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Franziska Kafka schrieb am 19.9. 2006 um 05:28:41 Uhr über

Zähne

Ich wache auf und fühle mich merkwürdig. Irgendwas ist mit meinen Zähnen. Meine Schwester erzählt, wie sie sich alle Zähne ausgeschlagen und wie sie geschrieen hat. Ich greifen in meinen Mund, da sind nur noch Stummel. Kleine, spitze Zahnstümpfe, unerklärlich, wie man sich die Zähne durch Ausschlagen so zurichten soll. Vorne rechts sind noch drei, vier intakt. Wenn ich mich sehr anstrenge und die Lippen zusammenpresse, fällt vielleicht nichts auf, denke ich. Was ist passiert? Ich versuche, mich zu erinnern. Ich bin mit dem Motorrad abgestürzt. Von einer hohen Treppe. Auf einer wüsten Party. Ein schlimmer Zusammenstoß mit einem Passanten. Hat er überlebt? Erstaunlich, dass ich noch da bin. Ich fasse in meinen Mund. Die Zähne sind wieder da. Wie kann das sein? „Drogen“, sagt jemand an meiner Seite, „du musst erst mal runterkommen.“ Ich muss runterkommen, denke ich. Erst wenn ich klar bin, werde ich ermessen können, was wirklich passiert ist. Was ist bloß passiert? Ich versuche mich zu erinnern, doch da sind nur Fetzen. Ein Mädchen kommt und hilft mir. Sie leitet mich durch eine Realität, die ich nicht sehen kann, weil der Schleier meines Wahns darüber liegt. Doch sie treibt auch ihren Spaß mit mir. „Hier links ist ein Geländer, da musst du drüber steigen.“ Gehorsam hebe ich den Fuß. Links von mir ist ein Geländer, dahinter ein Abgrund. Ich vertraue ihr. Im letzen Moment: „He, hier geht es in die Tiefe, das war nur ein Witz!“ Also doch nicht sterben. Ich habe den Eindruck, dass sich der Schleier etwas lichtet. Die Welt wird sichtbarer. Hoffentlich ist es bald vorbei. Wie lange es dauern kann? – Lange. Tage, Wochen. Immer. Ich gehe durch eine Bahnhofshalle und versuche zu ignorieren, dass meine Schuhe im harten Beton versinken. Durchhalten! Das Mädchen hängt sich bei mir ein und meint, dies sei ihre einzige Chance, dass ich sie lieben lernte. „Nur so kann ick dir festhalten“, sagt sie, während wir eine Wendeltreppe hinunter gehen, und ich denke mir, dass der Akkusativ auch eine starke Bindung darstellt. Ich bin dem Mädchen ausgeliefert, sie ist meine sämtlichen Sinne. Dann trennt sie sich von mir und meint, ich würde nun alleine nachhause finden. Sie schickt mich zum Spaß noch einmal auf den falschen S-Bahnsteig. Ich kann nicht lesen. Mit Schritten, die schmatzend im Beton versinken, gehe ich durch eine unterirdische Röhre und versuche verzweifelt festzustellen, was von dem, was ich sehe, echt ist. Dann fängt der nächste Trip an, dir Realität verbiegt sich. Ich denke mir: Bleib ganz ruhig und mach keinen Fehler, das geht vorbei. Ich experimentiere. Ob ich meine Hände so in die Länge ziehen kann, dass es mir gelingt, mehrere Meter weit durch die nächste Schwingtür zu greifen? Ich kann. Es ist kurios, doch zugleich denke ich verzweifelt, hört das überhaupt nicht mehr auf?! Alles entgleitet mir. Ich werde langsam wach und kann mich nicht bewegen. Ich kann nurhören. Ich höre Wasser rauschen. Denke: In meiner Wohnung fließt kein Wasser. Ich bin nicht aufgewacht. Schnell weg hier. Ich möchte zurück zur Schwingtür. Dann fällt die Lähmung von mir, und alles wird greifbar. Ich liege in meinem Bett, es rauscht. Der kleine CD-Player, den ich im Bett vergessen habe, läuft, ohne Ton.


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