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tootsie schrieb am 3.7. 2008 um 19:14:39 Uhr über

Vordiplom

Alte Vordiplom-Klausur

Übersetzungsauftrag: Funktionskonstante Übersetzung am Tage der Veröffentlichung. 120 Minuten Bearbeitungszeit.



Zwei Seiten hat die Mauer

Es ist ja beinahe eine echte Entdeckung: der Gazastreifen hat eine gemeinsame Grenze mit Ägypten. Das hatte man fast völlig vergessen!

Gaza, eine winzige Enklave, in der 1,5 Mio. Palästinenser wie auf Kohlen sitzen und warten, wird im Norden und im Osten von Israel begrenzt, im Westen vom Mittelmeer und im Süden durch eine Mauer aus Stahl und Beton. Ebendiese Mauer ist letzte Woche gefallen.

Mit Dynamit und scharfen Worten machte die Hamas auf dieNeuigkeitaufmerksam, dass eines der größten Gefängnisse auf unserem Planeten ZWEI Wärter hat. Seit letztem Mittwoch sind zehntausende von Palästinensern nach Ägypten aufgebrochen um zu fliehen oder auch nur, um sich mit lebensnotwendigen Gütern zu versorgen. Einerseits konnten sie sich ihrer neu gewonnenen Freiheit erfreuen, andererseits mussten sie erkennen, dass sie von den Ägyptern nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen wurden.

Man erlebte ergreifende Szenen: Betonblöcke, vormals mehrere Meter hoch, nun aber umgestürzt, dienten Heerscharen von Palästinensern als Schwelle zu einem begierig erwarteten Anderswo. Teile jener eisernen Barriere entlang der Philadelphi-Passage, die früher von Israel kontrolliert wurde, lagen am Boden. Vor Ort war jene Art von Aufregung zu spüren, die historische Ereignisse immer zu begleiten scheint. Der Gedanke an den Berliner Mauerfall von 1989 drängt sich auf, zumal die Bresche im Wall erweitert wurde und die Hamas, der verärgerten ägyptischen Führung zum Trotz, zwei Übergänge öffnete, um auch Fahrzeugen das Passieren dieserneuen Grenzezu ermöglichen.

Mauern sind schon immer gebaut worden.
Hohe Mauern, um zu entmutigen.
Mauern, um Völker voneinander zu trennen.
Um zu schützen.
Um zu bestrafen.
Um zu verdrängen.
Um sich abzuschotten.
Geistige Mauern ebenso reale.

Auch Mauern als kulturelle Höchstleistung der Antike. Man denke nur an die Chinesische Mauer: wie mutig und außergewöhnlich war dieses Vorhaben! Sie wurde im dritten Jahrhundert vor Christus errichtet, um die eroberungswütigen Hunnen aufzuhalten. Man denke an den Hadrianswall, der im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung zwischen England und Schottland von römischen Legionären erbaut worden war!

Die Mauer bedeutet Versuchung, aber auch Notwendigkeit und Gefahr. Sie ist manches zugleich: grandios und doch lächerlich, wehrhaft und doch verletzlich. In der Provence glaubte man um 1720, man könne der großen Pest von Marseille Einhalt gebieten, indem man eine Mauer zwischen dem Fluss Durance und dem Mont Ventoux errichtet-, ein Versuch, jene französische Landschaft zu schützen, die den Namenle Dauphiné“ trägt. Keine dumme Idee eigentlichallerdings ließ sich die Pest davon nicht im Geringsten beeindrucken. Ein anderes Bauwerk, viel jüngeren Datums freilich, war die Maginotlinie. Sie sollte den Einmarsch deutscher Truppen verhindern.

[...]

Originaltitel: »De l'autre côté du mur«

Erschienen in: »Le Monde«, 29.01. 2008


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