen gebrauch eines unvollkommenen mittels ... kein künstler will etwas beweisen. selbst wahre dinge können bewiesen werden ... kein künstler hat sittliche neigungen. sittliche neigung in einem künstler ist eine unverzeihliche manieriertheit des stils ... kein künstler ist je krankhaft. der künstler kann alles ausdrücken ... gedanke und sprache sind für den künstler werkzeuge einer kunst ... von der form aus gesehen, ist der typus aller künste die kunst des musikers. vom gefühl aus gesehen, ist es die kunst des schauspielers ... alle kunst ist zugleich oberfläche und symbol ... wer unter die oberfläche taucht, tut es auf eigene gefahr ... wer das symbol deutet, tut so auf eigene gefahr ... was die kunst wirklich spiegelt, ist der zuschauer und nicht das leben ... meinungsverschiedenheit über ein kunstwerk zeigt, daß das werk neu, vielfältig und lebensstark ist ... wenn die kritiker nicht übereinstimmen, ist der künstler im einklang mit sich selbst ... das einer etwas nützliches gemacht hat, kann man ihm verzeihen, solange er es nicht bewundert. die einzige entschuldigung dafür, etwas nutzloses gemacht zu haben, ist, daß man es grenzenlos bewundert. alle kunst ist ganz nutzlos ...
Oacar Wilde/vorwort zu »das bildnis des dorian gray«
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