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Höflich, am 9.4. 2006 um 00:53:56 Uhr
Jochen

Distelmeyer ist ein Genie. Ein kristallklar Hassender, voll Bosheit, aber wir Leben in bösen Zeiten, denn eigentlich sind alle Zeiten böse. Indizien: das Videos zu dem Lied »Wir sind frei« ist in der Genialität seiner Jeverreklamehaftigkeit kaum noch zu überbieten, und bei den Konzerten hat man ja schon seit Jahren den Eindruck, daß er jeden Moment austicken könnte um jemanden mit seinem Gitarrenhals abzustechen (»könnten wir bitte die LÜFTUNG in der Halle ausmachen, ich erkälte mich leicht!«). Aber das ist Teil seiner Größe. Wenn man sein Ouevre betrachtet, merkt man, wie dieser Mann über die Jahre immer mehr an Format gewonnen hat. Zwar: auch die ersten beiden Blumfeldplatten waren ganz erbaulich. Erbaulich aber eher im Sinne von »stimmig«, gut gemachte Mood-Musik auf handwerklich brilliantem Niveau zur Bedienung der melancholischen Ader von Oberschülern und Studenten im Vordiplom, Gewiss geistreich, aber ebenso altbacken. »Old Nobody« war hier in gewisser Weise eine Durchgangsstation, in sich gleichermaßen ortlos, ein Stück anrührender Pop-Musik, aber in vieler Hinsicht ebenso Zielgruppenaffin, obwohl mancher damals schon gemault haben mag. »Testament der Angst« war in diesen Dingen eine Beschleunigung, ein kritischer Punkt, das Betreten eines Scheidewegs, das manch einer, zu unrecht, schon im Album davor erkannt zu haben meinte. Hier begegnen uns, den Hörern, zum ersten Mal im Werke des großen Distelmeyer zwei Dinge, die in Mischformen schon auf den vorigen Alben vorhanden oder vielmehr angelegt gewesen sein mögen, aber erst mit diesem Album ganz unvermittelt zur Geltung kamen. Da ist zum einen: ein auf grandiose Weise verhaltener Furor bar jeder Ernsthaftigkeit. »Diktatur der Angepaßten... Mit ihrem Geld und ihren Genchips« (In vieler Hinsicht eine Präfiguration zu dem Lied »Jugend von heute« auf dem darauf folgenden Album). Es schadet nichts, sich an dieser Stelle eine Konzertsituation auszumalen, in der der große Distelmeyer ein solches Lied mit einem kalten Grinsen im Gesicht darbietet um danach dem Publikum sein Handtuch - das er benutzt, um sich auf der Bühne den Schweiß von der Stirn zu wischen - anzubieten. Da ist zum anderen ein ganz erquickend sardonischer Ton. Man muß noch auf Distelmeyers »Testament der Angst« lange auf ihn warten, erst im letzten Lied, ein Cover, kommt er zum Zuge. »Schmetterling geht nach Haus«. Das nächste Album bereits sollte durchdrungen sein von solchem Sentiment. Es war ein großer Wurf. Das anstehende Album »Verbotene Früchte« wird wohl in die selbe Kerbe schlagen. Spätestens wenn sich das bewahrheiten sollte, hat der große Distelmeyer sein eigenes Stichwort verdient. Daß an dieser Stelle keine Mißverständnisse entstehen: Distelmeyer ist kein Ironiker. Er meint es aber auch nicht ernst. Der große Distelmeyer hängt auf grandiose Weise, wiederum ortlos zwischen den Zeilen. Das macht ihn so zeitlos, deshalb auch zeitgemäß! Ich verneige mich vor dem großen Distelmeyer. Nach einem solchermaßen langen Schrieb werde ich ein Stichwort bekommen, ich werde es Distelmeyer widmen!


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