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Richie schrieb am 11.5. 2001 um 23:51:57 Uhr über

Aufstand

Mein Drama, wenn es noch stattfinden würde, fände in der Zeit des Aufstands statt. Der Aufstand beginnt als Spaziergang. Gegen die Verkehrsordnung während der Arbeitszeit. Die Straße gehört den Fußgängern! Hier und da wird ein Auto umgeworfen. Angsttraum eines Messerwerfers: langsame Fahrt durch eine Einbahnstraße, auf einen unwiderruflichen Parkplatz zu, der von bewaffneten Fußgängern umstellt ist. Polizisten, wenn sie im Weg stehen, werden an den Straßenrand gespült.
Wenn der Zug sich dem Regierungsviertel nähert, kommt er an einem Polizeikordon zum Stehen. Gruppen bilden sich, aus denen Redner aufsteigen. Auf dem Balkon eines Regierungsgebäudes erscheint ein Mann mit schlechtsitzendem Frack und beginnt ebenfalls zu reden.
Wenn ihn der erste Stein trifft, zieht auch er sich hinter die Flügeltür aus Panzerglas zurück. Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung. Man beginnt, die Polizisten zu entwaffnen, stürmt zwei, drei Gebäude, ein Gefängnis, eine Polizeistation, ein Büro der Geeimpolizei, hängt ein Dutzend Handlanger der Macht an den Füßen auf. Die Regierung setzt Truppen ein, Panzer.
Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber. Ich stehe im Schweißbruch der Menge und werfe Steine auf Polizisten, Soldaten, Panzer, Panzerglas. Ich blicke durch die Flügeltür aus Panzerglas auf die andringende Menge und rieche meinen Angstschweiß. Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust gegen mich, der hinter dem Panzerglas steht. Ich sehe, geschüttelt von Furcht und Verachtung, in der andringenden Menge mich, Schaum vor dem Mund, meine Faust gegen mich schüttelnd. Ich hänge mein uniformiertes Fleisch an den Füßen auf. Ich bin der Soldat im Panzerturm, mein Kopf ist leer unter dem Helm, der erstickte Schrei unter den Ketten. Ich bin die Schreibmaschine. Ich knüpfe die Schlinge, wenn die Rädelsführer aufgehängt werden, ziehe die Schlinge fest, breche mein Genick. Ich bin mein Gefangener! Ich füttere mit meinen Daten die Computer. Meine Rollen sind Speichel und Spucknapf, Messer und Wunde, Zahn und Vogel, Hals und Strick. Ich bin die Datenbank. Blutend in der Menge. Aufatmend hinter der Flügeltür. Wortschleim absondernd, in einer schalldichten Sprechblase über der Schlacht. Mein Drama hat nicht stattgefunden. Das Textbuch ist verlorengegangen. Die Schauspieler haben ihre Gesichter an den Nagel in der Garderobe gehängt. In seinem Kasten verfault der Souffleur. Die ausgestopften Pestleichen im Zuschauerraum bewegen keine Hand. Ich gehe nach Hause und schlage die Zeit tot!
Einig mit meinem ungeteilten Selbst.

(einstürzende Neubauten)


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