Glasauge

Er ist ein verzweifelter,bestürzender junger Mann,er wirkt,als wäre er zu schnell gewachsen,ist furchtbar intelligent,außergewöhnlich gebildet,einzelgängerisch und charmant.Wenn Jaques Loustalot sich vorstellt,verkündet er stets:Der Major,zurück aus Indien.
Auch er hat Kipling gelesen,doch anders als Boris Vian ist er immer noch der Major,die urbritische Kolonialgestalt.Er erzählt durchgedrehte Geschichten,tut so,als habe er bereits tausend Existenzen hinter sich.[...]Er trinkt zu viel,was ihn in den Augen seines verwirrten Publikums sehr lustig erscheinen lässt,und dann verabschiedet er sich elegant und schläft irgendwo außer Sichtweite.
Es kommt vor,daß der Major Michelle mit seinem Feuerzeug Feuer gibt und es dann mit gespielt zerstreuter Geste ins Meer wirft[...].
Mit zehn hat er das rechte Auge verloren,wohl durch eine Revolverkugel,dabei behauptet er,er habe sich umbringen wollen,da er seines allzu konformistischen Lebens überdrüssig gewesen sei.Ununterbrochen spielt er mit seinem Glasauge,nimmt es in den Mund,tut so,als schlucke er es hinunter,spuckt es wieder aus,gibt es wie einen Eiswürfel in seinen unverdünnten Pastis.Wenn er auftaucht,sind die Jungen fasziniert,die Mädchen entsetzt,vor allem,da er hemmungslos aufschneidet,sich tausend Verrücktheiten ausdenkt und einige davon umsetzt.[...]
Er spricht nicht nur mit Tieren,sondern auch ausgesprochen ernsthaft auch mit Gegenständen,so mit seinem Glasauge,mit dem er eine scheu vertraute Beziehung pflegt,eine Art gelebten,ständigen Romans,von dem er nie eine Zeile schreiben wird.Sucht er nach einer Nacht,die er mit seinen coullionades,wie er es nennt,verbracht hat,das verlorengegangene Glasauge,im Treppenhaus oder unter dem Tresen der zuletzt besuchten Bar,ruft er,wenn er es wiederfindet:Es sieht mich an! oder Der Schlingel liebt mich nicht!

Ein Mann mit einem Glasauge geht zum Arzt und fragt, ob man ihm nicht operativ wieder zu zwei sehenden Augen verhelfen könnte. Der Arzt antwortet, das ginge schon, aber er müsste ein Spenderauge finden, das quasi ganz frisch, also von einem gerade Verstorbenen wäre. Der Mann fährt nach Hause und auf dem Rückweg wird er von einem rasant fahrenden Porschefahrer überholt. Ein paar Kilometer weiter sieht er den Porschefahrer tödlich verunglückt im Strassengraben liegen. Mann, denkt er, das ist doch die Gelegenheit. Der Mann ist tot und ich käme zu meinem Auge.

Rasch schaut er sich um, nimmt dem Toten ein Auge raus, setzt ihm sein Glasauge ein und fährt wieder zurück zum Arzt. Der Arzt operiert ihm auch sofort das Auge ein. Am nächsten Tag kommt der Arzt ins Krankenzimmer, um den Verband abzunehmen und sagt zu dem Mann: »Ich habe Ihnen auch eine Zeitung mitgebracht, damit wir direkt prüfen können, ob die Operation erfolgreich war.« Der Mann schlägt die Zeitung auf und das erste, was er liest ist folgende Überschrift: »Polizei steht vor einem Rätsel. Gestern Nacht wurde ein tödlich verunglückter Porschefahrer mit zwei Glasaugen gefunden.«

Kranz' Tür war nicht verriegelt, und als auf mein Klopfen keine Antwort kam, trat ich ein. Im gesamten Zimmer waren Scherben verstreut worden, daß man die Dielen nicht mehr sehen konnte. Ich rief ein paar Mal nach ihm, aber er war nicht da. Auf dem Tisch lag seine Brille - und daneben ein blaues Glasauge. Von meinem Schrank herunter, aus der hintersten Ecke drang das Schnarchen der Eulen.