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Der freie Wille - eine Selbsttäuschung
Arthur Schopenhauer: Preisschrift über die Freiheit des Willens, 1840
Um die Entstehung dieses für unser Thema so wichtigen Irrtums [des Glaubens an die Willensfreiheit des Menschen] speziell und aufs deutlichste zu erläutern, wollen wir uns einen Menschen denken, der auf der Gasse stehend zu sich sagte: »Es ist sechs Uhr abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich kann jetzt einen Spaziergang machen; oder ich kann in den Klub gehen; ich kann auch auf den Turm steigen, die Sonne untergehen zu sehen; ich kann auch ins Theater gehen; ich kann auch diesen, oder aber jenen Freund besuchen; ja, ich kann auch zum Tor hinauslaufen in die weite Welt und nie wiederkommen. Das alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; tue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe ebenso freiwillig nach Hause, zu meiner Frau.«
Das ist geradeso, als wenn das Wasser spräche: »Ich kann hohe Wellen schlagen (ja! nämlich im Meer und Sturm), ich kann reißend hinabeilen (ja! nämlich im Bette des Stroms), ich kann schäumend und sprudelne hinunterstürzen (ja! nämlich im Wasserfall), ich kann frei als Strahl in die Luft steigen (ja! nämlich im Springbrunnen), usw.; tue jedoch von dem allen jetzt nichts, sondern bleibe freiwillig ruhig und klar im spiegelden Teiche.«
Wie das Wasser jenes alles nur dann kann, wenn die bestimmenden Ursachen zum einen oder zum anderen eintreten, ebenso kann jener Mensch, was er zu können wähnt, nicht anders, als unter derselben Bedingung. Bis die Ursachen eintreten, ist es ihm unmöglich: dann aber muß er es, so gut wie das Wasser, sobald es in die entsprechenden Umstände versetzt ist.
Ebenso irrig meint mancher, indem er ein geladenes Pistol in der Hand hält, er könne sich damit erschießen. Dazu ist das wenigste jenes mechanische Ausführungsmittel, die Hauptsache aber ein überaus starkes und daher seltenes Motiv, welches die ungeheure Kraft hat, die nötig ist, um die Lust zum Leben oder richtiger, die Furcht vor dem Tode zu überwiegen; erst nachdem ein solches eingetreten, kann er wich wirklich erschießen, und muß es; es sei denn, daß ein noch stärkeres Gegenmotiv, wenn überhaupt ein solches möglich ist, die Tat verhindere.
Ich kann tun, was ich will: ich kann, wenn ich will, alles, was ich habe, den Armen geben und dadurch selbst einer werden, - wenn ich will! Aber ich vermag nicht, es zu wollen, weil die entgegenstehenden Motive viel zu viel Gewalt über mich haben, als daß ich es könnte. Hingegen, wenn ich einen anderen Charakter hätte, und zwar in dem Maße, daß ich ein Heiliger wäre, dann würde ich es wollen können; dann aber würde ich auch nicht umhin können, es zu wollen, würde es also tun müssen.
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