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Die Leiche schrieb am 4.4. 2008 um 16:28:04 Uhr über

Märchengestalt

Ok, es war nicht mehr gerade originell gewesen, Design zu studieren, und es hingen dort schon genau dieselben Langeweiler herum, wie bei Jura und BWL, und den Beruf hatte sie sich auch anders vorgestellt. Sie wußte zwar, daß es schwer werden würde, aber wie es werden würde - das wußte sie nicht. Auf jede freie Stelle kamen mindestens hundert Bewerbungen von Leuten mit coolerem Outfit, besseren Examensnoten, Fremdsprachenkenntnissen, perfekter Beherrschung aller Dialekte der C+-Programmiersprache und zusätzlichen Abschlüssen von Harvard, Cambridge oder Bologna. Da nützte ihr abgebrochenes Sozialpädagogikstudium auch nicht sehr viel. Sie hatte sich hat so durchgewurschtelt, von ihrer alten Studentenbude aus, kleine Aufträge hie und da von Gebrauchtwagenhändlern, und Modeboutiquen. Fast zwei Jahre lang lebte sie sogar ziemlich gut vom Layout eines ziemlich schmuddeligen Kontaktmagazins, und zwischendurch immer mal wieder tapfer »vom Amt«. Da war es eigentlich garnicht so schlimm gewesen, daß sie schwanger wurde von einem Typen, den sie zunächst nur relativ widerwillig gelassen hat wegen seines schon recht weit fortgeschrittenen Bauchansatzes, dem allerdings auch eine recht weit fortgeschrittene Karriere bei einer größeren Volks- und Raiffeisenbank entsprach. Ausserdem war er eigentlich doch auch sehr nett. Die Heirat war mehr oder weniger eine Formsache für sie, für den Volksbänker eher eine Frage des Ehegatten-Splittings und eines Wertpapierdepots, das auf ihren Namen bei einer anderen Bank eingerichtet wurde. Sie hatte sich schon immer gefragt, was »Insider-Geschäft« eigentlich zu bedeuten hat. Nun wußte sie es, aber da war sie auch schon mit dem zweiten Kind schwanger, was garnicht so gut mit dem Umzug aus der sanierten Altbau-Mietwohnung am Rande der Innenstadt in ein totsterbenslangweiliges Ein- bis anderthalbfamilienwohnhausneubaugebiet am Rande eines eingemeindeten Dörfchens passte, wo sie sich nach dem Abstillen ihres zweiten Kindes allmählich zu Tode zu langweilen begann. Einmal die Woche fuhr sie in die Stadt, regelmässig Donnerstags oder Freitags nämlich, um ihren Lottoschein abzugeben. Seit ihrem Abitur spielte sie jede Woche. Anfangs für 1 DM, später für fünf, dann wieder nur für eine, und seit ihrer Hochzeit wieder für fünf. Nach der Euro -Umstellung für 4 Euro. Statt des Päckchens Kippen - sie hatte nach dem ersten positiven Schwangerschaftstest schon aufgehört. Gewonnen hatte sie 1998 23,60 und 2002 2,50 Euro. Aber tapfer gab sie ihren Lottoschein ab, immer noch in dem kleinen Tabaksladen, den sie schon als Studentin frequentiert hatte, und immer noch gönnte sie sich längere Gedankenspiele auf dem Heimweg in ihre rasenmäherzersägte Vorort-Idylle von dem Leben, daß sie nach dem 6er mit Zusatzzahl führen wollte, und jeden Samstagabend verfolgte sie mit großer Spannung die Ziehung der Lottozahlen im Fernsehn. Doch seit ihrer Hochzeit wurde sie Samstagsabends häufig anderweitig »belegt« mit Einladungen von oder für Kollegen ihres Volksbankprokuristen, der Nachbarschaft und last not least den Kindern. Immerhin: im Internet konnte man auch noch nach der ödesten Samstagsabendsvernichtung mit einem Heini vom Vorstand die Lottozahlen aus dem Internet herausziehen, und mit dem Schein vergleichen, den sie stets in ihrer Geldbörse aufbewahrte. Und eines Tages war es dann soweit.


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