Milgram

Sehr geehrter Herr Doktor Milgram,

wir sind uns im zweiten Semester begegnet, als es darum ging die Quantität der Inhaltsstoffe die uns von Laborassistenten in halbgefüllten Hundertmilliliterkölbchen übergeben wurden zu bestimmen.

Ich war derjenige, der dem gesamten Studententeam im Labor ein paar freie Nachmittage verschaffte mittels meiner sehr abkürzenden Methode, die Kölbchen doch auf Maß aufzufüllen, die Auffüllmenge zu bestimmen und davon auszugehen, das der Laborassistent Normallösungen aus den Vorratsbehältern benutzt habe.

Tatsächlich hat diese Methode einige Tage sehr gut funktioniert und den Studenten viele Frühlingssonnenstunden bescheert. Doch dann muß wohl auch der Laborassistent auf die Idee gekommen sein der zur Analyse auszugebenden abgemessenen Menge Normallösung einen Schlabber Wasser hinzuzufügen was meine Methode hinfällig machte.

Es ist für dieses Experiment ausserordentlich wichtig, dass Sie den Anweisungen von Prof. Milgram unbedingt folgen.
Achten Sie nicht auf gelegentliche Geräusche der Versuchsteilnehmer, Sie haben keine Konsequenzen zu befürchten, die Verantwortung übernimmt Prof. Milgram.
Sie sehen hier diesen Schalter....
Wenn der Proband eine falsche Antwort gibt, dann drücken Sie unbedingt auf den Knopf.
Es ist sehr wichtig, dass Sie das tun, da wir sonst keinesfalls die Auswirkungen von Stromschlägen als Bestrafung auf die Gedächtnisleistung überprüfen können.
Bei jeder falschen Antwort wird die Stromstärke gesteigert.
Auf die Beschriftung des Gerätes brauchen Sie nicht zu achten, die Verantwortung übernimmt Prof. Milgram.
Es werden maximale Stromstöße bis 400 Volt verabreicht.
Über die Folgen sind die Probanden aufgeklärt und haben sich einverstanden erklärt, auch wenn sie dauerhafte Schäden davontragen könnten.

Bitte beginnen Sie jetzt mit dem Versuch...

Und jetzt, liebe Hobbypsychologen, die Preisfrage:

Wieviel Prozent der Versuchsteilnehmer verabreichten einen potentiell tödlichen Schock, trotz hörbarer Schmerzenzschreie des wehrlosen Opfers?

Antwort: Über 50%

Für mich das eindrucksvollste Experiment zur Erklärung von Greueltaten scheinbar freundlicher und gebildeter Personen.

Der Beleg dafür, daß die behauptete Singularität des Holocaustes zumindestens nicht für sehr lange gelten wird: es kann immer wieder zu einem Holocaust kommen, und nach Murphy's Law wird es auch wieder zu einem Holocaust kommen. In Yugoslavien hat man ja schon vielversprechende Ansätze unternommen - unter Völkern (oder Ethnien wie man heute so soziologendeutsch sagt), die zuvor unter Tito ein halbes Jahrhundert lang friedlich zusammengelebt haben, von heute auf morgen, von jetzt auf gleich.

Jedenfalls sollte man sich diese Umstände bei sozialromantischen Träumereien von einer besseren Welt, sozialer Gerechtigkeit usw. stets vor Augen halten, wem man diese Wohltaten zu erweisen gedenkt: einem ziemlich bestialischen Wesen.

Peter Gabriel hat einen eindrucksvollen Song zum Thema geschrieben, mit dem Titel: »Milgram's 37« (beziehungnehmend auf die 37 Prozent der Testpersonen, die ihre Macht über andere Menschen bis zum scheinbar tödlichen Resultat auskosteten). Interessant ist, daß Gabriel diesen Song nie offiziell aufgenommen und veröffentlicht hat, sondern ihn ausschließlich live aufführte. Ich selbst besitze mehrere Live-Versionen auf Bootleg-Tapes.