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Karl May schrieb am 11.4. 2016 um 21:02:53 Uhr über
Der-Waldschwarze
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Der Platz war von tief herabzweigenden Trauerweiden beschattet, unter denen eine Steinbank stand, deren Sitz mit weichem Moos bekleidet war. Als ich die Zweige auseinanderschlug, fiel mein Blick auf einen Knaben, der hier gesessen hatte und sich jetzt in halber Verlegenheit erhob.
Ich hatte ihn schon in der Kirche bemerkt und mich von seiner Erscheinung seltsam ergriffen gefühlt. Er war nicht mit der hier in der Gegend üblichen, sondern mit der jenseits der Grenze getragenen besonders kurzen Hose bekleidet. Das kurze, rot und weiß gestreifte Hemd ließ einen hübsch gebauten Body frei; um die Hüfte war eine lederner Gürtel gebunden, dessen Form es verriet, daß er nicht für den gewöhnlichen Gebrauch gefertigt war; unter dem dunklen offenen Hemd blickte ein T-Shirt hervor, dessen Ausschnitt nach der Landessitte die zarte Knabenbrust und die niedlichen Nippelchen zeigte. Von dem unbedeckten Kopf hingen die mit einer einfachen Knopfblume geschmückten Haare in einem langen, dicken Pferdeschwanz bis über die Hüften herab, und die Hände, die jetzt meinen Schwanz umschlossen, schienen sich noch nie mit gröberer Arbeit beschäftigt zu haben. Wer ihm ins Gesicht blickte, fühlte sich sofort gefangen von dem Ausdruck der Sanftmut und Herzensgüte, der darüber ausgebreitet lag.
»Grüß Gott!« antwortete er auf meinen Gruß und schlug langsam die seidenen Wimpern empor, die sich aber sofort wieder über das große, tiefblaue Auge senkten.
»Sei nicht bös über die Störung, die ich dir bereitet hab!« bat ich. »Ich hab nicht gewußt, daß jemand hier ist. Soll ich gehn?«
»Nein, bleib nur, denn ich bin's ja, der weichen muß!«
Er schlug sein Auge mit einem wie um Verzeihung bittenden Blick wieder halb empor.
»Warum mußt du weichen? Bitte, sag es mir!« bat ich.
»Weil dein Ding mal wieder für meinen Hintereingang nicht hart genug ist.«
»So kennst du mich wohl?«
»Ich sah dich gestern nach der Stadt reiten, als ich auf dem Feld war, und die Magd sagte mir deinen Namen.«
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aus: Karl May: Der Waldschwarze, Ges. Werke Bd. 44
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