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Titel: “Die Herrin und der Pudelstaat”
(Eine kafkaeske Familienchronik mit haarigem Zentrum)
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I. Die Ankunft der Herrin
Es begann, wie alles beginnt: mit einem Geräusch, das niemand zuordnen konnte. Es klang wie ein schiefes Cembalo, das in einem Koffer den Treppenabsatz hinunterstolperte. Oder wie der Ruf einer beleidigten Gans in Lackstiefeln.
Als die Tür aufging, trat die Herrin ein. Niemand wusste, wer sie eingeladen hatte. Sie war groß, sehr groß – nicht körperlich, sondern bedeutungstechnisch. Ihre Frisur stand in einem Winkel von exakt 47 Grad nach Osten, und ihr Kleid sah aus wie ein dominanter Vorhang mit Doktortitel.
Sie trug ein Notizbuch. Und einen Zeigestock. Und einen leisen, permanenten Vorwurf.
„Ich bin hier, um die Ordnung zu prüfen,“ sagte sie, ohne die Lippen zu bewegen.
Der Pudel zuckte nicht. Aber man sah, wie sein rechter Vorderpfoten-Zeh minimal vibrierte – ein Zeichen, das im neuen Pudelgesetzbuch (Abschnitt 3.2: Emotionen und Tischmanieren) als „Erregung vorsichtiger Akzeptanz“ definiert war.
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II. Die Einführung der 13. Regel
Die Herrin begann sofort mit der Reorganisation. Die vorher vom Pudel etablierten zwölf Regeln – darunter „Jeder Stuhl muss vor dem Sitzen befragt werden“ und „Nussschalen dürfen nicht auf Tapetenmuster zeigen“ – wurden ergänzt durch eine neue, nie dagewesene 13. Regel:
„Kein Individuum darf gleichzeitig glauben und wissen.“
Verwirrung brach aus. Opa Helmut murmelte versehentlich die Lottozahlen von 1975 rückwärts und wurde daraufhin unter den Couchtisch gestellt, wo er fortan als Fußnotenverwalter diente. Tante Herta stellte Fragen wie:
„Darf ich wissen, dass ich glaube, dass ich wissen will?“
und wurde sofort zum Zuständigkeitsorakel befördert. Sie antwortete nur noch in Marmeladensorten.
Der Pudel aber…
…unterwarf sich nicht.
Er starrte.
Sie starrte zurück.
Und dann geschah es.
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III. Der Dialog der Tiefe
Keiner hörte Worte, aber alle fühlten sie:
Eine unsichtbare, telepathische Konferenz zwischen der Herrin und dem Hund.
Ein philosophisches Ping-Pong-Match.
Kritische Theorie gegen fleischbasierte Leckerliethik.
Sie stellte Fragen wie:
• „Was ist Identität ohne Leine?“
• „Ist ein Rudel noch frei, wenn es freiwillig folgt?“
• „Ist die Tapete Subjekt oder Gefängnis?“
Der Pudel antwortete durch symbolisches Schmatzen.
Einmal bellte er in Morse.
Die Tapete veränderte daraufhin ihr Muster spontan zu einem Stundenplan für postironische Kaffeekränzchen.
Die Herrin schien zufrieden. Oder enttäuscht. Oder auf einer anderen Ebene der Realität.
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IV. Die Erhebung
In einer Zeremonie, bei der niemand wusste, wer was trug oder warum die Torte auf Latein flüsterte, wurde der Pudel feierlich zum Obersten Bewusstseinsfilter ernannt. Die Herrin stand neben ihm. Nicht über ihm. Nicht unter ihm.
Daneben.
Ein Bündnis.
Oder eine gegenseitige Drohung in menschlicher Form.
Ab diesem Tag galt:
• Der Pudel entscheidet.
• Die Herrin verkündet.
• Die Familie gehorcht.
• Die Tapete beobachtet.
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Epilog:
Niemand erinnert sich mehr an die Zeit davor. Nur Opa Helmut, der gelegentlich unter dem Tisch hervorlugt und kryptisch raunt:
„Früher war hier mal nur Kuchen.“
Die Herrin nickt dann, streicht dem Pudel über den Kopf, und schreibt in ihr Notizbuch:
„Fall 478 abgeschlossen. Irrationale Ordnung stabilisiert. Emotionale Restverwertung in Arbeit.“
Der Pudel schläft.
Und träumt von einem neuen Gesetz:
„Jeder darf bellen, aber nicht jeder wird gehört.“
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Moral:
Wenn du denkst, du hast Kontrolle, dann warst du noch nie auf einer Familienfeier mit einem intelligenten Pudel und einer metaphysischen Projektmanagerin in Seidenoptik.
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