Ritual

nicht mehr sich und andere ermüden mit Neujahrsansprachen, Bekenntnissen an Jahrestagen, pünktlich erneuten Betroffenheitsbekundungen - dann lieber ein eindrucksvolles Ritual, ohne Worte, nicht ermüdend, sondern erlösend

manchmal braucht man ein ganz persönliches ritual um mit einer sache abzuschließen.
ein »freund« von mir hat mich ziemlich schlimm verletzt (eigentlich mehr als je ein anderer mensch) und deswegen war ich ziemlich fertig. ich war in meiner lieblingskneipe gesessen und auf einmal haben sie ein lied gespielt, dass mich wahnsinnig an diesen menschen erinnert hat. ich habe dann alles was ich mit ihm erlebt habe (und wir hatte echt lustige momente miteinander) sozusagen in eine kerze gepackt, die vor mir stand. dann habe ich etwas von ihm, was ich in meinem geldbeutel hatte in dieser kerze verbrannt und hab sie dann ausgepustet, gewartet bis das wachs trocken war und hab sie wieder angemacht. ich hab danach immer noch manchmal wegen ihm geweint, aber das war ein großer schritt für mich selber und hat verdammt gut getan.

Rituale des Abschiednehmens seien wichtig, hat die Bestatterin gesagt, und mir empfohlen, einen Abend Zwiesprache mit einem der letzten Bilder meiner Mutter zu halten. Keine Ahnung, was ich einem Computerausdruck so zu sagen gehabt hätte, vielleicht 'Du hast aber einen schönen Weißabgleich', jedenfalls bin ich auf diesen Vorschlag nicht eingegangen und gedenke auch nicht, es noch zu tun. Aber das Kuhfeuerzeug, das sie sich in den letzten Monaten wohl aus einem ihrer häufigen Anflüge von Selbstironie gekauft hat (sie hatte bei aller Attraktivität die Tendenz zu junonischen Augen), und das ich mir gefassten Blutes noch am Tage ihrer Auffindung eingesteckt habe, da ich bei meinem ahnungsvollen Aufbruch das meine vergessen hatte, das hat heute bei der nächtlichen Hunderunde den Geist aufgegeben, und ich habe es weit von mir geworfen ins Gebüsch, da mag es seiner Kompostierung entgegensehen, mit ihm ging mein Kummer und ließ nichts zurück außer einer reichen Zahl von dankbaren Erinnerungen. Jetzt noch eine letzte Zigarette, die ich mir an ihrem Toaster anzünden werde, und dann werde ich wohl zum ersten Mal in den letzten zehn Tagen in einen Schlaf fallen, der diesen Namen auch verdient.