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Mein erstes juristisches Examen (wie auch das Zweite) habe ich im alten Landgerichtsgebäude in Saarbrücken geschrieben. Das ist mit einer Reihe von Ritualen und Zeremonien verbunden, die am Tag der ersten Klausur in den von der Anmeldung vertrauten Räumen des Justizprüfungsamtes beginnen. Neben einer akribischen Überprüfung der Identität (man könnte ja einen Ersatzmann schicken) gehört dazu die Verlosung der Plätze im Prüfungsraum. Sie ist erforderlich, weil ein durchgefallener Kandidat erfolgreich geklagt hatte, weil er Nachweisen konnte, daß er bei jeder Klausur stundenlang von der Sonne geblendet worden war. Die Verlosung erfolgt selbstverständlich unter richterlicher Aufsicht. Danach wurde unsere Prüfungsgruppe - ebenfalls unter richterlicher Aufsicht - durch das Gerichtsgebäude geführt, ins Dachgeschoß. Unendliche Gänge, Flure, Treppenhäuser. Das ehrwürdige alte Landgericht ist um drei Innenhöfe herum gebaut, mit je nach Flügel abweichenden Geschossen. Die Dachgeschosse sind daher nicht durchgängig, sondern nur blockweise miteinander verbunden. Man muß also, um von einem Dachgeschoß-Flur in einen anderen zu gelangen, mitunter hinunter ins letzte Vollgeschoß steigen, und irgendwo anders wieder hoch. Das Ganze ist also recht verwirrend, wenn man fremd in diesem Gebäude ist.
Schließlich erreichten wir also den Schulungsraum, bekamen in einem langwierigen Prozedere - selbstverständlich unter richterlicher Aufsicht - unsere erlosen Plätze zugewiesen, hatten die Unversehrtheit des Siegels des Umschlages mit den Prüfungsaufgaben auf einem Formualar zu bestätigen (die übrigens »Geheime Landessache« sind), auf einem anderen Formular die Belehrung zu bestätigen, daß die unbefugte Weitergabe einer Geheimen Landessache mit Freiheitsstrafe bis zu 99 Jahren oder Geldstrafe bestraft werden kann, und dann erst durfen wir mit der fünfstündigen Klausur beginnen.
Wer jemals eine fünfstündige Examensklausur - egal in welchem Fach - geschrieben hat, der weiss, daß das eine hochanstrengende Geschichte ist. Danach taumelt man aus dem Prüfungsraum, wie ein geschlagener Boxer aus dem Ring. Man raucht krampfig mehrere Zigaretten hintereinander, hat mit Würge- und Durchfallgefühlen zu kämpfen, will nur schnell heim, und erst mal schlafen, so erschöpft ist man.
Zur zweiten Klausur kam ich - wie fast alle - anderthalb Stunden zu früh. Diese Reserve brauchte ich, da ich ausserhalb wohnte, mit verwandtschaftlich geliehenem Auto nach Saarbrücken fahren musste. Sollte ich eine Panne haben, wollte ich genug Zeit haben, um ein Taxi zu organisieren, und dann noch rechtzeitig kommen können. Ich hatte nie eine Panne, auch sonst kam nichts dazwischen - ausser an jenem 2. Prüfungstag.
Ich stieg als frohgemut in dieses Dachgeschoß hoch, und lief die Flure entlang, suchte den Prüfungsraum. Davor gab es einen größeren Vorraum, in dem sogar ein Aschenbecher stand - damals ging das noch. So konnte man wenigstens die Wartezeit mit zuviel rauchen verbringen.
Aber ich fand diesen Raum einfach nicht mehr. Immer schneller rannte ich durch die Flure, über Wendeltreppen nach unten und wieder nach oben, immer in dreidimensionalen Kreisen herum. Bedienste schickten mich nach links und rechts, nach oben und unten, meine Verzweifelung wurde immer größer und größer, die Zeit verrann immer schneller. Irgendwann, als ich mal wieder wahllos eine Tür öffnete, und um Wegweisung bat, erbarmte sich der Büroinhaber, meiner schieren Verzweifelung teilhaftig, und nahm mich - in bildlichem Sinne - an der Hand, lieferte mich höchstpersönlich vor dem Prüfungsraum ab. Fast eine Stunde lang war ich in diesen Gerichtsfluren unter den Dächern herumgeirrt.
Dies war eine sehr längliche Assoziation - aber jetzt weiss der geneigte Leser wenigstens präzise, was unter »kafkaesk« zu verstehen ist.
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