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Titel: “Der Pudelbeschluss”
(Eine familiäre Metamorphose in drei Akten)
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I. Der Beschluss
Niemand wusste mehr, wer zuerst aufhörte zu sprechen. Vielleicht Tante Herta, als sie das vierte Mal erwähnte, dass der Rhabarber dieses Jahr “besonders säuerlich” sei. Oder vielleicht Onkel Helmut, als er merkte, dass sein Löffel verdächtig nach Nickel schmeckte und sich heimlich fragte, ob er langsam durchsichtig werde. Oder vielleicht war es der Moment, als der Pudel – jener pudrige Hund, der nie bellte und immer zuhörte – langsam und würdevoll ein goldenes Likörglas anstarrte, bis es zitterte und umfiel.
Es war nicht laut. Es war kein Bellen. Es war ein Blick. Ein Blick, so durchdringend und so grammatikalisch korrekt, dass alle im Raum wussten:
Der Pudel hatte einen Beschluss gefasst.
Keiner wusste, worum es ging. Und doch gehorchte jeder.
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II. Die Umordnung
Zunächst tauschte die Familie die Plätze. Das war die neue Regel. Niemand durfte mehr dort sitzen, wo er vorher saß. Wer dagegen verstieß, wurde vom Pudel angeblickt – ein Blick, der sich anfühlte, als würde man rückwärts durch ein Gedicht laufen.
Opa Helmut wurde in den Flur verbannt und durfte nur noch durch das Schlüsselloch sprechen. Tante Herta bekam ein neues Amt: Sie war nun offiziell die „Königin der Dessertlöffel“. Ihr Zepter war ein Tortenheber, der bei jeder Bewegung leicht quietschte und den Hund in tiefe Meditation versetzte.
Der Teenager mit dem Peace-Zeichen durfte ab sofort nur noch in rückwärtsgewandter Sprache sprechen. Ihre Sätze waren Rätsel, die nie gelöst wurden, aber alle höflich nickten, als hätte sie gerade den Sinn des Lebens erklärt.
Und die Tapete?
Sie wurde umgehängt. Nicht entfernt. Umgehängt.
Wie ein Mantel aus Schuld klebte sie nun auf dem Boden, worüber niemand mehr gehen durfte – außer der Pudel. Der durfte überall.
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III. Die Festigung der Ordnung
Mit der Zeit kamen die Briefe. Vom Amt für Hundegestützte Hierarchie. Vom Ministerium für Möbel-Neuverteilung. Von der Tapetenkammer Ost. Sie kamen nicht mit der Post. Sie erschienen einfach, sorgfältig gefaltet, im Kühlschrank, hinter Omas Pelmeni, eingerollt in ein Käseröllchen. Sie waren auf Latein. Keiner sprach Latein. Aber der Pudel verstand sie.
Er las sie nicht. Er roch sie. Dann bellte er. Zweimal für Zustimmung. Einmal für Ablehnung. Viermal für „Der nächste soll die Butter mitbringen“.
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Epilog:
Am Tag des großen Festes – dem Jubiläum des ersten Anstarrens – versammelten sich alle im Wohnzimmer. Sie trugen Umhänge aus alten Gardinen und Masken aus Eierkartons. Niemand sprach. Die Gläser standen auf dem Kopf, die Torte war aus Holz, und jemand hatte heimlich eine Socke geopfert, um daraus eine Flagge zu basteln. Der Pudel saß erhöht, auf einem Stapel Lexika.
Er blinzelte.
Alle applaudierten.
Der Ofen ging von selbst an.
Jemand verschwand.
Niemand fragte.
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Moral, falls überhaupt vorhanden:
Wenn du lange genug auf einen Pudel starrst, starrt er irgendwann zurück – und dann ändert sich alles.
Oder war das Nietzsche?
Ist auch egal. Der Pudel hat’s jetzt beschlossen.
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