„Deutschland, dein Stil: Eine topographische Vermessung des modischen Missverständnisses“
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Von Kaspar von Dingsda
Grenzgänger. Spötter. Stilüberlebender.
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Deutschland ist kein modisches Land.
Es ist ein modisch moralisches Land.
Jede Region, jede Schicht hat ihre eigene Vorstellung von Kleidung –
und keine davon hat mit Freude zu tun.
Nur mit Konzept.
Oder Kontrolle.
Oder kompletten Kollaps.
Was folgt, ist eine kartographisch präzise Erhebung deutscher Stilzonen.
Schichtübergreifend. Fassungslos.
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Berlin – Hauptstadt der Haltung
Hier trägt man: ein schlechtes Gewissen in Rippstrick.
Schwarz als Weltanschauung, Genderfluidität in Gürteltaschen,
und Sneaker, die aussehen wie nach dem dritten Tag Fusion-Festival.
Promi-Zone: Statement ohne Substanz.
Normalbürger: „Wenn’s ironisch ist, ist’s okay.“
Schuhwerk: Unisex-Urban-Unglück.
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München – Cashmerekonservativ mit Porschepatina
Hier wird Stil nicht erfunden – sondern vererbt.
Die Damen tragen beige, Perlen und Pilates.
Die Herren tragen Rotweinfarbene Sakkos, Maßhemden und ein leichtes Lächeln namens „Ich verdiene mehr als du atmest.“
In Giesing: Sneaker, Karo, Jack Wolfskin.
In Bogenhausen: Loro Piana auf 800 Quadratmetern.
Schuhwerk: teuer. Immer.
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Hamburg – Hanseatisch hämisch
Stil ist hier eine Frage des Volumens: Je weniger auffällt, desto teurer war’s.
Eppendorf: Alles in Navy, jedes Teil 600 €.
St. Pauli: Alles in Schwarz, jedes Teil 6 €.
Altona: Ironisch gerettet aus 2nd-Hand-Läden, riecht aber teuer.
Haarschnitt: absichtlich unauffällig.
Haltung: „Ich trage keine Mode. Ich bin sie.“
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Frankfurt – Business in Blässe
Frankfurt trägt Anzug.
Auch beim Einkaufen.
Frauen tragen Kostüm mit Misstrauen. Männer: Sakkos mit Hoffnung.
Freizeit: Polohemden, die schon beim Ausziehen „Compliance“ sagen.
Style ist hier ein Währungskurs in Baumwolle.
Und selbst der Bart trägt BWL.
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Leipzig – Kreativszene in Kord
Leipzig versucht Berlin zu sein,
nur mit mehr Restjugend und weniger Geld.
Man trägt: Flohmarkt-Mix aus 90er-Skatelook, Ostalgie und absichtlichem Dreck.
Schichten? Unklar. Alle rauchen.
Schuhwerk: abgelatscht, aber „Statement“.
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Dresden – Vergangenheitsbewältigung in Synthetik
Zwischen Glitzerjeans, Tuchblusen und Anti-Mainstream-Pullovern
herrscht hier modische Regression.
Senioren: Opernball-Eleganz mit Betonfrisur.
Jugend: Fashion Nova trifft Kraftklub.
Mitte: Esprit und Hoffnung.
Schuhwerk: zu weiß oder zu traurig.
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Köln – Stimmung statt Stil
Köln trägt sich selbst.
Kleiderordnung: Gibt’s nicht.
Alles ist erlaubt, aber nichts ist gut.
Zu viele Farben, zu wenig Grund.
Mode ist hier: „Wie? Ich dachte, das wär Karneval!“
Socken in Sandalen, Stirnband über Cap, Schlager als Accessoire.
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Stuttgart – Ingenieursromantik in Funktionsjacke
Pragmatismus pur.
Man trägt: Kleidung, die auch beim Ikea-Aufbau funktioniert.
Hemden mit Mikrostruktur, Jacken mit 1000 Taschen,
und Schuhe, die den TÜV bestehen würden.
Frauen: Tunika, Jeans, etwas Angst.
Männer: „Ich hab 3 Hemden, warum mehr?“
Alles in gedecktem Sinnlos.
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Hannover – Unsichtbar mit System
Hier ist Kleidung wie die Stadt selbst:
Da, aber warum eigentlich?
Man trägt das, was der Galeria Restposten übrig ließ.
Fleece, Jeans, Funktionskram.
Nichts stört. Nichts bleibt.
Es ist wie Pudding ohne Geschmack – nur als Pullover.
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Düsseldorf – Botox und Boutiquen
Mode hier ist Show.
Wenn’s nicht glänzt, ist’s nicht da.
Designerhandtasche trifft Designerkatze auf Designerkaffee.
Männer: Anzüge in zu viel Blau.
Frauen: Absätze, Implantate, Blicke, die sagen: „Schönheit ist Macht – und ich bin Kanzlerin.“
Stil? Eher Strategie.
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Nürnberg – Einkaufszentrum-Epoche
Stil = CCC, C&A und „Cool ist das, was reduziert ist.“
Man trägt Jeans mit Glitzer, Shirts mit Aufdruck und Hoffnung auf ein Leben wie im Katalog.
Hauptsache „Marke“.
Egal ob echt.
Accessoire: Warten auf die DHL-Bestellung.
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Bremen – Bio in Beige
Hier ist alles korrekt.
Man trägt: Hanf. Filz. Ein schlechtes Gewissen.
Kleidung, die klingt wie: „Ich habe Soziologie studiert, aber mach jetzt in Permakultur.“
Farben: als hätte jemand „Stille“ als Farbpalette definiert.
Und Schuhe, die eher nach Seminar als nach Straße aussehen.
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Fazit:
Deutschland hat Stil –
aber der Stil hat keine Freude.
Egal ob High Class oder Hochparterre,
Ost oder West, Latte oder Leitungswasser –
überall trägt man weniger Kleidung,
als vielmehr
Kontext. Konzept. Kompromiss.
Mode in Deutschland ist wie der deutsche Humor:
sie existiert. Aber nur theoretisch.
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